Chat: Wenn Amors Pfeil online trifft
Kann man sich in einen Menschen verlieben, den man nur vom Chatten im Internet kennt? Tatsache ist: Immer mehr Frauen und Männer finden ihr Herzblatt per Mausklick.
Veröffentlicht am 31. Juli 2001 - 00:00 Uhr
Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass man sich in einem Internet-Chat verlieben kann», sagt Claudia Masala. «Bis es mir passiert ist.» Angefangen hat alles mit einer simplen Frage. «Hat es einen Bündner hier?», wollte Patrick Hermann im Chat wissen. Die 28-Jährige antwortete wahrheitsgemäss mit Ja.
Von dem Moment an ergab ein Thema das andere. Während fünf Nächten plauderten Claudia und Patrick pausenlos miteinander online. Am sechsten Abend wollte Claudia mit ihrer Schwester in ein Dancing und erzählte Patrick davon. Spontan machte auch er sich auf den Weg dorthin. «Die Frau, die ich im Dancing traf, entsprach genau meinen Vorstellungen», erinnert sich der 24-Jährige.
Seit jenem Abend vor über einem Jahr sind die beiden ein Paar. Letzten Dezember zogen sie zusammen. «Eigentlich war uns beiden klar, dass wir uns ineinander verliebt hatten, bevor wir uns überhaupt getroffen haben», sagt Patrick. «Aber ganz sicher kann man das vor dem ersten Treffen natürlich nicht wissen.»
Wie Claudia und Patrick ergeht es immer mehr Menschen: Sie verlieben sich in jemanden, den sie im Chat kennen gelernt haben. In den Diskussionsforen des Internets tauchen regelmässig Fragen auf zum Thema «Liebe aus dem Chat?». Die meisten Antworten sind ermutigend: «Ich hätte nie geglaubt, dass das möglich ist, aber ich habe im Netz meinen Traummann gefunden.»
Auch die 43-jährige Beatrice Widmer lernte ihren heutigen Freund so kennen. Nachdem sich die zwei im Chat über Monate und später auch einige Zeit telefonisch über Gott und die Welt und sich selber unterhalten hatten, kam es ihr beim ersten persönlichen Treffen so vor, «als ob ich ihn schon ewig und gründlich kennen würde». Da sie sich gefühlsmässig inzwischen so nahe gekommen waren, habe für sie das Aussehen so gut wie keine Rolle mehr gespielt. «Er hat mir dann aber sogar wirklich gefallen!»
Viel Raum für Fantasie
Allerdings findet man in den Foren auch Stimmen, die nach einem persönlichen Kontakt ihrer Enttäuschung freien Lauf lassen und vor zu viel oder falschen Erwartungen warnen. Einige sind zudem der Meinung, dass man im Netz niemandem trauen könne, weil sowieso nur gelogen werde. Tatsächlich bietet die Anonymität im Chat viel Freiraum für Fantasiegeschichten. Doch: «Wirklich gelogen wird selten», meint Franz Eidenbenz, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP.
Claudia und Patrick denken, dass die Lügner auch im Netz schnell entlarvt und die meisten Menschen ehrlich sind. Häufig machen sie die Erfahrung, dass man «im Chat innert kurzer Zeit mehr über eine Person erfährt als bei einer direkten Begegnung». Sie sind begeisterte Chatter geblieben und sitzen heute gemeinsam vor dem Bildschirm. Viele Frauen und Männer, die sie so kennen gelernt haben, gehören heute zu ihrem Freundeskreis. «Andere gehen in die Disco, um Kontakte zu knüpfen», sagt Patrick, «wir gehen dazu in den Chat.»
Auch Psychologe Franz Eidenbenz sieht im Chat «durchaus eine sinnvolle Möglichkeit, um Menschen kennen zu lernen» falls es gelingt, die Kontakte in die reale Welt hinüberzuretten. Ohne diese Umsetzung laufe man hingegen Gefahr, in der Illusion zu leben, geliebt oder anerkannt zu werden, während die innere Einsamkeit weiterhin bestehen bleibe. «Und das kann zu Internetsucht führen.»
