Der Schuss auf die Kanzel
Die Pfarrer wollen mehr Freiräume, die Kirchgemeinden verlangen gute Seelsorger, gewiefte Prediger und professionelle Verwalter. Das führt zu immer mehr Konflikten.
Veröffentlicht am 14. Juli 2006 - 16:08 Uhr
Das unfreiwillige Ende seiner Anstellung kam für den Glattfelder Pfarrer Lukas Maurer an einem Sonntag im letzten Mai. An der Urne fällten seine Schäfchen ihr Urteil: abgewählt. «Das Resultat war für mich völlig überraschend», sagt Maurer. Auch Kirchenpflegepräsident Remo Fantozzi bestätigt: «Wir haben keine konkreten Hinweise auf Mängel in seiner Amtsführung erhalten.»
Das zürcherische Glattfelden ist kein Einzelfall. «Zwar wurde auch vor 100 Jahren gestritten. Die Konflikte zwischen Pfarrern und Gemeinde nehmen aber zu», sagt Nicolas Mori, Mediensprecher der evangelischen Landeskirche Zürich. Im Kanton Zürich mussten sich in diesem Jahr in acht der insgesamt 179 Kirchgemeinden die Pfarrer an der Urne bestätigen lassen.
«Wollt ihr einen Fanklub sponsern?»
Eine Urnenwahl findet nur statt, wenn die Kirchenpflege den Pfarrer nicht zur Wahl empfiehlt oder wenn gegen ihn Unterschriften gesammelt werden. Zur Zitterpartie wurde der Urnengang etwa in Kappel am Albis: Der Pfarrer schaffte seine Wiederwahl mit 52,3 Prozent ganz knapp. In sieben weiteren Gemeinden kam es gar nicht zur Wahl: Die Pfarrerinnen und Pfarrer entschieden von sich aus, den Rücktritt einzureichen, nachdem sie nicht mit einer Wahlempfehlung ihrer Kirchenpflege rechnen konnten. «So viele Problemgemeinden gab es noch nie», sagt Mori.
Gleicher Befund im Aargau: «Die Beschwerdeverfahren häufen sich», sagt Frank Worbs, Leiter Kommunikation der reformierten Landeskirche Aargau. Weiteres Indiz für die zunehmend konfliktbeladene Beziehung zwischen den Gläubigen und ihren Seelsorgern: In der drittgrössten Landeskirche stehen fünf Kirchgemeinden unter Kuratorium - so viele wie noch nie. Ein Kuratorium wird vom Kirchenrat eingesetzt, wenn eine Kirchenpflege nicht mehr in der Lage ist, ihre Aufgabe wahrzunehmen. Stein ist eine dieser Gemeinden. Anfang Juni kam es im 2’500-Seelen-Dorf im Fricktal zum Showdown. Eine aufgewühlte Stimmung habe an der Kirchgemeindeversammlung geherrscht, harte Worte seien gefallen, wie die «Basler Zeitung» festhielt. In der Kritik: das Pfarrehepaar. Den beiden wurde vorgeworfen, sie hätten ihre Aufgaben nicht richtig wahrgenommen, zu wenig Krankenbesuche gemacht und den Konfirmationsunterricht zu konservativ gestaltet.
«Wollt ihr eine Gemeinschaft in unserer Kirchgemeinde oder wollt ihr einen Fanklub des Pfarrehepaars mit 200’000 Franken sponsern?», rief ein Votant gemäss Zeitungsbericht in die Runde. Die Debatte wogte hin und her. Zum Schluss empfahl Kurator Rolf Kasper das Pfarrehepaar nicht zur Wahl im kommenden Herbst: «Den Pfarrer kann man ersetzen, die Kirchgemeinde nicht. Fehler aber haben alle gemacht.»
Dieser Fall ist typisch. «Wenn ein Pfarrer scheitert, werden in der überwiegenden Zahl der Fälle seine personellen Defizite erwähnt», sagt Alfred Frühauf, Kirchenratsschreiber der evangelischen Landeskirche Zürich. Die personale Kompetenz habe im Vergleich zu früher einen deutlich höheren Stellenwert erhalten.
Ganz allgemein sind die Erwartungen der Kirchgemeindemitglieder an ihre Pfarrerinnen und Pfarrer in den letzten Jahren gestiegen. Professionalität in allen Bereichen wird verlangt. Ein guter Seelsorger soll der Gottesmann sein, ein gewiefter Prediger, einen guten Draht zu Jugendlichen haben, einfühlsam zu den älteren Menschen sein und auch noch Pfarramt und Kasse korrekt führen.
