Marika: Stefan sprach schon kurz nach unserem Kennenlernen vor neun Jahren von Kindern. Nach ein paar Jahren war auch ich dazu bereit. Wir lebten in Bolivien, wo wir in einem Projekt arbeiteten. Wir freuten uns riesig, als es nach drei Fehlgeburten klappte. Umso grösser war die Enttäuschung: Als Nils im Juni 2006 zur Welt kam, reagierte Stefan sehr nüchtern. Er war nicht euphorisch wie ich. Das schmerzte mich sehr.

Stefan: Die Geburt ging mir viel zu schnell. Ich hielt meinen Sohn in den Händen und dachte: «Was macht der denn hier?» Ich hatte mir vorgestellt, dass man sich bei der Geburt des eigenen Kindes wahnsinnig freut. Bei mir war das leider nicht der Fall.

Marika: Ich dachte, dass Stefan einfach Zeit braucht. Er war nach der Geburt zwei Wochen daheim. Da würden er und das Baby sich schon näherkommen.

Stefan: Die ersten Wochen waren für mich eigentlich ganz okay. Meine Beziehung zu Nils blieb aber ziemlich funktional. Ich hatte schon von Männern gehört, die nicht viel mit Babys anfangen können. Nie hätte ich gedacht, dass ich auch so einer bin.

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Paartherapeut Raimondo Lettieri: Viele Frauen und Männer müssen erst in die Elternrolle hineinwachsen. Dass man im ersten Moment oder sogar in den ersten Monaten keine Euphorie verspürt, können auch Frauen erleben. Diese Reaktion ist nicht typisch männlich. Wenn ein Mann nicht richtig in die Vaterrolle einsteigen kann, kann das daran liegen, dass er selbst einen strengen oder abwesenden Vater hatte und es nicht schafft, seine Erfahrungen mit seinen Vorstellungen zu vereinbaren.

Marika: Nach vier Monaten Babypause begann ich wieder zu arbeiten, zwei Tage die Woche. Stefan reduzierte sein Pensum auf drei Tage. Wir waren sicher: Mit dieser Arbeitsteilung leben wir uns bestimmt nicht auseinander, so wie wir das bei anderen Paaren gesehen hatten. Doch am Tag eins gerieten wir in die Abwärtsspirale. Stefan wickelte das Kind kaum, fütterte es unregelmässig, kam spät von der Arbeit nach Hause, und wenn ich von meinem Tag mit Nils erzählte, interessierte es ihn nicht. Ich fühlte mich sehr allein.

Stefan: Meiner Meinung nach war ich kein so schlechter Vater – zumindest eine Weile lang. Marika aber nörgelte ständig an mir herum, und ich dachte immer öfter: «Dann mach es doch selbst.» Früher hatten wir uns nie reingeredet. Ich ärgerte mich über Marika und war dennoch frustriert, weil ich nicht der tolle Vater war, der ich hätte sein wollen.

Marika: Ich schwor mir immer wieder, aufs Maul zu sitzen. Aber es war mir nun mal wichtig, dass die Still- und Schlafenszeiten berücksichtigt wurden. Indem ich sie einhielt, hatte ich Freiräume. Stefan brachte diesen Rhythmus immer durcheinander. Auch fand ich ihn zu ungeduldig und unvorsichtig mit dem Kind. Zum Beispiel liess er Nils ungesichert auf dem Sofa liegen. Ausserdem war ich so bemüht, ein gutes Verhältnis zwischen Vater und Sohn zu schaffen, dass ich unendlich viele Tipps gab, was unweigerlich als Nörgelei erschien. Mit meinen Ansprüchen an eine glückliche Familie habe ich ihn wohl überfordert.

