«Ich werde missbraucht»
Hörigkeit: Wie kann man sich aus einer missbräuchlichen Beziehung befreien?
Veröffentlicht am 16. September 2013 - 13:52 Uhr
Pia G.: «Mein Mann ist 20 Jahre älter. Ich werde sexuell missbraucht und gedemütigt. Ich habe immer nur gegeben, und er lässt lieben. Doch ich kann mich nicht von ihm trennen. Es ist wie eine Einbahnstrasse.»
Das ist es in Wirklichkeit nicht, auch wenn es für Sie derzeit so aussieht. Eine Beziehung ist keine Einbahnstrasse, in der das Umkehren verboten ist. Man kann die Richtung jederzeit ändern, indem man an der Beziehung arbeitet oder indem man sie auflöst. Die Sklaverei ist in unserer Kultur abgeschafft. Niemand muss sich einem anderen Menschen unterwerfen und sich seelisch ausbeuten lassen. Ich empfehle Ihnen dringend, das Problem in einer Paartherapie anzugehen. Wenn das nicht zu einer Veränderung Ihrer Paardynamik führt, ist wohl eine Trennung die einzige Lösung, wenn Sie nicht weiter leiden wollen.
Es sieht ganz so aus, als ginge Ihr Beziehungsmuster Richtung Hörigkeit. Das Wort stammt aus dem Mittelalter, als zwischen Adeligen, Freien und Hörigen unterschieden wurde. Die Hörigen waren tatsächlich ihrem Herrn verpflichtet und hatten nur ein eingeschränktes Selbstbestimmungsrecht. Heute versteht man darunter eine Unterwerfung unter den Willen eines andern in einer Liebesbeziehung. Das ist verbreiteter, als man glaubt – Betroffene reden nicht gern darüber.
Wie kommt heutzutage jemand dazu, sich seinem Partner völlig unterzuordnen, sich alles gefallen zu lassen und doch an ihm zu hängen? Psychologen haben verschiedene Erklärungen. Die Unterwerfung könnte mit einem schwachen Selbstbewusstsein, einer wenig entwickelten Durchsetzungskraft zu tun haben. Wer als Kind unterdrückt wurde, wer keine Erfahrung seiner Selbstwirksamkeit machen durfte, also seiner Möglichkeit, auf die Umwelt einzuwirken, ist gefährdet, auf einen Partner zu treffen, der ihn weiterhin wie ein unmündiges Wesen behandelt.
Oft spielt bei der Hörigkeit auch die Sexualität eine wichtige Rolle. Freud war der Meinung, gehemmte Menschen entwickelten dort eine Hörigkeit, wo sie zum ersten Mal intensive Sexualität erleben konnten. Ein Mann mit Potenzschwierigkeiten etwa bleibt an jene Frau gebunden, bei der er diese überwinden konnte.
Zu dieser Theorie passt nicht, dass viele Frauen, die sich als hörig erleben, bei der sexuellen Begegnung gar keine Lust empfinden – sondern sich missbraucht fühlen. Das führt zur umgekehrten Theorie: dass Hörigkeit damit zu tun hat, dass man nicht loslassen kann – weil etwas fehlt, weil das Ersehnte nie erreicht werden kann.
Was auch immer die Gründe sind: Leidet man darunter, sollte man Hilfe suchen. Allerdings lässt sich in unserer Kultur eine gewisse Zwiespältigkeit gegenüber diesem Beziehungsmuster erkennen. In der Trilogie «Shades of Grey» etwa wird ein Hörigkeitsverhältnis zwischen Held und Heldin geschildert; das Buch erreichte Millionen und ist in 37 Ländern greifbar. Obwohl laut einer australischen Studie aus dem Jahr 2002 nur knapp zwei Prozent der sexuell aktiven Menschen sadomasochistische Praktiken leben, sind entsprechende Phantasien offenbar weit verbreitet.
Man kann sexuelle Hörigkeit aber auch romantisch sehen. Die Liebe ist so gross, dass man sich der oder dem Geliebten völlig hingibt. Der dominierende Teil wiederum fühlt sich so unwiderstehlich angezogen, dass er das geliebte Wesen total besitzen und beherrschen will.
Umgekehrt lässt sich argumentieren: Zur Liebe gehört die Freiheit. Also ist es schöner, Liebe zu schenken, als sie aus Abhängigkeit geben zu müssen.
Trotzdem ist es normal, dass zu jeder Liebesbeziehung eine gewisse Abhängigkeit gehört. Man hängt ja aneinander. Die meisten werden es aber vorziehen, wenn diese Abhängigkeit grundsätzlich gleichmässig verteilt ist. Dass sich mal der oder die eine, mal der oder die andere in der erotischen Begegnung völlig hingibt, kann durchaus das Sexualleben bereichern und ist ja auch ein Zeichen für gegenseitiges Vertrauen.Koni Rohner
E-Book: Alina Schumann: «Hörig. Die Lust an der Unterwerfung. Geständnisse einer Sucht»; Verlag Epubli, 2011, 118 Seiten, CHF 7.50