Wenn du nicht spurst, dann
Eltern greifen gern zu Prophezeiungen, wenn sie ihre Kinder von bestimmten Verhaltensweisen abhalten wollen. Sie drohen: «So wird nie etwas aus dir.» Leider ist das eine sinnlose Erziehungsmassnahme.
Veröffentlicht am 5. Januar 2009 - 08:39 Uhr
Erwachsenen geht manchmal die Phantasie durch: «Meine Grosstante bläute mir als Bub ein, dass ich niemals auf ein Pissoir gehen dürfe», erzählte ein Kollege. «Dort würden nämlich Männer rumlungern, die Schnäbeli von kleinen Buben sammeln – so wie andere Briefmarken.» Tatsächlich schliesst er sich bis zum heutigen Tag auf der Toilette ein und verflucht dort seine Grosstante selig.
Ich wollte von Freunden wissen, welche Verbote und Gebote Eltern und andere Bezugspersonen sonst noch brauchen, um ihre Kinder vom einen ab- oder zum anderen anzuhalten, und erhielt zahlreiche Beispiele: Einer Kollegin, die als kleines Mädchen in die USA auswandern sollte, schärften die Eltern ein, dass sie niemals etwas stehlen dürfe. «Sonst bekommst du einen Eintrag und findest in Amerika weder Arbeitsstelle noch Mann», warnten sie.
Pech in der Liebe und die Aussicht auf miese Jobs scheinen die Klassiker aller Drohungen zu sein, wenn Kinder nicht spuren: Töchter – so wird prophezeit – enden als alte Jungfern, wenn sie zu viel plappern. Buben, die die Hände beim Essen unter dem Tisch haben, finden nie eine Frau. Und wer bei den Aufgaben trödelt, wird es höchstens zum Hilfsarbeiter bringen.
Warum erzählen Eltern solche Märchen? Manchmal weil sie die Nerven verlieren oder einfach ihre Ruhe haben wollen. Doch meistens wohl einfach deshalb, weil sie wollen, dass die Kinder aus dem, was sie tun oder lassen, möglichst unbeschadet, reif und glücklich herauskommen. Und aufgrund ihrer Lebenserfahrung glauben Eltern eben zu wissen, was dafür nötig beziehungsweise zu unterlassen ist. Schliesslich ist unbestritten, dass in der Erziehung unter anderem der Grundstein dafür gelegt wird, dass die Kinder später mit den Normen und Werten der Gesellschaft umgehen können, dass sie als Erwachsene sich selbst und anderen Menschen Sorge tragen. Deshalb ist für Eltern im Alltag die Zukunft stets präsent. Und deshalb sagen Eltern dauernd Dinge wie «du wirst auch mal noch erwachsen und wirst dies und das einsehen».
Kleine Kinder leben aber ausschliesslich in der Gegenwart. Ihnen muss die Welt im Hier und Jetzt erklärt werden, und sie können Konsequenzen nur verstehen, wenn sie unmittelbar erfolgen – so verstehen sie zum Beispiel noch nicht, was «noch dreimal schlafen» wirklich bedeutet oder warum sie nicht mit Zündhölzern spielen sollen.
Erst etwa ab dem zwölften Lebensjahr können sie sich mögliche zukünftige Ereignisse vorstellen, sich auf Gedankenexperimente einlassen und Hypothesen bilden. Dann können Kinder die Konsequenzen ihres Tuns selber abschätzen und entsprechend handeln – aber nur wenn sie Vertrauen in die eigene Person und die eigenen Talente entwickeln konnten. Dank diesem Entwicklungsschritt lassen sie sich keinen Bären mehr aufbinden: Sie merken schnell, wenn Prophezeiungen nur einschüchtern sollen und Eltern mit ihrem Latein am Ende sind.