Behindertenprojekt: Zärtlichkeiten im Zwielicht
Ab Winter sollen Berührerinnen und Berührer Behinderten gegen Geld Sinnlichkeit und Erotik bieten. Das Projekt von Pro Infirmis ist bei Fachleuten umstritten.
Veröffentlicht am 8. Juli 2003 - 00:00 Uhr
«Das tönt ja wie ein organisierter One-Night-Stand», kichert Madeleine R., 35. «Wenn schon, dann möchte ich eine gute Partnerschaft.» Die anderen vier anwesenden Frauen, alles Bewohnerinnen der Zürcher Wohnstätten Zwyssigstrasse, stimmen der geistig leicht Behinderten zu. «Mit dem Geld, das ich dafür aufwenden müsste, würde ich lieber essen gehen», meint Susanne M. Die Runde lacht erneut.
Anlass für die Heiterkeit ist ein neues Projekt der Pro Infirmis. Bis Ende Jahr will die Vereinigung für behinderte Menschen so genannte Berührerinnen und Berührer ausbilden: Für 120 Franken pro Stunde sollen die professionellen Sexualbegleiterinnen körperlich und geistig behinderten Menschen, die ihre erotischen Bedürfnisse nicht befriedigen können, ihre Dienste anbieten. Die Zärtlichkeiten und Massagen dürfen bis zum Orgasmus führen; Geschlechts- und Oralverkehr sollen hingegen nicht angeboten werden.
Skepsis bei vielen Heimleitern
«In unserer Beratung sind Beziehung, Zärtlichkeit und Sexualität sehr oft ein Thema», sagt Pro-Infirmis-Sprecher Mark Zumbühl. «Es entspricht einem ausgewiesenen Bedürfnis, nicht nur darüber sprechen zu können, sondern auch konkrete Beratung und Hilfestellungen angeboten zu bekommen.»
Was fortschrittlich klingt, stösst bei Heimleitern auf Skepsis. «Unsere Bewohner wünschen sich Nähe, Zärtlichkeit, vor allem eine Beziehung», sagt Gerd Rümmler, Sozialarbeiter beim Heilpädagogischen Zentrum Johanneum im sankt-gallischen Neu St. Johann. Und Paul Biagioli, Heimleiter der Stiftung Säntisblick in Degersheim, fragt sich, ob Menschen mit einer geistigen Behinderung überhaupt «zwischen einer solchen Dienstleistung und einer freundschaftlichen Beziehung» unterscheiden könnten.
«Ich arbeite seit 30 Jahren mit behinderten Menschen», sagt Klaus Schulz, Leiter der Wohnstätten Zwyssigstrasse. «Von einem Bedürfnis nach bezahltem Sex habe ich bis anhin kaum etwas gemerkt.» Sexualität sei in Behindertenheimen längst kein Tabuthema mehr. Beziehungen gehörten zum Heimalltag, auch über Verhütung und Aids seien die Bewohner informiert. Schulz: «Wenn ich sehe, dass sich zwei verlieben, bin ich der Erste, der dafür sorgt, dass das Paar zusammenleben kann.» Da sei es ihm auch egal, ob es sich um zwei Männer oder um zwei Frauen handle.
In einigen Heimen ist man auch offen dafür, wenn ein Behinderter eine Prostituierte treffen will. «Wir haben schon Kontakte ermöglicht», sagt ein Heimleiter aus dem Kanton Bern. Und einer behinderten Frau habe man einen Vibrator besorgt, weil sie sich sonst mit anderen Gegenständen verletzt hätte.
Falsch interpretierbar
Klaus Schulz hat vor allem juristische Vorbehalte gegenüber den Sexualbegleiterinnen und -begleitern: «Wissen Sie, wie schnell eine Berührung als sexueller Übergriff interpretiert werden kann?» Schon die Umarmung eines Behinderten durch einen Betreuer bewege sich in der rechtlichen Grauzone, sagt der Heimleiter, «wer gewährt, dass sich die Berührer an die Regeln halten?»