«Es ist heute schwieriger, Pfarrer zu sein. Die Anforderungen sind höher, während das Prestige gesunken ist. Der Pfarrer ist nicht mehr, wie noch in früheren Jahren, bloss kraft seines Amtes eine Respektsperson, sondern er muss sich täglich in der Gemeindearbeit bewähren», sagt Nicolas Mori.
Hinzu kommt, dass gerade junge Pfarrer ein anderes Berufsverständnis mitbringen als noch die ältere Generation. «Die Pfarrerin oder der Pfarrer als Hirte der Gemeinde, als moralisches Vorbild und gewissermassen als Profi-Christ - damit habe ich Mühe», sagt Regula Metzenthin. Die 31-jährige Pfarrerin sieht sich neben ihrer Tätigkeit als Seelsorgerin auch als Lehrperson, die ihre im Studium erworbenen Kenntnisse weitervermitteln will.
Metzenthin brach während ihrer Pfarrtätigkeit in einer kleineren Zürcher Gemeinde mit einer weiteren Tradition: Sie zog nach rund einem Jahr im örtlichen Pfarrhaus in den Nachbarort um. «In einer kleinen Gemeinde ist man immer an der Arbeit, wenn man sich im Dorf bewegt. Ich empfand die fehlende Rückzugsmöglichkeit als beengend.» Doch die Kirchgemeinde akzeptierte diesen Schritt nicht und bestand auf der Wohnsitznahme in der Gemeinde, wie sie im Kirchengesetz vorgeschrieben ist. Metzenthin musste zurücktreten. «Ich frage mich, ob diese Regelung noch zeitgemäss ist.»
Neue Stellenbeschriebe schaffen
«In Kirchgemeinden und bei Kirchenpflegen bestehen mitunter noch antiquierte Vorstellungen vom Pfarrberuf», sagt Rolf Kühni, Präsident des kantonalen Pfarrvereins Zürich. An seiner letzten Generalversammlung im Juli verabschiedete der Verein ein neues Berufsleitbild. Im Herbst wird dieses an alle Kirchenpflegen versandt mit der Einladung, im Rahmen einer thematischen Sitzung über den Pfarrberuf nachzudenken. Das Leitbild betont die Notwendigkeit persönlicher Freiräume für Pfarrerinnen und Pfarrer. Zur Frage der Wohnsitzpflicht wird nächstens eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Laut Kühni erachtete an der Generalversammlung überraschenderweise eine grosse Mehrheit der Mitglieder die Wohnsitzpflicht im Pfarrhaus als sinnvoll.
Ähnliche Bestrebungen gibt es im Kanton Bern: Der Pfarrverein erarbeitete letztes Jahr einen detaillierten Stellenbeschrieb, in dem die Rahmenbedingungen für eine neu zu besetzende Pfarrstelle festgehalten sind. Die Anzahl Ferienwochen ist ebenso geregelt wie die Organisation der Pikettdienste. Organisation und Durchführung einer Trauung werden mit 1,5 Arbeitstagen veranschlagt, eine Taufe mit 0,25 Arbeitstagen.
«Seelsorger ist ein helfender Beruf. Es ist deshalb besonders schwierig, Grenzen zu setzen. Der Stellenbeschrieb schafft Klarheit gegenüber der Kirchenpflege und den Mitgliedern», sagt Andreas Stalder, Präsident des Berner Pfarrvereins. Viele seiner Kollegen und Kolleginnen hätten darunter gelitten, unausgesprochene Erwartungen aus zeitlichen Gründen nicht erfüllen zu können, etwa den persönlichen Besuch bei Kirchgemeindemitgliedern zu ihrem 70. Geburtstag.
Auch wenn in der Tendenz die Beziehung zwischen Seelsorgern und ihren Schutzbefohlenen mehr Konflikte zeitigt als früher: Es gibt Gegenbeispiele, Kirchgemeinden, die ihrem Pfarrer auch unorthodoxes Verhalten nachsehen. In Volketswil ZH schaffte der Pfarrer seine Wiederwahl - wenn auch mit 52,6 Prozent nur knapp -, obwohl er mit der Frau eines Kirchenpflegemitglieds ein Verhältnis hatte. Unlängst erklärte sich die Kirchenpflege an einer Versammlung bereit, sich für eine gedeihliche Zukunft der Kirchgemeinde und für eine gute Zusammenarbeit mit dem Pfarrer einzusetzen - auch wenn der Prozess der Aussöhnung noch bevorstehe.