Beziehungen: Wer sich verstehen will, muss fühlen
Intuition ist fürs Zusammenleben wichtiger, als wir denken. Vor allem Menschen mit wenig Macht müssen spüren, was andere wollen. Der sechste Sinn ist wieder gefragt.
Veröffentlicht am 6. Januar 2002 - 00:00 Uhr
Als kleine Mädchen seien sie regelmässig im Wohnungsflur zusammengeprallt. «Wir stiessen zusammen, weil wir beide im selben Moment aus unseren Zimmern herausgerannt kamen und nachschauen wollten, was die andere macht», berichtet Colette Rohrer (Bild links) lachend. «Und heute, wo wir getrennt wohnen», fährt ihre Schwester Estelle (Bild rechts) fort, «passiert es andauernd, dass ich zum Telefonhörer greife und anstelle des Summtons bereits die Stimme von Colette höre, die in genau dieser Sekunde ebenfalls vorhatte, mich anzurufen.» Das Gleiche zu denken oder instinktiv zu fühlen, wie es der anderen geht, dies hat schon von jeher zum Alltag des 33-jährigen Zwillingspaars gehört.
Intuitionsforscher Rolf Reber vom Institut für Psychologie der Universität Bern hat eine mögliche Erklärung für die Tatsache, dass Menschen, die sich nahe stehen, zur gleichen Zeit das Gleiche denken: «Man hat festgestellt, dass sich Eheleute im Lauf der Jahre immer ähnlicher werden, sogar bis in ihre Denkstrukturen hinein.» Man habe in einer engen Beziehung viele gemeinsame Erfahrungen und Erfahrung sei bei der Intuition das Wichtigste. «Es ist also möglich, dass der eine intuitiv weiss, was der andere gleich tun wird weil er ja selber das Gleiche tun würde.»
Manche vermuteten bei einem solchen Vorkommnis Telepathie, sagt Reber. «Ich bin bei solchen Begriffen lieber vorsichtig.» Anders sieht das der Intuitionstrainer und Unternehmensberater Ralph Wilms schliesslich habe der englische Wissenschaftler Rupert Sheldrake bewiesen, dass es die Telepathie bei Tieren gebe. «Ein Hund oder eine Katze gehen ausgerechnet in dem Moment an die Haustür, in dem ein weit entfernt arbeitender Mensch den Entschluss fasst, nach Hause zu fahren», berichtet Wilms. «Warum also sollte es so etwas nicht auch bei den Menschen geben?»
Das Wort Intuition leitet sich ab vom lateinischen «intuitio». Es heisst Anblick, Anschauung und bedeutet gemäss Fremdwörterbuch «Eingebung» oder «unbewusstes Erfassen von Zusammenhängen». Eine Form der Intuition kennt jeder: den Gedankenblitz im Alltag. Man hat vergessen, wie die Nachbarin heisst, murmelt im Vorbeigehen unverständlich etwas vor sich hin. Eine Stunde später aber steht einem der Name glasklar vor Augen. Oder die Lücke im Kreuzworträtsel, über der man so lange gebrütet hat am nächsten Morgen beim Einkaufen fällt einem die Lösung plötzlich ein.
Besonders in einem Bereich wären wir verloren, wenn wir nicht über «einen guten Riecher» verfügten: dann nämlich, wenn wir jemanden kennen lernen. Bei einem Date setzen wir alles daran, den Menschen vis-à-vis zu erfassen nicht nur durch das, was er sagt, sondern ebenso sehr durch das, was er nicht ausspricht.
Immer schon haben die Menschen sich auf ihre Intuition verlassen. «Viele Erfindungen und Kunstwerke hätte es nicht gegeben», so Ralph Wilms, «wenn die Denkerinnen und Künstler nicht die kosmische Datenbank angezapft hätten.»
