Schon am Anfang machen die meisten Teilnehmer alles falsch: Vorstellen in der Runde tut man sich mit Vor- und Nachnamen und nicht nur mit «Meier, freut mich». «Das ist viel höflicher», sagt Kursleiterin Corinne Staub (Bild) bestimmt und schaut ihre sechs Schülerinnen und Schüler im Alter zwischen 20 und 40 streng an. Conny Meier, Mitarbeiterin bei einer grossen Unterhaltungselektronikfirma, lächelt entschuldigend und schaut leicht bedrückt auf die Tischkante. Muss sie nicht; sie ist ja hier, um Takt und Stil zu lernen.

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Adolph Freiherr von Knigge in seinem Buch «Über den Umgang mit Menschen»: «Enthülle nie auf unedle Art Schwächen Deiner Nebenmenschen, um Dich zu erheben! Ziehe nicht ihre Fehler und Verirrungen an das Tageslicht, um auf ihre Unkosten zu schimmern.»

Höflichkeit und Anstandsregeln mögen heute viele für überholt halten, aber moderne Knigges sind in: Die Nach-68-Generation ist verunsichert und will wieder lernen, wie man sich zu benehmen hat. In den letzten drei, vier Jahren sind mehr als 400 neue Ratgeberbücher auf dem deutschsprachigen Markt zum Thema Benimm und Manieren erschienen. Titel wie «Knigge 2000», «Ess-Knigge», «Erotik-Knigge», «Karriere-Knigge», «Kinder-Knigge» oder «Knigge für Hund und Halter» lassen keine Wünsche offen und bescheren den Verlagen gute Umsatzzahlen. Mit Adolph Freiherr von Knigges Benimm-Bestseller von 1788 haben diese Werke allerdings nicht mehr viel gemein. Rund die Hälfte der Bücher befasst sich ausschliesslich mit dem beruflichen Werdegang: Ohne gutes Benehmen, keine erfolgreiche Karriere, heisst die Schlussfolgerung.

Ähnlich argumentiert auch die 29-jährige Corinne Staub. Ihre Firma «One Imageberatung» hat sie vor einem knappen Jahr gegründet. Der Seminarraum liegt im noblen Zürcher Seefeldquartier. Im Parterre. Hell und modern. Dezent. Nichts stört. Ein weisser, quadratischer Tisch dominiert das hohe Zimmer; die geschwungenen Kunststoffstühle im Design der siebziger Jahre passen perfekt dazu. Die weissen Rollläden sind nur halb heruntergelassen; ab und zu schaut ein neugieriger Passant herein.

Schon über 1000 Personen hat Corinne Staub seit ihrer Firmengründung Manieren beigebracht. Da sind sechs weitere an diesem Abend kein Problem für sie. Carla Crivelli (Name geändert), in elegante Businesskleidung gehüllt, ist hier, weil sie das, was sie in Sachen Benehmen weiss, «bestätigt haben will».

Ihre Kollegin Monika Bäumler (Name geändert), wie Crivelli in der Pharmabranche tätig, macht den Kurs, um zu lernen, «wie man mit heiklen Themen umgeht. Tod und so.» Und Informatiker René Krayss, 37, will wissen, ob die Tischmanieren, die ihm seine Eltern beigebracht haben, heute noch gelten. Er schiebt die Ärmel seines karierten Holzfällerhemds hoch und schaut fragend in die Runde.

Adolph Freiherr von Knigge: «Strebe nach Vollkommenheit, aber nicht nach dem Scheine der Vollkommenheit und Unfehlbarkeit! Sei aber nicht gar zu sehr ein Sklave der Meinungen andrer von Dir! Sei selbständig! Was kümmert Dich am Ende das Urteil der ganzen Welt, wenn Du tust, was Du sollst?»

Nicht nur Bücher, auch Seminare für Umgangsformen boomen. Sogar die Volkshochschulen sind schon auf den Zug aufgesprungen. In Wettingen AG gab es letztes Jahr zum ersten Mal den Kurs «Knigge kommt zurück». Äusserst erfolgreich die Nachfrage war riesig. Und die Volkshochschule Bern bietet einen Takt- und Stilkurs an. Benimm ist wieder gefragt.