Therapeut: Den Satz «Ich will gar nicht nörgeln» höre ich oft von Frauen. Man nörgelt, wenn man das Gefühl hat, man werde nicht gehört. Männer reagieren darauf häufig mit Rückzug. Zudem gibt es viele Frauen, die das Nörgeln schon von ihren Müttern kennen und deren Enttäuschung weitertragen. Es ist aber oft einfach so, dass Mütter näher beim Kind sind, weil sie mehr Zeit mit ihm verbringen. Und so wissen sie besser, wie es läuft. Es entsteht eine Dynamik: Sie bestimmt, er zieht sich zurück, sie reagiert verletzt auf den Rückzug, und die Vorwürfe beginnen. Da den Mittelweg zu finden ist nicht einfach. Man muss die Verantwortlichkeiten klar regeln.

Stefan: Ich wäre gern öfter mit Marika und Nils ausgegangen, aber Marika wollte nicht. Ich denke, man kann auch mit einem Kind einiges unternehmen. Ich hatte das Gefühl, dass sich Marika nur so vernünftig verhielt, weil die Gesellschaft das von einer Mutter erwartet. Ich verstehe nicht, warum man seinen Lebensstil mit einem Kind total ändern soll. Erst nach sechs Monaten gingen Marika und ich zum ersten Mal allein aus.

Marika: Ich hatte keine Lust, abends auszugehen – obwohl Nils ein unkompliziertes Baby war. Das Zusammensein mit ihm reichte mir vollauf, ich bekam so viel von ihm zurück. Nie hätte ich gedacht, dass ich ein Kind so in den Vordergrund stellen würde. Als Paar habe ich uns nicht mehr wahrgenommen.

Stefan: Mit Sex und Zärtlichkeit lief auf beiden Seiten schon bald nicht mehr viel.

Therapeut: Die ersten Monate sind ein Ausnahmezustand. Frauen stehen in enger körperlicher Beziehung zu ihrem Kind, wodurch sie oft keine Lust auf noch mehr Nähe mit ihren Partnern haben. Eine gute Mutter und zugleich eine attraktive Partnerin zu sein ist anfangs praktisch unmöglich. Das ist für Männer nicht einfach. Sie fühlen sich ausgeschlossen, glauben, sie seien nicht mehr attraktiv, und wenden sich ab. Nun haben sie weder physischen noch psychischen Zugang zu ihrer Frau. Wenn ein Paar über diese Gefühle nicht offen und ohne Vorwürfe redet, kann eine schwierige Eigendynamik entstehen. Ein Paar sollte so bald wie möglich Zeit und Raum für sich allein bekommen. Manche Frauen müssen sich dafür einen Ruck geben.

Stefan: Marika hatte nichts mehr mit der Frau zu tun, die ich gekannt hatte. Plötzlich lebten wir auf komplett verschiedenen Planeten. Dabei klebten wir räumlich so zusammen wie nie zuvor. Bevor wir 2004 nach Bolivien zogen, unternahmen wir viele Dinge getrennt. In Südamerika aber fehlte uns ein soziales Netz. Mir fiel die Decke auf den Kopf.

Marika: Drei Monate nach der Geburt dachte ich, so hatten wir uns das nicht vorgestellt. Stefan gab erstmals zu, dass ihn das Familienleben überfordert. Ich schlug vor, dass er sich weniger um Nils kümmert und ich mehr. Aber nur vorläufig, denn ich war nicht bereit, von nun an alles allein zu machen.

Therapeut: In dieser Abmachung sehe ich eine grosse Gefahr. Was heisst «mehr»? Heisst das für ihn: Im Zweifelsfall schaut sie? Muss er weder einen Termin im Kopf behalten, der das Kind betrifft, noch sich um Babywäsche kümmern? Ohne klare Verteilung der Aufgaben gerät man in Teufels Küche. Sie wird lange nichts sagen, weil sie ja damals sagte, sie würde übernehmen. Und er kann sich immer darauf berufen, dass das so verabredet war.

Stefan: Es wurde nicht besser. Wir redeten aneinander vorbei und lebten nebeneinander her. Abends kehrte ich ungern und spät heim. Ein schlechtes Gewissen hatte ich nicht, das war meine Lösung für die Situation. Ich entwickelte eine enge Beziehung zu einer Arbeitskollegin. Sie war der Freund, der mir in Bolivien fehlte. Wir hatten einen guten Draht zueinander, mehr nicht.

