Erziehung: Hätschelkinder haben Eltern fest im Griff
Viele Eltern machen es sich einfach: Sie verhätscheln ihre Kinder und überlassen die Erziehung der Schule. Doch jetzt haben die Lehrer genug: Sie spielen den Ball zurück und rufen die Mütter und Väter in die Pflicht.
Veröffentlicht am 30. Juli 2001 - 00:00 Uhr
Tanja muss sich rechtzeitig an die gleitende Arbeitszeit gewöhnen. Das findet zumindest ihre Mutter. Deshalb darf die 15-Jährige mit ihrer Erlaubnis zu spät zum Unterricht erscheinen. Retos Geburtstagsparty dauerte etwas länger. Darum so die schriftliche Erklärung seines Vaters fehle er einen Tag in der Schule. Und Stefan treibt sich mit seinem Kollegen regelmässig bis spät in die Nacht kiffend auf dem Schulgelände herum. Kommentar der Mutter: «Die Schule macht sich lächerlich, wenn sie dieses Problem nicht in den Griff bekommt.»
Das sehen Pädagoginnen und Psychologen anders. «So kann es nicht weitergehen. Viele Eltern erziehen ihre Kinder nicht mehr», ärgert sich die langjährige Sekundarlehrerin Sonja Luger aus Winterthur und spricht damit vielen ihrer Berufskollegen aus dem Herzen. Die Lehrpersonen haben es satt, für alles, was mit der Jugend schief läuft, den Kopf hinzuhalten. Sie sind nicht mehr bereit, neben der Stofffülle auch noch die Erziehungsaufgaben der Eltern zu übernehmen.
Schützenhilfe erhalten die überforderten Lehrerinnen und Lehrer von politischer Seite. Im Kanton St. Gallen zum Beispiel sollen Mütter und Väter, die sich der Mitwirkung in der Erziehung entziehen, künftig mit einer Geldbusse bestraft werden. Hans Ulrich Stöckling, St. Galler Erziehungsdirektor und Präsident der Konferenz der Erziehungsdirektoren, spricht Klartext: «Die Hauptverantwortung für die Erziehung liegt nicht bei der Schule, sondern bei den Müttern und Vätern.»
Doch in manchen Familien ist man da offensichtlich anderer Ansicht. «Die Kinder beherrschen die alltäglichsten Dinge nicht mehr, wenn sie zu uns kommen», erzählt eine Stadtzürcher Kindergartenlehrerin. Schuhe binden, Hände waschen oder Nase putzen können viele nicht. Dafür haben die Dreikäsehochs bereits eine Krabbelgruppe für Frühestenglisch oder Ausdruckstanz besucht.
Was bei Fünfjährigen noch harmlos erscheint, ist bei 15-Jährigen nur noch mühsam. Lehrerinnen und Lehrer beklagen sich über rüpelhafte Schüler, die noch nie etwas von Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordentlichkeit gehört hätten. Und die Statistiken zeigen: Die Zahl der «verhaltensoriginellen» Kinder, wie Psychologen die Rabauken und Störenfriede politisch korrekt nennen, steigt stetig an. Beim Schulpsychologischen Dienst der Stadt Zürich haben sich die Anmeldungen wegen psychosozialer Probleme in den letzten sechs Jahren fast verdoppelt.
Viele Eltern sind überfordert
Die Erziehung steckt in der Krise. «Es ist erschreckend, wie viele Eltern mit ihren Kindern nicht mehr zurechtkommen», sagt Sekundarlehrerin Luger. «Wissen Sie, ich habe keinen Einfluss auf mein Kind», bekommen Lehrer und Erziehungsberater immer wieder zu hören selbst wenn das Kind erst zwölfjährig ist. «Viele Eltern sind zutiefst verunsichert und wissen nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen», bestätigt Remo Largo, Autor von Erziehungsbüchern und Professor für Kinderheilkunde am Universitätsspital Zürich.