Vor allem Regeln: «Darf man bei einer Einladung zu spät kommen?» «Wen begrüsst man zuerst?» «Wie lange muss man an einem Apéro ausharren?» Corinne Staub, bebrillt und ganz geschäftsmässig im dunkelblauen Hosenanzug, weiss auf jede Frage eine Antwort. Beim Apéro bleibe man nicht länger als eine halbe Stunde. Das sei kein Ort, um sich den Bauch voll zu schlagen. «Vielmehr wird am Apéro gepflegter Small Talk geübt», erklärt sie.

Small Talk ist sowieso ein Thema für sich: Reden darf man über Wetter, Ferien, Hobbys, Kunst und Literatur; absolute Tabuthemen sind Politik, Militär, Geld, Krankheit und Tod. Komplimente kämen immer gut an, fügt die Kursleiterin an, «aber nur ernst gemeinte, keine Floskeln».

Ganz wichtig beim Apéro: Man kann kommen, wann man will, der beste Platz ist zwischen Eingang und Buffet, «und das Glas hält man immer in der linken Hand». Andrea Maggiulli, Projektleiter in einer Sanitärfirma, schaut sich um. Endlich traut er sich: «Warum?» Die Kursleiterin demonstrierts und hält ein Weinglas in die Höhe: Das Glas in der Linken wirke freundlicher, zudem habe man die rechte Hand frei für Begrüssungen. «Der Mensch schaut immer zuerst auf die linke Seite, deshalb trägt man auch Broschen oder die Blume im Knopfloch mit Vorteil links», erklärt Staub. Die Teilnehmer sind zufrieden, sie haben etwas Neues gelernt.

Adolph Freiherr von Knigge: «Gehe von niemand und lass niemand von Dir, ohne ihm etwas Lehrreiches oder etwas Verbindliches gesagt und mit auf den Weg gegeben zu haben; aber beides auf eine Art, die ihm wohl tue, seine Bescheidenheit nicht empöre und nicht studiert scheine.»

Benimmregeln? Wie ging das noch? Geflüster im Raum. Regeln für den Mann: aufstehen, wenn die Tischdame (rechts vom Mann) auf die Toilette muss, immer als Erster das Lokal betreten und die Autotür aufhalten. Für die Frau: sich in die Jacke helfen lassen, im Restaurant den Mann bezahlen lassen und beim Flirten nicht die Rolle der Eroberin übernehmen.

In den Seminarunterlagen «Der moderne Knigge» steht: «Ganz gleich, mit wem wir zusammenkommen und wie die äusseren Bedingungen sind, eines ist stets wichtig: Die jeweils passende Form muss gewahrt werden! Das hat nichts mit Zwang und Unterdrückung eigentlicher Gefühle und Bedürfnisse zu tun. Die Form zu wahren heisst, höflich zu sein, anderen entgegenzukommen und Regeln zu beachten, die das Leben leichter und respektvoller gestalten.»

So ist das. Besonderes Gewicht haben dabei die Tisch- und Essmanieren. Niemand hat schliesslich gern einen Tischnachbarn, der schmatzt, sabbert, mit vollem Mund redet oder das Messer durch den Mund zieht.

In die Gruppe kommt Bewegung: Die Teilnehmer müssen versuchen, den Tisch korrekt zu decken. Wo sollen die drei Gläser hin? Wo das viele Besteck? Es wird gelacht und getuschelt; Messer klimpern und Teller klappern. Corinne Staub erklärts: «Das Besteck zeigt, wie viele Gänge es gibt. Es wird von aussen nach innen gegessen, man nimmt also zuerst das äusserste Besteck.»

Heikler wirds beim Salat. «Den isst man nur mit der Gabel», mahnt Staub. «Wenn das schwierig wird, nimmt man Brot zur Hilfe.» Übrigens: Das Brötchen auf dem Brotteller schneidet man nicht, sondern man brichts! Die Gläser stehen vor dem jeweils richtigen Besteck: das Rotweinglas über dem Messer zum Hauptgang und nicht über dem zur Vorspeise. Das Dessertbesteck liegt über dem Teller, und zwar so, dass der Löffel nach rechts und die Gabel nach links gezogen werden kann.