«Meine Arbeit ermöglicht den Behinderten Erfahrungen, die sie sonst nicht machen können», wehrt sich die Berührerin Nina de Vries gegen solche Bedenken. Die 42-jährige Holländerin bietet seit einigen Jahren erotische Massagen für Behinderte an. Zurzeit arbeitet sie in Potsdam als Sexualbegleiterin und Künstlerin. Ab August bildet sie für Pro Infirmis Berührerinnen und Berührer aus: In einem 20-tägigen Kurs, verteilt auf vier Monate, werden in Zürich sechs Frauen und ebenso viele Männer in die Massagetechniken eingeweiht – vom «Taxifahrer bis zur Hausfrau» seien alle erwünscht, sagt Nina de Vries.
Zweifel an der Seriosität
Zum Ausbildungskonzept macht de Vries nur vage Angaben. Damit die künftigen Berührerinnen und Berührer «integer mit verschiedensten Situationen umgehen können» und es in der Praxis nicht zu sexuellen Übergriffen komme, sollen «Reife und Flexibilität» gefördert werden. Zur Verfügung stünden auch Videos und Bücher, zudem sollen behinderte Menschen eingeladen werden. «Auch betrachten wir, wie andere Länder mit diesem Thema umgehen», ergänzt de Vries. Allerdings begleitet weder ein Psychologe noch ein Sexualwissenschaftler das Seminar.
Experten bezweifeln die Seriosität des Projekts. «Wir betreuen Menschen, die auf einem geistigen Entwicklungsstand von zwei- bis vierjährigen Kindern sind», sagt Niklaus Völke, Bereichsleiter im Wohnheim der Heimstätten Wil SG. «Wie sollen Laien deren Bedürfnisse verstehen?»
«Wir bemühen uns um eine möglichst sorgfältige Auswahl der Interessenten», kontert Mark Zumbühl von Pro Infirmis. Von den über 300 Bewerberinnen und Bewerbern seien nur gerade zwölf ausgewählt worden. Zudem habe sich Nina de Vries bei der Ausbildung von Berührerinnen und Berührern in anderen Ländern einen Namen gemacht, heisst es bei Pro Infirmis.
Nina de Vries hingegen hält fest, dass es sich um den ersten Ausbildungsauftrag handelt: «Ich freue mich auf diese Herausforderung.» In Holland absolvierte sie eine therapeutische Ausbildung, 1992 arbeitete sie ein Jahr lang als Erzieherin in einem Behindertenzentrum. Danach bot sie Tantra-massagen in einem Studio an. Damals sei der Entschluss gereift, auch behinderten Menschen erotische Massagen zu ermöglichen. De Vries betont zwar, dass Geschlechts- und Oralverkehr nicht zu ihrem Angebot gehörten. In einem Informations- und Werbevideo ist allerdings zu sehen, wie sie einen 30-jährigen Mann, der an multipler Sklerose leidet und sich nicht mehr bewegen kann, mit dem Mund befriedigt.
Nachfrage ist nicht sehr gross
Laut Pro Infirmis sollen die ersten Schweizer Berührerinnen und Berührer ihre Arbeit bereits diesen Winter aufnehmen können. Ihnen dürfte ein rauer Wind entgegen- schlagen. «Von diesem Job kann man nicht leben», warnt die Geschäftsstelle der Organisation Sensis, die seit ein paar Jahren in Deutschland Sexualbegleiter an behinderte Menschen vermittelt. Derzeit bieten lediglich zwei Mitarbeiter ihre Dienste an – im Nebenjob.
Schlechte Erfahrungen hat auch die Aargauerin Heidi Suter gemacht. Die gelernte Sozialpädagogin bietet seit anderthalb Jahren Sex für Behinderte an. Suter besucht die vorwiegend männlichen Kunden zu Hause. Für ein Studio, wo man sich in Ruhe treffen könnte, fehlt ihr das Geld, und die Türen zu den Heimen blieben ihr bis anhin verschlossen. «Gern würde ich auch Frauen und Paare für meine Dienstleistung gewinnen», sagt die 50-Jährige. Nähe, Körperkontakt, Massagen und Gespräche gehören zum Service – und wenn die Situation stimmt, ist Heidi Suter auch für Geschlechtsverkehr offen. Doch die Nachfrage nach ihrem Angebot sei «noch nicht sehr gross». Deshalb ist sie weiterhin auf Unterstützung der Arbeitslosenkasse angewiesen.