Wurden Erziehungsgrundsätze früher selbstverständlich von Generation zu Generation weitergegeben, sind heutige Eltern oft total überfordert. Das spüren auch die Fachleute. «Die Nachfrage nach Beratung hat in den letzten Jahren massiv zugenommen», sagt Sibylle Neidhart von der Erziehungsberatungsstelle in Allschwil BL.
Die Gründe für die Verunsicherung sind vielfältig. Nach Jahrhunderten der Rohrstockpädagogik, als die Kinder noch zu gehorsamen Geschöpfen geprügelt wurden, wirkte die in den sechziger Jahren aufgekommene Theorie der antiautoritären Erziehung wie eine Befreiung. Und trotz anschliessender Gegenbewegung hallt das Gedankengut des Machenlassens bis heute nach. Kinder sind zur sinnstiftenden Krönung des elterlichen Daseins geworden. Deshalb wollen die meisten Mütter und Väter um keinen Preis ins autoritäre Erziehungsmuster ihrer eigenen Erzeuger zurückfallen. Die Folge: Kinder dürfen oft tun und lassen, was sie wollen.
Kinder nutzen Schwächen aus
«Viele Eltern haben das Gefühl, ihr Kind werde traumatisiert, wenn man ihm klare Grenzen setzt oder ihm etwas verbietet», sagt die Kinder- und Jugendpsychologin Neidhart. Und der oft lang ersehnte Nachwuchs ist nicht auf den Kopf gefallen. Gekonnt spielen die Töchter und Söhne mit dem schlechten Gewissen der Eltern. Wer kann schon hart bleiben, wenn flehende Kinderaugen betteln: «Alle haben das, nur ich nicht?»
Oft sind die Eltern auch schlicht bequem und desinteressiert. Das finden nicht nur Lehrer, sondern auch engagierte Eltern. Selina M. beispielsweise beschwerte sich bei der Schulpflege, weil sie nicht einverstanden war, dass an einer Disco für Primarschüler Alkohol ausgeschenkt wurde. «Ich war erstaunt, dass sich nicht mehr Eltern wehrten», sagt sie.
Auch Werner M. wunderte sich: Weil die Schüler auf einer mehrtägigen Reise mit dem Dorfpfarrer kommen und gehen konnten, wie es ihnen gerade passte, erhob er Einsprache. «Das schien niemand anders zu interessieren. Ich bin mir geradezu reaktionär vorgekommen.»
Erziehen mit dem Portemonnaie
Vernachlässigen und Verwöhnen liegen nahe beieinander. Viele beruflich engagierte Eltern verhätscheln ihre Kinder. Sie verbringen wenig Zeit mit den Sprösslingen und versuchen diesen Mangel durch materielle Werte zu kompensieren. «Manche Eltern wollen grosszügig und verständnisvoll sein; auf der anderen Seite sind sie schnell entnervt und haben keine Zeit», sagt der Badener Lehrer Bruno Bolliger.
Es geht schneller, dem Vierjährigen die Schuhe zu binden, als zu warten, bis er sich seine Schlaufen zurechtgelegt hat. Und es ist viel anstrengender, mit einer 14-Jährigen einen Kampf über die Notwendigkeit eines neuen Skateboards auszufechten, als einfach das Portemonnaie zu zücken.
So sind Hätschelkinder nicht mehr an die Gültigkeit von Grenzen und Regeln gewohnt. «Die Grenzen sind zwar da, aber wenn sie überschritten werden, kräht kein Hahn danach», sagt Oberstufenlehrer Lukas Arnold aus Fehraltorf ZH. Denn aus Angst vor Ablehnung ihres Kindes getrauen sich Eltern nicht mehr, bestimmt aufzutreten und auf gesteckten Grenzen zu beharren.
Ein klassisches Beispiel: Mutter und Lehrerin haben mit Anita vereinbart, dass sie den versprochenen Fernseher zu Weihnachten nur dann erhält, wenn sie regelmässig die Aufgaben macht. Eine klare Abmachung. Doch Anita liess die Hausaufgaben weiterhin liegen den Fernseher erhielt sie trotzdem. Welche Lehre zieht die Sekundarschülerin daraus?