Zum Beispiel der griechische Mathematiker Archimedes. Schenkt man der Legende Glauben, sollte er herausfinden, ob von den Goldschmieden bei der Anfertigung einer Krone wirklich alles königliche Gold verarbeitet worden sei. Wie aber löst man eine solche Rechnung ohne Waage? Archimedes brütete darüber, kam aber zu keinem Ergebnis. Schliesslich schob er das Problem beiseite und nahm ein Bad. Als er sich ins heisse Wasser gleiten liess, sah er den Wasserrand steigen. In diesem Augenblick schoss ihm die Lösung durch den Kopf: Das Volumen seines Körpers verdrängte die gleiche Menge Wasser und so würde es auch die Krone tun. In diesem Moment hatte Archimedes seine Auftriebsgesetze geboren.
Der Holländer Baruch de Spinoza (1632 bis 1677) sprach 2000 Jahre später von der Intuition als der «höchsten Form der Erkenntnis». Albert Einstein gestand, ihm sei die Relativitätstheorie in einem Zustand der Trance eingeflüstert worden.
Erst im 20. Jahrhundert, das die Ratio in den Mittelpunkt stellte, wurde die Stimme aus dem Innern verdrängt. «Unter Intuition versteht man die Fähigkeit gewisser Leute, eine Lage in Sekundenschnelle falsch zu beurteilen», behauptete beispielsweise der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt respektlos.
Intelligenz ist emotional
Noch immer halten viele die Intuition für Einbildung. Doch auch Hirnforscher sagen, dass wir neben dem folgerichtigen Denken noch über eine andere Form der Erkenntnis verfügen. Unser logisches Denken wird von der linken Hirnhälfte gesteuert. Es funktioniert mit Sprache und dem schrittweisen Schlussfolgern. Die Intuition jedoch geschieht in der rechten Hirnhälfte zusammen mit den emotionalen Zentren des Hirnstamms. Dieses Denken beruht auf bildhaften, unbewussten Eindrücken. Die Sinnes- und Gedächtnisdaten werden nicht wie beim logischen Denken zergliedert, sondern es wird versucht, ganzheitliche Bilder herauszufiltern.
Durch das Ende des Millenniums und andere weltweite Verunsicherungen haben Bücher oder Seminare wie «Der Weg zur inneren Stimme» oder «Emotionale Intelligenz» aus der Esoterikecke herausgefunden. Nicht nur Hollywoodstars, auch Politikerinnen und Manager sind neuerdings erpicht darauf, ihre intuitiven Fähigkeiten zu verbessern.
Dies sei zwar zum einen sicher erfreulich, meint Intuitionsforscher Reber. Gleichzeitig aber auch gefährlich, «weil ja weder im einen noch im anderen Extrem, sondern in der Kombination von Vernunft und Intuition die Lösung liegt». Reber ärgert sich, wenn die Intuition oder die innere Stimme immer zitiert werden, wo früher ganz einfach von Zufall oder Glück die Rede war etwa bei jemandem, der wegen einer kurzfristigen Umbuchung nicht in einem abgestürzten Flugzeug sass. «Hier müsste man zuerst untersuchen, wie viele Leute bei einem ganz normalen Flug ihre Reise umbuchen.»
Frauen sind nicht intuitiver
Ebenso räumt Reber mit dem Klischee auf, dass Frauen intuitiver veranlagt seien als Männer. So fand ein US-Forschungsteam heraus, «dass der Intuitionseffekt unabhängig vom Geschlecht bei denjenigen Personen ausgeprägter vorhanden ist, die privat oder geschäftlich eine untergeordnete Stellung einnehmen». Vermutlich weil diese Menschen mehr darauf angewiesen sind, die Gefühle der anderen richtig zu interpretieren. «Frauen galten bis anhin wohl einfach darum als intuitiver», so Reber, «weil sie öfter in untergeordneten Positionen anzutreffen waren.»
Estelle und Colette Rohrer ist es egal, wie Wissenschaftler ihre besondere Kommunikation erklären. Wenn es der einen schlecht geht, dann spürt es die andere. Darauf kommt es an. Der Notruf funktioniert aber nur zwischen den zwei Schwestern. Fühlen sich Colettes oder Estelles Freunde nicht wohl, sind die Rohrerschen Antennen leider ausser Betrieb.
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Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit zwischen Beobachter und schweizer Fernsehen DRS. Redaktionelle Verantwortung: Monika Zinnenlauf