Das machen Eltern falsch
In Sachen Erziehung kursieren viele untaugliche «Weisheiten», sagt die Basler Kinderpsychologin Susy Signer-Fischer. Die zehn häufigsten Irrtümer auf einen Blick.
Veröffentlicht am 16. April 2013 - 08:59 Uhr
Nie schien es schwieriger, Nachwuchs grosszuziehen. Wer sich heute für Kinder entscheidet, will es perfekt machen – und setzt sich damit unter enormen Leistungsdruck. Trotz dem riesigen Angebot an Erziehungskursen, Ratgebern und Beratungsstellen stellen Pädagogen und Psychologen eine enorme Verunsicherung bei Eltern fest. Da ist das Risiko auch gross, dass man falschen «Weisheiten» aufsitzt. Die Basler Kinder- und Jugendpsychologin Susy Signer-Fischer sagt, welchen Top Ten der Erziehungsirrtümer sie immer wieder begegnet.
Grenzen und eine klare Haltung traumatisieren Kinder.
«Eltern sind oft unglaublich hilflos, wenn es darum geht, Grenzen zu setzen», sagt Susy Signer. Die Angst, dem Kind zu schaden, sobald man eine klare Haltung zeigt, Grenzen setzt oder ihm nicht alle Wünsche erfüllt, ist für sie nach wie vor Erziehungsirrtum Nummer eins. Offensichtlich habe weder die Kampagne «Stark durch Erziehung» der Elternbildung Schweiz noch Michael Winterhoffs vieldiskutiertes Buch «Warum unsere Kinder Tyrannen werden» eine nachhaltige Änderung bewirkt.
Signer beobachtet, dass schon ganz kleine Kinder sich eher durchsetzen als ihre Eltern – und diese ihr Kind nicht zurechtweisen, wenn es einem Spielkollegen etwas wegnimmt oder ihm die Schaufel um den Kopf haut. «Oft steckt dahinter eine diffuse Angst, das Kind zu frustrieren.»
Doch es sind erwiesenermassen nicht Frustrationen, die für Kinder ungesund sind, sondern die Unfähigkeit, diese zu überwinden. Eltern müssten wieder lernen, dass sie «nicht die besten Freunde ihrer Kinder sein können», sagt Buchautor Winterhoff. Ihre Aufgabe sei es, das Kind anzuleiten, es zu führen und zu beschützen. Und ihm zu zeigen, was richtig und falsch ist.
Wenn man Kindern erklärt, wieso sie etwas tun müssen, gehorchen sie (besser).
Kinder lernen durch Erfahrungen. Verbote halten sie vor allem ein, um den Eltern zu gefallen oder Konsequenzen zu vermeiden.
Schon das Kleinkind, das vor der heissen Herdplatte gewarnt wird, lässt sich durch die Erläuterung nicht davon abhalten, diese zu berühren. Passen die Eltern nicht auf, wiederholt es das Wort «heiss» und versucht sofort, die Platte zu berühren. Erst wenn es sich wirklich die Finger verbrannt hat, lässt die Faszination für den Herd nach. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Eltern Kinder bewusst ins Unglück rennen lassen dürfen. Sie müssen sie vor Gefahren warnen und schützen.
Und Erklärungen fördern – zumindest im Kleinkindalter – die Sprachentwicklung. Aber sie tragen selten dazu bei, dass die Kleinen lieber oder eher tun, was man von ihnen verlangt. «Kinder müssen lernen, auch Dinge zu tun, deren Sinn sie im Moment nicht einsehen. Und Eltern dürfen nicht erwarten, dass sie das gern und mit Einsicht tun», sagt Susy Signer.
Irrtum Nr. 3: Vom Kind darf man keine Mithilfe im Haushalt fordern.
Diese Haltung ist laut Susy Signer vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen weit verbreitet und wird von den Erwachsenen oft diskussionslos übernommen. 16-Jährige glauben, dass sie zu Hause wie in einem Hotel bedient werden und nach Hause kommen können, wann es ihnen passt. «Falsch», sagt Susy Signer, «auch in diesem Alter müssen Eltern noch Leitplanken setzen.» Ausserdem hält sie es für richtig, dass Kinder ihrem Alter und ihren Fähigkeiten entsprechend bestimmte Aufgaben im Haushalt übernehmen und damit ihren Beitrag zum Familienleben leisten. «Schon ein Dreijähriger kann lernen, die WC-Rolle zu ersetzen.» Und da soll ein 16-Jähriger nicht fähig sein, den Tisch abzuräumen oder die Spülmaschine zu bedienen?
