Wieso umarmt er mich nicht?
Frage: Ich fühle mich durch die Betreuung unserer kleinen Kinder im Moment oft überfordert. Wenn ich abends meinem Mann davon erzähle, gibt er mir gut gemeinte Ratschläge, die aber nicht helfen. Wieso nimmt er mich nicht einfach in den Arm?
Veröffentlicht am 18. August 2008 - 09:23 Uhr
Weil er es nicht besser weiss. Wie Sie selber schreiben, meint er es ja durchaus gut und will Sie unterstützen. Mag sein, dass es ein eher männertypisches Verhalten ist, immer gleich Ratschläge zu geben - aber ganz allgemein sind sich viele Menschen nicht bewusst, wie fruchtbar es bereits sein kann, einfach nur zuzuhören und Verständnis zu zeigen.
Ihr Bedürfnis aber liegt tiefer. In den Arm genommen zu werden ist ein ganz ursprünglicher zwischenmenschlicher Akt des Tröstens. Wenn Ihr Mann nicht selber darauf kommt, dürfen Sie ihn darum bitten. Sie werden sehen: Dass Sie danach gefragt haben, schmälert die Wirkung nicht.
Fast alle wissen wohl, welch tiefgreifende Wirkung es hat, einfach mal in den Arm genommen zu werden. Es geht um das, was die meisten von uns schon in früher Kindheit erleben durften: das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit durch Körperkontakt, durch die wärmende Nähe einer geliebten Person. Es ist eine äusserst kraftvolle und archaische Erfahrung.
Die Nähe anderer Menschen wirkt beruhigend
Dieses Gefühl von Geborgenheit ist so wichtig fürs ganze menschliche Leben, gewissermassen von der Wiege bis zur Bahre, dass sich auch die psychologische Forschung damit beschäftigt hat. Der britische Kinderpsychiater John Bowlby hat die sogenannte Bindungstheorie entwickelt: Beim Bindungsverhalten des Menschen handelt es sich um eine biologisch sinnvolle Anlage, die vererbt ist und seit eh und je den Zweck hatte, das Überleben der menschlichen Spezies im Verlaufe der Evolution zu sichern. Insbesondere Kleinkinder haben das Bedürfnis, in Situationen der Gefahr oder Bedrohung Schutz und Beruhigung bei ihren Bezugspersonen zu suchen. Aber auch auf Erwachsene wirkt die Nähe anderer Menschen stressreduzierend und angstmindernd.
Ursprünglich ging es sicher um Schutz vor wilden Tieren. Aber auch heute noch gibt einem eine Umarmung das Gefühl, in einem sicheren Hafen angekommen zu sein. Die grösste Angst des Menschen ist wohl die vor der Einsamkeit, vor dem Abgetrenntsein, vor dem «Mutterseelenalleinsein». Der nahe Körperkontakt vertreibt diese Furcht. Man kann sich entspannen.
Versuche haben übrigens gezeigt, dass die Bindung des Kindes an seine Eltern nicht etwa dadurch entsteht, dass es versorgt und ernährt wird, wie man glauben könnte, sondern in der Tat durch den Körperkontakt. Wer als Kind oft liebevoll gehalten wurde, entwickelt ein Urvertrauen, das einen das ganze Leben lang stärkt.
Was ist zu wenig, was ist zu viel?
Wenn die Eltern hingegen die Bedürfnisse des Kindes nicht spüren können, ihm zu wenig Wärme schenken oder durch Umklammerung seine Grenzen überschreiten, kann es zu Störungen des Bindungsverhaltens kommen. Das kann sich negativ auf Partnerschaften im Erwachsenenleben auswirken. Insbesondere sexuelle Übergriffe können die fruchtbare Kraft der Umarmung ins Gegenteil wenden. Wenn die Umarmung statt Geborgenheit Angst und Abscheu auslöst, ist vieles zerstört - und nur schwer wieder zu heilen.
Für alle Umarmungen gilt: Sie können im richtigen Moment eine Wohltat für das Gegenüber sein, aber man muss spüren können, wie viel dem anderen guttut. Im Zweifelsfall darf man fragen.