Spätestens wenn die Kinder in die Schule kommen, führt diese Inkonsequenz zu grossen Problemen. Denn die Schule funktioniert nur mit einem Mindestmass an Regeln. Wenn Eltern ihren Kindern alle Probleme aus dem Weg räumen, kann das verheerende Folgen haben: Die Heranwachsenden werden späteren Frustrationen untrainiert zum Opfer fallen. «Ich muss heute sehr viel Zeit darauf verwenden, den Jugendlichen beizubringen, dass Regeln dazu da sind, eingehalten zu werden», sagt Weiterbildungsklassenlehrer Bruno Abegglen aus Spiez BE.
Die Eltern sind dabei oft keine Hilfe im Gegenteil. «Anfangs sagen sie uns, dass sie froh sind, wenn wir streng sind», erzählt Lehrerin Sonja Luger, «aber wenn es draufankommt, fallen uns einige von ihnen in den Rücken.» Dann heisse es, man solle doch nicht so pingelig sein.
Früher war der Lehrer noch eine Autorität, und die Eltern fügten seiner Strafe noch eine eigene Massregelung hinzu. Heute schwingt das Pendel ins andere Extrem: Viele Mütter und Väter stellen sich reflexartig vor ihren Nachwuchs oft mit abstrusen Begründungen. So erklärte etwa die Mutter der achtjährigen Sabine der Lehrerin, ihr Kind müsse lernen, gegenüber Erwachsenen Nein zu sagen deshalb finde sie es in Ordnung, wenn sich das Kind weigere, die Hausaufgaben zu machen. Und Marcos Vater klagte den Lehrer wegen Aufsichtspflichtverletzung an, weil er Marco vor die Tür gestellt hatte.
«Ich habe kein Verständnis für Eltern, die bloss als Chauffeure, Seelentröster und Geldbeutel amten und im Störfall engagierten Erziehern mit juristischen Spitzfindigkeiten in den Rücken fallen», ärgert sich Lehrer Lukas Arnold.
Konsequente Lehrer unerwünscht
Exemplarisch dafür ist der Fall der Konfirmanden aus Illnau-Effretikon ZH. Nachdem einige Konfirmandinnen und Konfirmanden im Lager Bier getrunken und Scheiben eingeworfen hatten, beschloss der Pfarrer, die Jugendlichen statt im Frühling erst im Herbst zu konfirmieren. Wohlgemerkt: Die Jugendlichen wussten um diese Sanktionsmöglichkeit im Voraus. Doch als der Pfarrer die Strafe wahr machte, ging ein Aufschrei der Empörung durch die Elternschaft. Die Strafe sei «grotesk», «ungerecht» und «viel zu hart», liessen Eltern in Leserbriefen verlauten.
Doch wie soll man Kinder erziehen? «Einfache Lösungen gibt es nicht», sagt der Zürcher Jugendpsychologe Allan Guggenbühl. Der gesellschaftliche Wandel habe den Einfluss der Eltern kleiner werden lassen. Aber: «Kinder brauchen Vorbilder, Leitplanken und Grenzen, an denen sie sich reiben können», betont Guggenbühl. Und Soziologieprofessor François Höpflinger doppelt nach: «Grenzen schaffen Geborgenheit.»
Nicht von ungefähr mögen Kinder Lehrer mit klaren Regeln oft lieber als solche, die die Zügel schleifen lassen. Nur: Moderne Eltern tun sich schwer damit. Sie sehen sich gegenüber ihren Kindern eher als Kameraden denn als Erziehungspersonen.
Doch damit erweisen sie ihrem Nachwuchs einen Bärendienst: «Für die Jugendlichen wird es so schwieriger, sich von den Eltern abzugrenzen», sagt Allan Guggenbühl. Und er ermuntert die Eltern, wieder ihre angestammte Elternrolle zu spielen, und plädiert für mehr Abgrenzung: «Habt wieder den Mut, Gruftis zu sein!»