Vom Kind darf man keine Mithilfe im Haushalt fordern.
Diese Haltung ist laut Susy Signer vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen weit verbreitet und wird von den Erwachsenen oft diskussionslos übernommen. 16-Jährige glauben, dass sie zu Hause wie in einem Hotel bedient werden und nach Hause kommen können, wann es ihnen passt. «Falsch», sagt Susy Signer, «auch in diesem Alter müssen Eltern noch Leitplanken setzen.» Ausserdem hält sie es für richtig, dass Kinder ihrem Alter und ihren Fähigkeiten entsprechend bestimmte Aufgaben im Haushalt übernehmen und damit ihren Beitrag zum Familienleben leisten. «Schon ein Dreijähriger kann lernen, die WC-Rolle zu ersetzen.» Und da soll ein 16-Jähriger nicht fähig sein, den Tisch abzuräumen oder die Spülmaschine zu bedienen?
Kinder und Jugendliche merken selbst, wie viel Schlaf sie brauchen.
Überall auf der Welt stellen Forscher fest, dass Kinder heute weniger schlafen. Auch in der Schweiz: 1993 geborene Kinder haben bereits im Alter von sechs Monaten täglich zweieinhalb Stunden weniger geschlafen als Kinder, die 1978 zur Welt kamen.
Spätestens in der Schulzeit wird der Schlafmangel zum Bumerang: Müde Köpfe denken erwiesenermassen schlechter als ausgeruhte. Da erstaunt es wenig, dass das Thema auch in vielen Schulbroschüren angesprochen wird. Die Botschaft ist immer dieselbe: Bis zum Alter von etwa zehn Jahren brauchen Kinder neun bis elf Stunden Schlaf pro Nacht. Und es liegt an den Eltern, dafür zu sorgen, dass sie rechtzeitig ins Bett kommen. Leichter geht das mit einem Ritual, das dem Kind schon beim Abendessen anzeigt, dass es bald Zeit zum Schlafen ist.
Wichtig ist auch genügend Bewegung an der frischen Luft: «Weil sich die meisten Kinder im Schulalltag zu wenig bewegen, liegt auch das vor allem in der Verantwortung der Eltern», so Susy Signer. Nicht alle Kinder gehen von allein nach draussen.
Wir müssen alle Kinder gleich behandeln, unabhängig von ihrem Alter.
Dass jüngere Geschwister eifersüchtig auf die «Sonderrechte» der älteren sind und sich deshalb benachteiligt fühlen, ist im Familienalltag so normal wie das Amen in der Kirche. Doch wollen Sie der Achtjährigen deswegen wirklich erlauben, dass sie wie der zwölfjährige Bruder erst um 21 Uhr schlafen geht? Und hat nicht der Ältere früher oft zurückstecken müssen, weil die Kleine als Säugling häufig krank war?
Weil kein Kind wie das andere ist, können und sollen Eltern sie nicht alle gleich behandeln, sondern angepasst an die Persönlichkeit des Kindes, seinen Entwicklungsstand und die Situation.
Aber jedes Kind sollte die gleichen Möglichkeiten bekommen, individuelle Interessen auszuleben, und auch Hobbys pflegen dürfen, für die sich niemand sonst in der Familie begeistern kann. Vor allem kleinere Geschwister suchen sich manchmal eine Beschäftigung, die sie mit niemandem in der Familie teilen. Denn nur in einem Bereich, der von keinem anderen Familienmitglied besetzt ist, gelingt es ihnen, die Älteren zu überholen.
Loben fördert das Selbstbewusstsein des Kindes.