Der Chat birgt einen grossen Nachteil, der zugleich auch sein Vorteil ist: «Äusserlichkeiten spielen keine Rolle», so Eidenbenz. «Allerdings regt die fehlende Körperwahrnehmung gleichzeitig zu Projektionen an, und das Bild, das wir uns vom anderen machen, wird häufig durch eigene Wünsche und Vorstellungen idealisiert.»
Offensichtlich sind sich viele Chatter dessen bewusst und halten die Unsicherheit darüber, ob die Chat-Liebe im realen Leben hält, was sie im Netz verspricht, nicht lange aus. Sobald man eine starke gegenseitige Zuneigung empfindet, taucht das Bedürfnis auf, sich persönlich zu treffen, um seine Gefühle zu verifizieren.
Vor dem ersten Rendezvous solle man «unbedingt offen dafür sein, das Bild zu korrigieren, das man sich vom anderen gemacht hat», rät Franz Eidenbenz. Oft passiert nämlich nicht das, was man sich vorgestellt hat. Um nicht enttäuscht zu werden, ist es auch wichtig, sich vor Augen zu halten, dass man sich im Chat in einer virtuellen Welt befindet, in der eigene Vorstellungen und Wünsche eine grosse Rolle spielen. Manchmal hilft bereits ein Foto oder das Hören einer Stimme, um auf den Boden der Realität zurückzukommen vor Überraschungen schützt allerdings auch dies nicht in jedem Fall.
Die 21-jährige Jessica Boesch hat sich schon einige Male mit Menschen getroffen, die sie im Chat kennen gelernt hatte. Wirklich schlechte Erfahrungen hat sie dabei nie gemacht. Aber sie erlebte hautnah, wie sehr man sich täuschen kann. «Im Chat konnte ich mich mit diesem Mann so gut unterhalten», erinnert sie sich. «Aber als ich ihm gegenübersass, war davon gar nichts mehr zu spüren.» Bis heute habe sie das Gefühl, dass derjenige im Chat nicht identisch gewesen sei mit dem Mann, den sie persönlich getroffen habe. «Dass er sich auch noch in mich verliebt hatte, machte die Sache nicht einfacher.»
«Er ist mein Traummann!»
Vom Chatten hielt Jessica diese Enttäuschung jedoch nicht ab. Schon kurze Zeit später lernte sie ihren heutigen Freund Giancarlo Giordano kennen. Gechattet haben die zwei allerdings nur zweimal. Danach stiegen sie aufs Telefon um. In stundenlangen Gesprächen fanden sie bestätigt, was sie schon im Chat gespürt hatten: «Wir stellten so viele Gemeinsamkeiten fest, dass es mir beinahe unheimlich war», erinnert sich Jessica. Während zweier Monate lief die Telefonleitung zwischen Brugg AG und Arbon TG heiss.
Als einige Wochen später beide per Zufall in der Nähe von Zürich waren, nahmen sie die Gelegenheit wahr, um sich zu treffen. Jessica, die von einem Foto wusste, wie Giancarlo aussah, erkannte ihn auf Anhieb. Freudestrahlend rannte sie auf ihn zu und umarmte ihn: «Es war mir ein riesiges Bedürfnis, den Mann, mit dem ich so viele Stunden telefoniert hatte, endlich zu spüren», sagt sie zu ihrer Begrüssung. Er lacht: «Sie hatte mich total überrumpelt.»
Auch Jessica und Giancarlo verstanden sich im realen Leben ebenso gut wie im Chat und am Telefon und wurden ein Paar. «Er ist mein Traummann», schwärmt Jessica. «Nie hätte ich gedacht, dass zwei Menschen so gut zueinander passen.»