«Darf ich vorstellen: mein Schatz»
Wenn Jugendliche ihre erste Liebe mit nach Hause bringen, müssen sich auch die Eltern neu orientieren: Von nun an ist eine «fremde» Person Mitglied der Familie.
Veröffentlicht am 15. März 2005 - 13:05 Uhr
Es ist kurz vor Mitternacht. Elisabeth und Alexander F. liegen schon im Bett, als ihre 18-jährige Tochter ins Schlafzimmer platzt: Sie will ihnen schnell ihren Freund vorstellen. «Das war schon eine schräge Situation», erinnern sich die Eltern. Aber ihre Tochter habe in diesem Moment eine solche Freude und Energie ausgestrahlt… Und so drückten sie halt – in Pyjama und Pantoffeln – dem fremden jungen Mann die Hand.
Wenn Jugendliche ihre erste Liebe nach Hause bringen, verändert sich das Privatleben der ganzen Familie. Gemütlich im Schlafanzug am Frühstückstisch sitzen? Duschen bei offener Badezimmertür? Plötzlich fühlt man sich gehemmt in den eigenen vier Wänden, zieht sich lieber gleich an und schliesst die Tür zum Bad.
Doch es geht um mehr als nur um diese kleinen Gewohnheiten. Manchmal kommt mit dem neuen Gast auch eine ganz andere Art des Umgangs in die Familie hinein. «Wir haben gern Menschen und spüren eigentlich keine Berührungsängste», sagt Elisabeth F., die in einem sozialen Beruf arbeitet. Dennoch mussten sich die Eltern zuerst daran gewöhnen, wie sehr der Freund etwa körperliche Nähe zu anderen Menschen suchte. «Am Anfang habe ich schon etwas komisch geschaut, als er meine Frau so oft umarmte», gesteht Vater Alexander F. – der Eindruck einer männlichen Konkurrenz liess sich nicht ganz von der Hand weisen. Aber nach zwei, drei Wochen habe sich das gelegt, meint seine Frau und fügt lachend hinzu: «Mir wird das vielleicht auch einmal so gehen, wenn unsere Söhne eine attraktive junge Frau nach Hause bringen.»
Auch Liliane S. sah sich durch die erste Freundin ihres 15-jährigen Sohnes mit einer ganz anderen Familienkultur konfrontiert. In ihrer Familie wird am Abend bewusst der gemeinsame Tisch gepflegt. Die Freundin dagegen durfte bei sich zu Hause essen, wann sie wollte, konnte nach Belieben kommen oder gehen und musste auch nicht sagen, wie sie ihre Sonntage verbrachte. «Das färbte auf unseren Sohn ab. Plötzlich meldete auch er sich nicht mehr ab, sondern blieb einfach weg», erzählt die Mutter.
Und wenn ihr Sohn mit seiner Freundin da war, zogen sich die beiden lieber ins Zimmer zurück, als mitzuessen. Mit den männlichen Kollegen des Sohnes war das ganz anders: Diese schlugen eine Einladung zum Essen nie aus und verspeisten jeweils ganze Berge. «Das Kind verändert sich mit der ersten Liebe», so Liliane S.’ Fazit. Allzu unglücklich war sie daher nicht, als diese erste Beziehung zu Ende ging.
Und wie stehts mit dem Sex?
Für Eltern bedeutet die erste Liebesbeziehung des Kindes aber auch eine einmalige Chance, wie der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Rudolf Bühlmann betont: «Alles, was nachher kommt, ist nur eine Wiederholung dieser ersten Begegnung.» Die Eltern sollten deshalb den neuen Freund oder die neue Freundin offen aufnehmen. Sie dürfen auch stolz sein: Sie haben ihr Kind so erzogen, dass es eine Beziehung eingehen kann. Klar, dass es sich dabei auch ein Stück weit von den Eltern löst. Bühlmann: «Aber wer den Stafettenstab nicht aus der Hand gibt, verhindert die Stafette.»
Selbst wenn einem der neue Gast in der Familie ganz und gar nicht als «sympathischer Schwiegersohn» erscheint, rät Bühlmann zur Toleranz: «Schlägt man ihm die Tür zu, geht das Vertrauen des eigenen Kindes kaputt, und das Spiel mit den Lügen beginnt.» In seiner Praxis beriet Bühlmann kürzlich ein Elternpaar, dessen Tochter sich in einen drogenabhängigen jungen Mann verliebt hatte. Dieser arbeitete nicht, hing den ganzen Tag rum. Die Eltern hatten alle Hände voll zu tun, damit ihre Tochter ihren eigenen Alltag nicht vollkommen schlittern liess. Vor allem die Mutter war verzweifelt und hätte diese Beziehung am liebsten auseinander gebracht. «Aber gerade das produziert in der Regel umso mehr Kitt», so der Therapeut. Das sich unverstanden fühlende Kind halte nur noch mehr am von den Eltern ungeliebten Geliebten fest. Besser lassen die Eltern das Kind seine Erfahrungen machen und versuchen es dabei so gut wie möglich zu begleiten und zu unterstützen.
Spätestens mit der ersten Liebe wird in der Familie auch die Frage aktuell, wie und wo die Jugendlichen ihre Sexualität leben können und dürfen. Ab wann und wie oft soll man dem jungen Paar erlauben, im eigenen Haus zusammen zu schlafen?
Für Elisabeth und Alexander F. war das kein Problem: «Wir pflegten immer einen sehr offenen Umgang mit der Sexualität.» Die Tochter wollte ausserdem von sich aus immer viel wissen, so dass die wichtigen Fragen schon geklärt waren, als sie 14 war. Seit einem halben Jahr ist nun auch der 15-jährige Sohn schwer verliebt. Seine türkische Freundin darf noch nicht bei ihm übernachten. Er bei ihr am Wochenende schon. Aber dann schläft das Mädchen im Zimmer der Mutter. Elisabeth und Alexander F. wollten dennoch mit ihrem Sohn über die Themen Schwangerschaft und Verhütung sprechen – für alle Fälle. Doch er winkte ab und empfand es als «total schräg», dass sich seine Eltern darüber Sorgen machten. Schliesslich wusste er längst alles.