Mit leuchtenden Augen blättert Roland Glaser im schmalen Büchlein, das vor ihm auf dem Küchentisch liegt, und alsbald kommen beim 72-jährigen pensionierten Elektroingenieur die Erinnerungen hoch. Wie er damals, in den vierziger Jahren, mit seinem Grossvater Stefan Theodor Glaser am Bodensee schwimmen gelernt hat - der kleine Roland hielt sich an den Schultern des Grossvaters fest und schwamm mit ihm weit in den See hinaus. Deutlich erinnert sich Glaser auch an den grossen Fettkochtopf, den sein Opa im Keller seines Hauses in Rorschach SG installiert hatte, er stellte dort in Eigenregie Fett, Nusscreme, Hustenbonbons und eine Art Ovomaltine her. «Mein Grossvater war ein sehr aussergewöhnlicher Mensch», sagt Roland Glaser und blickt durchs grosse Fenster seiner Wohnung in Männedorf ZH auf den Zürichsee. «Er war Erfinder, Sportler, Pionier für gesunde Ernährung - in vielen Dingen war er seiner Zeit voraus.»

Die bewegte Lebensgeschichte seiner Grosseltern müsste man aufschreiben, dachte Roland Glaser jahrelang, bis er sich im Sommer 2004 ans Werk machte, Dokumente und Fotografien sammelte und die einzige noch lebende Tochter seines Opas befragte, die damals 91-jährige Tante Hilde. Zwei Jahre später war das Büchlein fertig; Glaser druckte 50 Exemplare, gab sie im Eigenverlag heraus und verteilte sie im Familienkreis.

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«Mit Schreiben beginnen, bevor die Erinnerungen verblasst sind»: Roland Glaser


Familienbiographien erleben derzeit einen Boom. So hat etwa die Zürcher Autorin Susanna Schwager 2004 im Chronos-Verlag das Buch «Fleisch und Blut» veröffentlicht: die Lebensgeschichte ihres Grossvaters Hans Meister. Die Biographie des eigenwilligen Metzgers wurde ein Bestseller, verkaufte sich bis heute rund 20'000 Mal und erscheint bereits in der 6. Auflage. Letztes Jahr liess Schwager das Buch «Die Frau des Metzgers» folgen, in dem sie die Geschichte ihrer Grossmutter erzählt; auch dieses Werk kletterte in die Bestsellerliste.

Kürzlich erschien im NZZ-Verlag eine Biographie über die Winterthurer Mäzenin Hedy Hahnloser-Bühler, verfasst von deren Enkelin Bettina Hahnloser. Im Limmat-Verlag ist soeben eine Biographie über Lify Bucher, die Enkelin des Innerschweizer Hotelkönigs Franz Joseph Bucher-Durrer, erschienen, geschrieben von Tochter Silvana Schmid. Und für Schlagzeilen sorgt derzeit auch das Buch «B-8326» aus dem kleinen Luzerner db-Verlag, das die Erlebnisse des Holocaust-Überlebenden Ruben Gelbart schildert, aufgezeichnet von dessen Enkelin Nathalie Gelbart.


Nicht ohne Berichte von Betroffenen

Die Buchverlage freuen sich zwar über den Erfolg der Biographieliteratur, beobachten die Entwicklung aber auch mit gemischten Gefühlen. Hans-Rudolf Wiedmer, Verlagsleiter bei Chronos, hält den Einfluss der Medien für einen zentralen Faktor: «In den Medien wird heute fast jedes Thema personifiziert, und das greift auch aufs Buchgewerbe über.» Eine Studie zur Familienstruktur im 19. Jahrhundert zum Beispiel stosse auf viel weniger Interesse als ein Erfahrungsbericht aus der Sicht eines Zeitzeugen. Bald jede historische Studie werde angereichert mit Berichten von Betroffenen, trockene Analysen hätten es schwer, noch Leser zu finden. Dennoch begrüsst es Wiedmer, dass sich die Gesellschaft wieder stärker mit der Vergangenheit auseinandersetzt.

Regelmässig landen bei ihm Manuskripte mit Familiengeschichten auf dem Pult, doch längst nicht alle seien geeignet, veröffentlicht zu werden. «Eine Biographie ist dann spannend», sagt der Verleger, «wenn sie über das Einzelschicksal hinaus eine gewisse historische Relevanz hat, wenn sie also zum idealtypischen Porträt einer Generation wird.»

Die Verwandtschaft rückt näher zusammen

«Jeder Mensch möchte einmal wissen, woher er kommt», meint Roland Glaser zur Motivation, das Buch über seine Grosseltern zu schreiben. Er stelle bei sich selbst Eigenschaften fest, die er sich nur durch seine Vorfahren erklären könne, zum Beispiel seinen starken Drang nach Selbständigkeit. Glaser war, wie sein Opa, freischaffend und hat technische Erfindungen gemacht; «das habe ich vom Grossvater geerbt», sagt er schmunzelnd. So sorgte sein Vorfahre etwa mit einer Maschine zum industriellen Entsteinen von Kirschen für Furore, musste aber auch Rückschläge hinnehmen und sich ständig Neues einfallen lassen. «Mit meinem Büchlein will ich meinen drei Kindern und den Enkeln Mut machen, dass es sich lohnt, seinen eigenen Weg beharrlich zu verfolgen», so Glaser.