Marika: Ich war misstrauisch, wollte aber diese Freundschaft nicht verhindern. Ich bin kein eifersüchtiger Typ. Trotzdem verunsicherte mich diese Beziehung. Sie presste mich geradezu in die Rolle der mühsamen Ehefrau.

Stefan: An Weihnachten sprachen wir erstmals von Trennung. Unsere Eltern waren da und passten auf Nils auf. Wir hatten zum ersten Mal Zeit für uns. Und wussten plötzlich nichts mehr miteinander anzufangen.

Marika: Das Gespräch über eine Trennung begriff ich als neuen Tiefpunkt. Danach ging es wie gehabt weiter. Ich versuchte einige Male, auf Stefan zuzugehen, aber er öffnete sich nicht. Im April stellte ich ihn vor die Tür und forderte eine Entscheidung von ihm.

Stefan: Ich verbrachte eine Woche im Hotel und beschloss, es nun ernsthaft zu versuchen. Ich wollte ein besserer Vater und Ehemann werden. Danach ging es etwas besser. Dennoch planten wir nach der Rückkehr in die Schweiz im Sommer eine Paartherapie.

Marika: Ich flog vier Wochen vor Stefan zurück. Eine Pause würde uns guttun, dachte ich. Wir weinten am Flughafen beim Abschied und telefonierten täglich. Ich war überzeugt, es kommt jetzt alles gut.

Stefan: Dieser Monat allein in Bolivien war wunderbar. Ich fühlte mich frei und wollte nicht zurück. In diesem Zustand liess ich mich auf die Arbeitskollegin ein. Eigentlich war es Nils, der mich in die Schweiz zog. Er war mir in den letzten Monaten stärker ans Herz gewachsen. Zurück in der Schweiz, habe ich Marika erzählt, was ich für die andere Frau empfand.

Marika: Im August setzte ich Stefan vor die Tür. Ich hatte keine Energie mehr. Ich verstand nicht, dass er neun Jahre Beziehung wegwerfen wollte für eine Frau, die er in dieser Situation kennengelernt hatte. Wenn mir in dieser Phase jemand schöne Augen gemacht hätte, hätte ich mich vielleicht auch auf eine Affäre eingelassen. Aber dass er nicht für uns kämpfen wollte, verstand ich nicht.

Therapeut: Eine Aussenbeziehung kann verschiedene Gründe haben. Hier sehe ich folgende: Eine aus Sicht des Mannes erlebte zu starke Mutter-Kind-Einheit führt dazu, dass er seine «Liebespartnerin» verliert und gegen eine Mutter «eintauscht», was sich auf Nähe, Verbundenheit und Begehrtfühlen sehr negativ auswirken kann. Diese Gefahr besteht vor allem, wenn beide sich voneinander zurückziehen, statt sich mitzuteilen. Als zweiten möglichen Grund sehe ich die nicht gelungene Übernahme der Vaterrolle, indem Stefan sozusagen an sich als «eroberndem Jüngling» festhielt. Eine Aussenbeziehung hat wegen des Vertrauensbruchs oft schwerwiegende Folgen. Wenn aber beide bereit sind, sich nicht oberflächlich moralisch, sondern emotional tief mit den Gründen auseinanderzusetzen, kann das Paar im besten Fall nach dem Durchschreiten eines langen Jammertals einen sehr wesentlichen Schritt weiterkommen.

Stefan: Im September begannen wir erfolglos eine Therapie. Wir waren nicht bereit, uns von unseren Standpunkten wegzubewegen. Dieser Prozess setzte erst ein, als wir Distanz hatten. Für mich folgten schreckliche Monate. Ich hatte keinen Job und stürzte in ein tiefes Loch. Nur die regelmässigen Tage mit Nils gaben mir Halt. Ich brauchte ihn.

