Eines Morgens wird der Heimleiter halbtot in der Sauna gefunden, im wahrsten Sinne des Wortes weichgekocht. Für den Kommissar ist der Fall klar: Es waren die Jugendlichen. Allerdings hat er die Rechnung ohne Psychiater Paul Hepp gemacht, der seine Schützlinge wie eine Löwenmutter verteidigt. Dieser Psychiater in Frank Köhnleins Roman «Vollopfer» versteht von dem, was die Jugendlichen erzählen (wenn sie überhaupt reden), zwar oft nur Bahnhof, aber er glaubt unerschütterlich an das Gute in ihrem Charakter. Ist dieser Hepp ein Naivling?

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Gefühle, die kommen, wie sie kommen

«Bin ich naiv, wenn ich den Hepp an das Gute in diesen Jugendlichen glauben lasse?» Köhnlein sitzt in einem Therapiezimmer, plötzlich ungewöhnlich still, und grübelt. Der 46-jährige Kinder- und Jugendpsychiater an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel sieht aus wie ein Erwachsener, der den Jugendlichen, der er war, nie losgeworden ist. Nie loswerden wollte. Das beginnt beim Äusseren: Jeans, Schlabberpulli und ein schlanker Körper, dessen Teile – Arme, linkes Bein, Augenbrauen, Hände – ständig abwechselnd in Bewegung sind. Das setzt sich im Inneren fort: unverstellte Gefühle, die kommen, wie sie kommen, vor allem eine staunende Neugier für alles. Er schüttelt den Kopf. «Nein, Hepp und ich, wir sind nicht naiv.»

Das Aufsehenerregende an Köhnleins Roman ist die kompromisslose Zuneigung, die der Autor seinen Figuren entgegenbringt. Diese Zuneigung passt so gar nicht zur Empörung, mit der die Öffentlichkeit zum Beispiel über den Jugendstraftäter «Carlos» debattierte. Sie passt so gar nicht zu den Stimmen, die mehr Härte im Umgang mit straffälligen Jugendlichen fordern. Sie ist das Gegenteil davon. Im Grunde ist der Roman von Frank Köhnlein eine einzige, 190 Seiten lange Liebeserklärung an diese schwer erziehbaren, schwer gestörten, depressiven, aggressiven Outsider.

Köhnlein weiss, dass es das Böse im Menschen geben kann. «Wahrscheinlich würde ich anders reden, wenn ich in der forensischen Psychiatrie arbeitete, wo man es mit psychisch kranken Straftätern zu tun hat.» Aber selbst da, selbst bei straffällig gewordenen Jugendlichen, die Autos zerkratzt, Velopneus aufgeschlitzt oder Menschen verprügelt haben, sieht er nichts Böses. Da ist Köhnlein wie der Psychiater Paul Hepp aus seinem Roman, der sich lieber fragt, warum seine Schützlinge so handeln, wie sie handeln, statt sie vorschnell zu verurteilen.

Hepp fährt gern im Kreisverkehr, Runde um Runde dreht er manchmal, weil er sich nicht sofort für eine Ausfahrt entscheiden kann. Und weil er davon überzeugt ist, dass dieser unentschiedene, offene Zustand zum Leben dazugehört. «Wir Erwachsenen», sagt Köhnlein, «wollen immer schnell eine Lösung finden, wenn ein Jugendlicher Probleme macht. Wir sind nicht bereit, im Kreisverkehr mal mehrere Runden zu drehen.» Das hiesse, sich einzugestehen, dass man die Jugendlichen und ihr Tun nicht versteht und deshalb auch keine unmittelbare Antwort hat. Köhnlein nennt das Bescheidenheit. «Wir wissen es nicht besser als die Jugendlichen. Wir müssten viel öfter nachfragen: ‹Wozu hast du das gemacht? Was bringt es dir? Was willst du mir damit sagen?›»

Sich die Haut aufritzen ist eine Botschaft

Der Psychiater glaubt, dass jedes Symptom, jedes Problem eine Botschaft ist. Autos zerkratzen, Leute verprügeln, Glasscherben schlucken, Schule schwänzen – das sind Formen der Kommunikation, eine Art Geheimsprache, die entschlüsselt werden will. «Insgeheim hegt jeder dieser schwierigen und verhaltensgestörten Jugendlichen die Hoffnung, dass jemand da ist, ihn versteht und im besten Fall erlöst.»

Nachfragen, versuchen zu verstehen – das klingt so banal und eben auch naiv. Vielleicht passiert es darum so selten. Köhnlein erzählt die Geschichte einer 14-Jährigen, die sich die Haut mit Messern und Scherben aufritzte. Wochenlang legte sie ihre blutige Kleidung in den Wäschekorb. Die Mutter wusch die Wäsche, bügelte sie und legte sie wieder in den Schrank, ohne etwas zu sagen. Tag für Tag. Wollte sie es nicht wahrhaben? Hatte sie Angst?