Die Arbeit an der Chronik habe zudem einiges in Gang gebracht, plötzlich habe man sich innerhalb der Familie wieder mehr ausgetauscht. «Mein Büchlein hat bewirkt, dass wir in der Verwandtschaft wieder intensivere Kontakte pflegen.» Er könne, so meint Glaser, diese Erfahrung nur weiterempfehlen, doch müsse man die Aufarbeitung rechtzeitig in die Hand nehmen, «bevor die Erinnerungen ganz verblasst sind».

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«Grossvater hat gerne und wunderbar erzählt»: Susanna Schwager


Am Anfang war ein Fest

Gerade zum richtigen Zeitpunkt hat sich Susanna Schwager mit der Geschichte ihrer Vorfahren auseinandergesetzt. Die 49-jährige Autorin, die lange in Mexiko lebte, hat in den Büchern «Fleisch und Blut» und «Die Frau des Metzgers» das Leben ihrer Grosseltern beschrieben und konnte dafür den Grossvater und weitere Verwandte befragen. Ausgelöst hat die Suche nach den eigenen Wurzeln ein Familienfest: An seinem 87. Geburtstag erzählte der Grossvater vor versammelter Runde, wie sein Zwillingsbruder als Kind vom überforderten Vater gezüchtigt wurde und dabei fast gestorben wäre. «Da habe ich gemerkt, wie wenig ich über die Welt der Grosseltern weiss», erinnert sich Schwager beim Gespräch im Bistro des Landesmuseums Zürich, wo sie im Rahmen der aktuellen Familienausstellung kürzlich eine Lesung hielt. Auf ihren Reisen habe sie lange das Unbekannte gesucht; nun habe sie gemerkt, dass auch das Unspektakuläre vor der eigenen Haustür spannend sei. «Man muss sich vorstellen: Diese Generation hat von der Industrialisierung über die Weltkriege bis zum Internet ein verrücktes Jahrhundert erlebt. Wenn ich in ihre Geschichte eintauche, ist das wie eine abenteuerliche Zeitreise», so die Autorin.

Im Anschluss an das Geburtstagsfest besuchte Schwager den Grossvater regelmässig im Altersheim, liess ihn von früher erzählen, machte sich erst nur flüchtige Notizen, brachte dann aber jeweils ein Aufnahmegerät mit. «Grossvater hat gerne und wunderbar erzählt, oft sind ihm die Tränen übers Gesicht gelaufen», sagt Schwager. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit habe den alten Mann stark berührt; er, der Kriege und Krisen überstanden habe, sei es nicht gewohnt gewesen, sich von seiner verletzlichen Seite zu zeigen. «Sein Leben lang war er gegen aussen ein harter Brocken, erst zum Schluss und vielleicht durch mein Fragen hat er sich aufgetan.»

2005, ein Jahr nach dem Erscheinen des ers-ten Buchs, verstarb Hans Meister. Ähnlich verhielt es sich bei der Grossmutter Hildi Meister, nur dass Schwager sie nicht mehr befragen konnte - sie starb bereits 1992. Auch die Grossmutter hatte wenig von sich preisgegeben, Schwager musste in ihrem Umfeld recherchieren. Aus den Erinnerungen der Angehörigen schuf sie «einen Stoff, der ganz dokumentarisch ist und sich doch so spannend lesen soll wie ein Roman», sagt sie.

Doch ein guter Stoff und ein packender Schreibstil erklären das grosse Interesse an Schwagers Büchern noch nicht restlos. Die Mutter einer 14-jährigen Tochter und eines erwachsenen Pflegesohns verweist darauf, dass es in schnelllebigen Zeiten ein grosses Bedürfnis nach alten Geschichten gebe. Wo sich die Gesellschaft im Umbruch befinde, greife man auf die Vergangenheit zurück, um zu schauen, wie es den Vorfahren ergangen sei. «Die Werbung gaukelt uns alles Mögliche vor, Beruf und Familie erscheinen vielen als unsicher. Ich glaube, die Leute sehnen sich nach Erzählungen, die eine gewisse Wahrheit enthalten.»