Marika: In der Therapie sagte Stefan zum ersten Mal offen, womit er Mühe hatte. Aber ich spürte keinen Kampfgeist von ihm und gab auf – um mich zu schützen. Wir hatten drei Monate lang kaum Kontakt. Erst da fand ich wieder zu mir selbst. Kurz vor Neujahr 2008 entschied ich: Entweder sind wir an unserm Hochzeitstag im Mai geschieden, oder wir haben es gut. Ich stellte Stefan ein Ultimatum und war sicher, dass er die Scheidung wollte.

Stefan: Ich wollte es nochmals versuchen, und wir verbrachten ein schönes Wellness-Wochenende. Ich erlebte die «alte» Marika. Im Februar begann ich eine Einzeltherapie. Ich wollte herausfinden, warum ich so Mühe hatte, mich der Familie zu widmen. Mir gingen einige wichtige Lichter auf. Ich erkannte, dass ich endlich für Nils die Verantwortung übernehmen musste und das auch wollte.

Marika: Wir wohnten weiterhin getrennt, waren aber wieder ein Paar. Häufig trafen wir uns ohne Kind. Ich war viel entspannter, und da ich merkte, dass Stefan seine Vaterrolle wirklich neu überdacht hatte, meckerte ich auch viel weniger.

Therapeut:
Mich macht es ein bisschen skeptisch, dass nur Stefan in die Therapie musste, dass die Störung nur bei ihm gelegen haben soll. Er hat aufgrund seiner Geschichte nicht ja sagen können zur Vaterrolle. Darauf hat sie reagiert. Das kann natürlich schon so sein. Meine Erfahrung aber ist, dass auch die Frauen ihren Teil beitragen. Frauen leiden zum Beispiel manchmal unter einem völlig überhöhten Mutterideal, sie wollen perfekte Mutter und Hausfrau sein. Das möchte ich Marika nicht unterstellen. Aber ich finde es wichtig, dass auch ihr Anteil an der Paardynamik genau angesehen wird.

Stefan:
Schon bald redeten wir von einem zweiten Kind – wir wollten Nils nicht ohne Geschwister aufwachsen lassen.

Marika: Im Sommer 2008 wurde ich schwanger. Erst dachte ich: «Oh shit.» Aber dann freute ich mich doch.

Stefan: Eigentlich freute ich mich, dachte aber auch, dass das zu schnell geht.

Marika: Wir ziehen demnächst zusammen, bald kommt das Baby. Ich bin schon nervös. Als Familie haben wir bisher nicht funktioniert. Auch habe ich mich an meine eigenen vier Wände gewöhnt. Wir haben verabredet, dass ich mich mehr um das Baby kümmere und Stefan sich mehr um Nils und dass wir uns viel Freiraum lassen. Ich habe akzeptiert, dass er nichts mit Babys anfangen kann. Ich habe mir fest vorgenommen, nicht mehr nur Mutter zu sein, sondern auch Frau, und lockerer an die Dinge heranzugehen. Die Erfahrung, dass ich auch alleinerziehend funktionieren kann, tat mir gut.

Stefan: Ich weiss nicht, wie ich auf dieses Baby reagieren werde. Aber ich bin optimistisch. Ich muss nicht mehr länger Gedanken verstecken, die man als Vater nicht haben darf. Marikas Nörgeleien haben abgenommen. Hoffentlich bleibt das so. Ich akzeptiere die Marika, die sie heute ist. Aber die alte vermisse ich schon auch.

Therapeut: Marika und Stefan sind auf einem guten Weg. Sie geben nicht auf, obwohl sie durch die Niederungen gewandelt sind, in der viele Beziehungen auseinanderfallen. Wenn die beiden von Anfang an den Mut gehabt hätten, sich zu sagen, was in einem vorgeht, wäre schon eine stärkere Verbindung da gewesen, die auch zu Lösungen führen kann. Manchmal hilft es schon, sich einfach von Zeit zu Zeit auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: «Da müssen wir jetzt durch.»