Corinne Staub nimmt eine Gabel in die Hand: «Sie ist unser Hauptinstrument», erklärt sie. «Sie wird so zum Mund geführt, dass sie die waagrechte Linie nicht verlässt und leicht nach unten neigt.» Nicht vergessen: Einzelne Erbsen spiesst man nicht auf! Absolut verboten ist es auch, die Gabel in der geballten Faust zu halten.

Conny Meier streicht sich die langen Haare aus dem Gesicht, schaut von ihren Notizen auf und fragt: «Welche Speisen darf man von Hand essen?» Die prompte Antwort lautet: Poulet. Aber auch hier gilt: Mit Anstand. Will heissen: «Den Knochen nicht abnagen, wir sind ja schliesslich keine Hunde!»

Und weiter geht die Fragestunde: Wer weiss schon, dass man «Spaghetti nie mit dem Löffel isst», dass «Sauce nicht aufgetunkt werden darf» dafür gibts einen Gourmetlöffel oder dass «die Arme höchstens zu einem Drittel auf dem Tisch liegen dürfen»? Informatiker René Krayss weiss nun wenigstens, dass die Tischsitten, die ihm seine Eltern beigebracht haben, «heute weit gehend immer noch gelten».

Freiherr Adolph von Knigge: «Gegenwart des Geistes ist ein seltnes Geschenk des Himmels und macht, dass wir im Umgange in sehr vorteilhaftem Lichte erscheinen. Dieser Vorzug lässt sich freilich nicht durch Kunst erlangen; allein man kann an sich arbeiten, dass, wenn er uns fehlet, wir nicht durch Übereilung uns und andre in Verlegenheit setzen.»

An Freiherrr von Knigges (17521796) Studie «Über den Umgang mit Menschen» wird bis heute gutes Benehmen gemessen. Kursleiterin Staub hält ein Knigge-Porträt in die Höhe: «Sein scharfes Profil mit der spitzen Nase erinnert mich immer an König Drosselbart», sagt sie lächelnd. Knigge war ein Anhänger der Französischen Revolution, ein Aufklärer und Moralphilosoph. Ihm ging es nicht um die perfekte Etikette, er verfolgte das hehre Ziel der «sittlichen Vervollkommnung des Bürgers zum wahrhaft vorbildlichen Menschen».

Die Anstandslehrerin Corinne Staub ist da pragmatischer: «Früher ging man in die Tanzschule oder ins Militär und bekam dort Takt und Stil vermittelt. Heute besucht man halt Knigge-Seminare.» Der Name «Knigge» sei zum geflügelten Wort geworden, deshalb könne man ihn heute auch noch benutzen auch wenn damit vielleicht nicht ganz dasselbe verbunden wird, was der Freiherr wollte.

Staub setzt eine ernste Miene auf, denn nun gehts ums Thema Tod. Wie schreibt man einen korrekten Kondolenzbrief? Wie lange soll ein Kondolenzbesuch dauern? Monika Bäumler nestelt an ihrem geblümten Foulard und wartet gespannt auf die Antworten. Deshalb ist sie ja hier. Sie wird nicht enttäuscht. Staub rückt ihre helle Brille zurecht und beginnt zu dozieren. Erstens: mit Trauerfällen ganz natürlich umgehen, sich überlegen, was man empfindet. Zweitens: einen Kondolenzbrief sofort nach Erhalt der Todesanzeige verfassen immer handschriftlich. Vier bis sechs Sätze reichen. Kein Papier mit Trauerrand verwenden (schwarz gerändertes Papier wird nur von den Verwandten des Verstorbenen benutzt). Drittens: Ein Kondolenzbesuch ist kurz. Nie Schnittblumen mitbringen, da sie als etwas Abgeschnittenes an den Verlust des Verstorbenen erinnern könnten.

Bäumler hat sich alles gewissenhaft notiert und fragt unvermittelt in die besinnliche Stimmung hinein: «Müssen Damen an einer Hochzeit eigentlich Hüte tragen?» Ein abrupter Themenwechsel, alle schauen sich erstaunt an. Corinne Staub, ganz souverän, lässt sich jedoch nichts anmerken und antwortet freundlich: «Nein.»

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