Beobachter: Jede zweite Ehe wird geschieden, und es gibt immer mehr kinderlose Paare: Ist die Familie aus historischer Sicht am Ende?
Simon Teuscher: Wohl kaum. Es ist ein Märchen, dass die Familie im Mittelalter noch solidarisch und intakt gewesen und im Verlauf der Neuzeit nach und nach zerfallen sei. So gab es schon im Mittelalter viele Einpersonenhaushalte.

Beobachter
: Wie bitte? Singlehaushalte im Mittelalter?
Teuscher: Ja. Im Florenz des 15. Jahrhunderts, nach damaligen Massstäben eine Grossstadt, war jeder vierte Haushalt ein Singlehaushalt. Familien waren im Mittelalter noch sehr schwach strukturiert.

Beobachter
: Waren die Ehen damals wenigstens stabil?
Teuscher: Es gab sehr viele Patchworkfamilien. Wie heute auch wieder. Es war nicht ungewöhnlich, drei- oder viermal zu heiraten. Oft haben Kinder aus verschiedenen Ehen im selben Haushalt gelebt. Aber nicht weil die Eltern geschieden waren, sondern weil sehr viele Frauen bei der Geburt gestorben sind.

Beobachter
: Die Patchworkfamilie ist also keine moderne Zerfallserscheinung?
Teuscher: Keineswegs. Sie ist ein Dinosaurier, kaum kaputtzukriegen. Das ist uns nicht mehr so bewusst, weil wir alle die bürgerliche Familie mit zwei Kindern im Kopf haben, in der der Vater arbeitet und die Mutter die Kinder erzieht. Da sind wir alle von Hollywood beeinflusst. Doch die bürgerliche Familie ist historisch gesehen blutjung.

Beobachter
: Sie könnte sich als Rülpser der Geschichte erweisen?
Teuscher: So in etwa, ja. Während anderes an unseren Familienformen ungeheuer langlebig ist. Übrigens auch das traditionell späte Heiratsalter in Westeuropa: Es lag selten unter 26.

Beobachter
: Also nicht bei 15, wie Historienfilme vielleicht vermuten liessen?
Teuscher: Nein. Heirat unter Kindern gab es vor allem im Hochadel, wenn wieder mal dringend eine Allianz geschmiedet werden musste. In Europa war die Zeit bis zur Familiengründung immer schon sehr lang. Das ist bis heute so geblieben.

Beobachter: Warum?
Teuscher: Das hat auch pragmatische Gründe. Zum Beispiel organisierten sich Familien oft stark um unteilbare Ressourcen herum, einen Hof etwa oder eine Burg. Oft musste der Sohn halt warten, bis der Hof frei wurde, und die Heirat hinauszögern. Um 1780 fängt dann in ganz Europa das Heiraten innerhalb der Familie an. Fragen Sie mal im Verwandtenkreis: noch bei den Urgrosseltern war die Heirat unter Cousins und Cousinen erstaunlich verbreitet. So versuchte man, das Geld in der Familie zu behalten, vor allem in Industriellenfamilien.

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Beobachter: Steigt mit dem Reichtum einer Familie auch die Streitlust?
Teuscher: Wahrscheinlich schon. Weil es um handfeste Interessen geht. Das kennen viele vom Weihnachtsfest im Kreise der Verwandten.

Beobachter
: Aber woher stammt denn dieses Bild vom allmählichen Zerfall der Familie?
Teuscher: Die moderne Gesellschaft will nicht zugeben, wie stark sie selber noch von Verwandtschaft abhängig ist. Viel lieber stilisiert sie den Selfmademan, der angeblich seines eigenen Glückes Schmied ist. Dabei hat auch heute noch Erfolg sehr viel mit Herkunft und familiären Ressourcen zu tun. Sei es Geld während des Studiums. Oder denken Sie an die vielen Grosseltern, die ihre Enkel hüten. Wir neigen zur Behauptung, das alles gehöre in eine alte, vergangene Zeit.

Beobachter
: Familie und Herkunft werden kleingeredet, stattdessen wird der Erfolg aus eigener Kraft heroisiert?
Teuscher: Ja, das ist eine marktwirtschaftliche Ideologie: dass man nur planen und sich selber gut managen müsse, dass angeblich jeder die gleichen Chancen habe. Sie verkennt, wie wahnsinnig wichtig eben immer noch die Herkunft, die Familie ist. Und was sie einem alles mit auf den Weg gibt – oder eben nicht: Kapital, Wissen, Benehmen, Beziehungen. Wer gibt schon gern zu, dass er seinen Erfolg der Herkunft verdankt?