Gefragt - die genetische Herkunft

Der Zürcher Familiensoziologe François Höpflinger teilt diese Ansicht, führt aber noch weitere Gründe für den Boom der Familienbiographien an. Zum einen sei die 68er-Phase, in der man gegen die Generation der Eltern und Grosseltern rebelliert habe, vorbei; heute berufe man sich wieder stärker auf die genetische Herkunft. Anderseits sei die Lebenserwartung gestiegen, viele Grosseltern könnten bis ins hohe Alter befragt werden. Zudem falle es alten Menschen heute leichter, aus ihrem Leben zu erzählen und auch Intimes preiszugeben. «Früher waren Grosseltern distanzierte Respektspersonen, stärkere Kontakte gab es eher zwischen Onkeln, Tanten und Geschwistern», sagt Höpflinger. Das habe sich geändert; die Forschung spreche bereits von der «Bohnenstangenfamilie»: «Vertikal bestehen zwischen Grosseltern, Eltern und Kindern langlebige Beziehungen, in der Horizontalen aber, also zu den übrigen Verwandten, dünnen sich die Kontakte immer mehr aus.»

Höpflinger hat in einer Studie die Beziehungen zwischen den Generationen untersucht und dabei festgestellt, dass sich besonders Enkel und Grosseltern oft sehr nahestehen. «Die Mehrzahl der 16-Jährigen, die wir befragt haben, zeigen sich sehr interessiert an der Geschichte ihrer Grosseltern.» Das könnte, so vermutet der Soziologe, mit der Ähnlichkeit der Lebensumstände zu tun haben: Die Generation der Grosseltern habe Kriege und Krisen erlebt; die Elterngeneration sei aber vor allem geprägt durch das ungebremste Wachstum der Nachkriegszeit; die Enkel jedoch müssten wieder stärker gegen Unsicherheiten ankämpfen. «Deshalb fühlen sich viele Enkel den Grosseltern emotional näher als den Eltern, obwohl die historische Distanz zu ihnen grösser ist», folgert Höpflinger. Und gerade diese Kombination von Nähe und Distanz ergebe spannende biographische Literatur.

Eine grosse zeitliche Distanz zum Leben ihrer Vorfahren weist die 20-jährige Nathalie Gelbart auf, die kürzlich im db-Verlag die Biographie ihres Grossvaters Ruben Gelbart veröffentlicht hat. Als es darum ging, ein Thema für die Maturaarbeit zu wählen, beschloss Nathalie Gelbart, die dramatischen Erlebnisse ihres jüdischen Opas aufzuzeichnen - dieser ist ein Überlebender des Holocaust.

1940 stecken ihn die deutschen Besatzer in ein Ghetto, 1944 wird er mit weiteren Verwandten nach Auschwitz deportiert. Seine Mutter wird vergast, dann gelangt der junge Ruben ins KZ Blechhammer, wo sein Vater erschossen wird. Es folgt der Todesmarsch im Winter 1945 nach Gross-Rosen, Ruben Gelbart frieren die Zehen ab, doch er überlebt. Man bringt ihn ins KZ Buchenwald, wo die Peiniger Experimente an seinen Zehen durchführen und diese amputieren. Endlich, am 11. April 1945, stürmen die Amerikaner das Lager, Ruben Gelbart kommt frei und gelangt mit dem Roten Kreuz in die Schweiz.

Reise zu den jüdischen Wurzeln

Abgeschlossen ist die tragische Vergangenheit damit nicht. Auf dem Unterarm trägt Gelbart die Nummer, die ihm die Nazis eintätowiert haben: B-8326. Um sich selbst und anderen Menschen mit Fussbehinderungen zu helfen, gründete Gelbart in Luzern ein Orthopädiegeschäft. Kraft gibt ihm auch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit; der 82-Jährige setzt sich für einen jüdischen Friedhof in seiner Heimat ein und hielt früher Vorträge an Schulen. Dass seine Enkelin nun seine Lebensgeschichte aufgezeichnet hat, sei ein Glücksfall: «Was passiert ist, darf niemals in Vergessenheit geraten.»

Als sie das Buch verfasste, weinte Nathalie Gelbart oft und wurde von Alpträumen geplagt. Sie führte lange Gespräche mit ihrem Grossvater, sammelte Dokumente und Fotos, recherchierte die Hintergründe der Judenverfolgung. «Ich wollte mehr wissen über die Geschichte meiner Familie und über das Schicksal der Juden», sagt die junge Frau aus Kriens LU, die soeben in Zürich ein Psychologiestudium begonnen hat. Besonders nahegegangen sei ihr die Vorstellung, dass der Grossvater etwa in ihrem Alter war, als er das alles durchmachen musste. «Dank meinem Buchprojekt fühle ich mich ihm heute noch näher», sagt die Enkelin, «ich bewundere seinen grossen Lebensmut.» Ihre Biographiearbeit habe die ganze Familie stärker zusammengeschweisst. So reiste Nathalie Gelbart kürzlich für vier Monate nach Israel zu ihrer Tante, um ihre eigenen Wurzeln und die jüdische Kultur besser kennenzulernen. «Vorher habe ich mich kaum jüdisch gefühlt», sagt sie, «heute aber bin ich stolz darauf.»

Quelle: Ursula Meisser