Köhnlein erinnert sich an ein anderes Mädchen, das ständig die Schule schwänzte. Sie stand kurz vor dem Rauswurf. In der Therapie erzählte sie ihm: «Morgens liege ich im Bett, und ich weiss, dass ich rausmuss. Aber zehn Zentimeter über mir ist eine schwere Betonplatte. Sie drückt mich runter. Ich kann nichts dagegen tun. Ich versuche es doch!» Köhnlein erklärte den Lehrern in der Schule, das sei ein typisches Zeichen einer jugendlichen Depression. Das Mädchen durfte bleiben.

Was tun, wenn der Sohn Kinder schlägt?

Jedes Jahr nehmen sich in der Schweiz rund 100 Jugendliche das Leben, alle vier Tage einer. Und jedes Jahr, schätzen Experten, versuchen 5000 bis 20'000 Jugendliche, sich umzubringen. «Dahinter steckt eine grosse und offenbar nicht verstandene Not», sagt Köhnlein. «Wenn mein Buch eine Botschaft hat, dann die: Schaut hin, fragt nach!»

Für ihn sind die Jugendlichen im Buch wie auch seine Patienten wahre Helden. Es gelingt ihnen nämlich, trotz widrigsten Umständen zu überleben. «Ich weiss nicht, was ich gemacht hätte, wenn mich als Kind jemand wie ein Tier jahrelang im Keller eingesperrt hätte. Solche Dinge erleben meine Patienten.» Bei allem, was diese Jugendlichen tun, geht es immer ums Überleben, darum, irgendwie weiterzumachen. Im Roman nähen sie sich die Finger mit Nylonfaden zusammen, zertrümmern Möbel oder Geschirr, und Hepp, der Psychiater, hütet sich davor, sie deshalb zu verurteilen. Weil es das Bestmögliche ist, was sie in diesem Moment tun können. Besser zumindest, als sich selbst anzuzünden. Weil sie den Mut haben, weiterzuleben. Hepps – und Köhnleins – Sichtweise lässt die Rufe nach mehr Härte absurd erscheinen. Sie stellt vermeintliche Gewissheiten auf den Kopf, etwa die, dass es schlecht ist, sich selbst oder anderen Schaden zuzufügen.

«Schon, aber…» Diese zwei Worte sagt Köhnlein oft. Sie sind das Tor, durch das man in sein Universum gelangt. Und dort sitzt zum Beispiel ein Elternpaar, das verzweifelt, weil der Sohn aggressiv ist und andere Kinder verprügelt. Dort sitzt Köhnlein den Eltern gegenüber und macht ihnen Mut. «Natürlich ist das nicht in Ordnung. Aber es ist doch auch gut! Wenigstens richtet er die Gewalt nicht mehr nur gegen sich selbst», sagt er. Er erklärt ihnen, dass die Prügel Anlass zur Hoffnung sind.

Das klingt im ersten Moment fast sarkastisch. Aber es hilft den Eltern, ihren Sohn zu verstehen. Sie sehen nicht mehr nur seine Aggression, sondern auch seine Not. Sie spüren wieder die Liebe, die sie sich verboten hatten, als er begann, sich wie ein Monster zu verhalten. Härte baut Fronten auf. Köhnlein baut Fronten ab, weil er fürchtet, die Einsamkeit dahinter sei für die Jugendlichen nicht auszuhalten.

Zum Fall «Carlos» darf sich Köhnlein nicht äussern, so will es die Klinikleitung. Aber er äussert sich zu einer Studie, die sich unter anderem um Jugendliche wie «Carlos» dreht: Die Unis in Ulm und Basel haben in 64 Heimen der Schweiz über mehrere Jahre hinweg Kinder und Jugendliche untersucht. Rund ein Fünftel von ihnen, so das besorgniserregende Ergebnis, hat das Heim vorzeitig wieder verlassen. Es sind die besonders schwierigen Fälle, die jedes Betreuungsteam überfordern und von einer Institution zur nächsten weitergereicht werden. Muss man solche Jugendlichen aufgeben?

«Ich sehe, dass sie weitergekämpft hat»

«Auf keinen Fall!» Köhnlein ruft es fast. Bei jemandem, der noch nicht einmal 20 Jahre auf dieser Welt ist, würde er niemals die Hoffnung aufgeben. «Die Mehrzahl findet im Lauf der Jahre ihren Weg. Manche landen vielleicht im Knast, aber das ist doch nicht die Endstation. Die bleiben doch nicht für immer dort.» Er erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die als Jugendliche seine Patientin war. Er traf sie Jahre später zufällig auf der Strasse. Es ging ihr okay. Sie erzählte, sie habe nach Abschluss der Therapie mehrere Jahre als Prostituierte gearbeitet. Dass der Job ekelhaft gewesen sei. «Andere mögen darin nur einen Abstieg sehen. Ich nicht, ich sehe nur, dass sie weitergelebt und weitergekämpft hat.»

Köhnlein fragt plötzlich: «Wissen Sie, warum ich mich für die Kinder- und Jugendpsychiatrie entschieden habe?» Er antwortet sich selber: «Meine Patienten sind noch so jung, die stecken voller Energie, wollen etwas verändern. Da ist noch so viel möglich.»