Beobachter
: Das Mittelalter hat nicht den besten Ruf: kriegslüstern, blutig, Streckbett und Daumenschrauben. Da musste einer froh sein, wenn er den nächsten Tag erlebte. War da Familienplanung, Planung generell, überhaupt sinnvoll?
Teuscher: Die Lebenserwartung bei der Geburt war im Mittelalter im Durchschnitt zwar sehr tief, zwischen 30 und 40 Jahren – aber vor allem, weil sehr viele Säuglinge und Kinder gestorben sind. Hatte ein mittelalterlicher Mensch aber die ersten 20 Jahre geschafft, waren die Chancen nicht schlecht, den 70. Geburtstag zu erleben.

Beobachter
: Heutige Familien sind stark auf Kinder ausgerichtet, Paare heiraten oft erst, wenn Kinder kommen. War das immer schon so?
Teuscher: Nein, im Mittelalter kanalisierte die Ehe in erster Linie die Sexualität. Es ging darum, nur noch mit einer Person Sex zu haben. Es drehte sich alles viel stärker um das Paar, nicht um Kinder.

Beobachter
: Gab es vorehelichen Sex?
Teuscher: Das gab es wohl auch damals ziemlich oft. In dieser Hinsicht waren die Menschen des Mittelalters nicht ganz anders als heute. Was ihnen hingegen fremd war: diese Kinderfixiertheit der Ehe, die wir bei uns seit 20 Jahren beobachten.

Beobachter
: Hatten Eltern von damals ihre Kinder eigentlich gern? Kinder wurden im Adel ja zur Erziehung an den Hof geschickt, Jünglinge ins Kloster weggegeben.
Teuscher: Ganz gewiss. Für die Ehe als solche standen aber die Kinder nicht so stark im Vordergrund. Das bedeutet nicht, dass Eltern im 14. Jahrhundert ihre Kinder nicht gern gehabt hätten.

Beobachter: Freute man sich denn mehr über einen Sohn als über eine Tochter?
Teuscher: Unter Umständen war ein Sohn schon sehr wichtig. Nicht nur bei Adligen, auch bei Bauern. Höfe und Allmendrechte wurden über den Sohn vererbt. War keiner da, kamen dann die Cousins und Coucousins ins Spiel.

Beobachter
: Wie viele Kinder hatte man?
Teuscher: Oft nicht mehr als zwei oder drei, die überlebten. Aber es gab sehr viel mehr Geburten als heute. Bei einem jungen Paar konnte die Frau praktisch jedes Jahr schwanger sein. Aber eine Mutter, die es sich leisten konnte, stillte selten selber. Sogar in den Unterschichten gaben die Leute ihre Kinder zu Ammen, liessen sie also ausserfamiliär betreuen. Das ist keine moderne Erfindung. Viele berufstätige Frauen wollten sich nicht noch mit Stillen belasten. Oder sie waren adlig und lehnten das als verpönte körperliche Arbeit ab. Fremdbetreuung der Kinder war im Mittelalter völlig normal.

Beobachter
: Waren Kinder denn wichtig für die Alterssicherung der Eltern? Bedeuteten viele Kinder Reichtum?
Teuscher: Das wird überschätzt. Da schwingt wieder diese Vorstellung von der angeblich wahnsinnig solidarischen mittelalterlichen Familie mit, die im Lauf der Jahrhunderte zerfallen sei. Nehmen wir die Bauern: Wenn die Eltern vom Hof zurücktraten, zahlte der Sohn eine hohe Ablösesumme, die er sich in seiner langen Jugend als Knecht gespart hatte. Dass viele Kinder Reichtum bedeuten, sagt man ja auch oft über die Dritte Welt. Für das Mittelalter würde ich das so nicht sagen. Im Gegenteil: Um einen gewissen Stand zu halten, musste man die Kinder bei der Heirat aussteuern. Es wurde behauptet, schon die Zünfte seien entstanden, weil die Familie nicht mehr funktionierte. Ebenso die Vereine im 19. Jahrhundert, weil sich die Menschen in ihrer Familie angeblich nicht mehr unterhalten konnten. Und auch der Sozialstaat soll entstanden sein, weil die Familie nicht mehr funktionierte. Würde das alles stimmen, wäre die Familie schon vor Jahrhunderten ausgestorben. Doch sie ist quicklebendig.

Simon Teuscher, Jahrgang 1967, ist Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich. Er ist Teil einer internationalen Forschergruppe, welche die Geschichte der Familie und Verwandtschaft seit dem 14. Jahrhundert erforscht.

Quelle: Schweizerisches Nationalmuseum/Inventar DEP-3721/Foto DIG 1773

Simon Teuscher, Jahrgang 1967, ist Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich. Er ist Teil einer internationalen Forschergruppe, welche die Geschichte der Familie und Verwandtschaft seit dem 14. Jahrhundert erforscht.

Quelle: Schweizerisches Nationalmuseum/Inventar DEP-3721/Foto DIG 1773