Das Selbstbewusstsein wächst vor allem mit dem Gefühl, schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft überwunden zu haben. Wenn die Eltern jeden Schritt des Kindes loben, als ob es ein neuer Einstein wäre, fördern sie nichts. Im Gegenteil: Loben sie zu häufig, glaubt das Kind ihnen schlicht nicht mehr. Fachleute raten daher, vor allem Anstrengungen des Kindes – unabhängig vom Resultat – wahrzunehmen und zu honorieren.
Mein Kind hat AD(H)S.
Wie viele Kinder tatsächlich am Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom leiden, weiss niemand. Sicher ist nur: Der Verbrauch an Ritalin und Co., mit dem ADS-Kinder behandelt werden, steigt stetig. Im Kanton Zürich wurden 2009 über vier Prozent der 14-jährigen Buben damit behandelt, bei den Mädchen waren es knapp zwei. Insgesamt schluckten mehr als 1,5 Prozent der 7- bis 18-Jährigen das umstrittene Medikament.
Doch längst nicht jedes zappelige Kind hat ein ADS. Wie man aus Studien weiss, zeigen chronisch übermüdete Kinder häufig ADS-ähnliche Symptome. Susy Signer rät Eltern, die an ihrem hyperaktiven Kind verzweifeln, dem Kind als Erstes zu mehr Schlaf zu verhelfen, besser auf ausgewogene Ernährung zu achten, ihm weniger Süsses zu geben und es zu regelmässiger Bewegung anzuspornen. Schränke man dann auch noch den Medienkonsum ein, seien die «ADHS-Symptome» oft verschwunden oder wenigstens gemildert.
Kinder brauchen die modernen Medien und müssen frühzeitig damit in Kontakt kommen.
Ohne Internet und Smartphone geht heute gar nichts mehr: Jugendliche verabreden sich oft spontan per Handy, und wer da nicht mithalten kann, ist out. Doch: Es sind auch hier Grenzen nötig, sagt Susy Signer-Fischer. Nachts muss das Telefon ausgeschaltet bleiben; sonst sollten die Eltern das Gerät über Nacht einziehen.
Die Internetnutzung sollte zeitlich beschränkt werden; und die Eltern dürfen, ja müssen ihren Kindern dabei auch mal über die Schulter schauen, um zu erfahren, was sie im Internet tun und wie sie sich auf sozialen Plattformen darstellen.
Auch kleinere Kinder sind fasziniert von Computern und lieben es, damit zu spielen. Doch selbst kind- und altersgerechte Programme sind nur eine Ergänzung zu Erlebnissen in der realen Welt. Wirklich lernen können Kinder nur, wenn sie die Dinge mit allen Sinnen erfassen.
Eltern dürfen sich nicht vor den Kindern streiten.
Solange es sich nicht um Paarkonflikte handelt, können Kinder sogar aus den Auseinandersetzungen der Eltern lernen. Oft ist es sogar besser, wenn die Kleinen wissen, worüber Mutter und Vater sich ärgern, denn sie spüren wie Seismographen geringste Spannungen. Und es ist vor allem Nichtwissen, das sie verunsichert und stresst. Paarkonflikte hingegen sollten hinter verschlossenen Türen geklärt werden, ohne die Kinder zu involvieren.
Frühförderung macht Kinder klüger.
Englisch oder Chinesisch für Babys, zweisprachige Kinderkrippen, Musikstunden für die Allerkleinsten – Förderung, so scheint es, kann nicht früh genug beginnen, damit das Kind in der globalisierten Welt eine Chance hat. Doch wirkliche Förderung sieht in diesem Alter anders aus und findet vor allem über Beziehung statt: Am meisten lernen Kinder, wenn Eltern ihnen Geschichten erzählen, mit ihnen spielen und diskutieren, mit ihnen in den Wald oder in den Zoo gehen.
Für Kurse bleibt später noch genügend Zeit. Und ausserdem: Was immer die verschiedenen Angebote versprechen, halten können sie es kaum. Noch hat keine Studie wirklich bewiesen, dass Kinder, die solche Kurse besuchten, später klüger sind als diejenigen, die man bis zum Schuleintritt einfach Kind sein lässt.
Susy Signer-Fischer, 61, ist Kinder- und Jugendpsychologin. Sie arbeitet im Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitsdiagnostik der Universität Basel. Sie ist Mutter einer erwachsenen Tochter und zweifache Grossmutter.
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