Familienpolitik: Mit Kindern ist man arm dran
Die verfehlte Familienpolitik des Bundes macht Kinder zunehmend zum Armutsrisiko. Viele junge Paare verzichten deshalb lieber ganz auf Nachwuchs
Veröffentlicht am 29. Oktober 2002 - 00:00 Uhr
Für die Familie Stadelmann aus Amden SG ist der Alltag ein permanenter «Wettlauf mit dem Geld». Zoo- und Chilbi-Besuche sprengen das Budget, der Schwimmbadeintritt wird zur finanziellen Belastungsprobe. Selbst Bastelmaterial kann Claudia Stadelmann ihren Kindern nicht wahllos kaufen. Und die Skianzüge für die Kleinen besorgt sie im Secondhandladen.
Obwohl die Stadelmanns strikt sparen müssen, geht es ihnen vergleichsweise gut: Sie wohnen in einem geräumigen Haus mit Blick auf den Walensee.
Alarmierende Ausmasse
Anderen Familien fehlt es am Nötigsten. «Kinder sind zu einem Armutsrisiko geworden», sagt Jürg Krummenacher, Präsident der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen (EKFF).
Viele Betroffene beschönigen ihre finanzielle Situation und schweigen sich aus Scham über ihre Probleme aus. Die Zahlen sprechen eine umso deutlichere Sprache: In einer neuen Studie des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements werden 86000 Haushalte zur Kategorie der Working Poor gezählt. Darunter verstehen die Experten Menschen mit vollem Arbeitspensum, deren Lohn aber nicht zur Befriedigung der Grundbedürfnisse ausreicht. 284000 Personen sind von diesem Schicksal betroffen; zwei Drittel davon leben in Haushalten mit Kindern.
Entsprechend alarmierend sind die Angaben zum Ausmass der Familienarmut: Rund 120000 Kinder wachsen in mittellosen Verhältnissen auf; jedes dritte Sozialhilfedossier betrifft ein Kind oder einen Jugendlichen unter 18 Jahren. Für die Winterthurer SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr ist dies «eine Bankrotterklärung für eine zivilisatorisch aufgeschlossene Gesellschaft» und ein «Armutszeugnis für die reiche Schweiz».
Eltern wie die Stadelmanns kämpfen nicht nur mit dem knappen Haushaltsbudget. Zu schaffen macht ihnen auch der sinkende gesellschaftliche Stellenwert der Familie. «Wie kann man in der heutigen Zeit noch vier Kinder auf die Welt stellen.» Solche Bemerkungen hinter vorgehaltener Hand bekommt die 34-jährige Mutter immer wieder zu hören.
«Man muss einstecken lernen», sagt sie und strahlt eine Gelassenheit aus, als könne sie nichts aus der Ruhe bringen. Diesen Gleichmut kann sie gut brauchen, denn neben ihren eigenen vier Kindern im Alter von fünf bis zwölf Jahren betreut Claudia Stadelmann noch vier Pflegekinder. «Ich bin Mutter von ganzem Herzen.»
Familien in der Armutsfalle
Die überzeugte Familienfrau Claudia Stadelmann gehört zu einer immer kleiner werdenden Minderheit in der Schweiz. Rund drei Viertel aller Frauen mit einem oder mehreren Kindern sind heute erwerbstätig. 30 Prozent der Paare richten sich ein Leben ohne Nachwuchs ein. Und Frauen, die sich mit dem Kinderwunsch tragen, lassen sich mit der Familiengründung durchschnittlich bis zu ihrem 30. Lebensjahr Zeit. In keinem anderen Land Europas gebären Frauen so spät.
Dass sich immer weniger Frauen für die Erziehungsarbeit entscheiden, kommt nicht von ungefähr: Waren früher die Betagten von der Armutsfalle bedroht, müssen sich heutzutage immer mehr junge Familien unter dem Existenzminimum durchs Leben schlagen.
Um ihnen den Alltag zu erleichtern, bräuchte es wenig. «Schon mit einer Kinderrente hätten wir es einfacher», sagt Claudia Stadelmann. Aus diesem Grund engagiert sie sich bei der Interessengemeinschaft Familie 3plus, die noch diesen Herbst eine Volksinitiative «für die Familie» lanciert. Gefordert wird eine einheitliche Kinderzulage von 250 Franken.
Der Ruf nach staatlicher Familienunterstützung ist nicht neu. Bereits 1991 machte sich die damalige SP-Nationalrätin Angeline Fankhauser für eine einheitliche Kinderzulage stark ohne Erfolg. Nach jahrzehntelangem Hickhack stehen die Zeichen für eine aktive Familienförderung heute jedoch besser denn je.
Einen familienpolitischen Erfolg verbuchen konnte etwa Jacqueline Fehr, Organisationsberaterin und Mutter von zwei Kindern. Ihre Initiative zur Schaffung von familienergänzenden Betreuungsplätzen in Krippen, Horten und Tagesschulen wurde vom Parlament gutgeheissen: Im Rahmen eines auf acht Jahre angelegten Impulsprogramms stellt der Bund ab Februar 2003 jährlich 50 Millionen Franken für professionell begleitete Projekte bereit. Ein überfälliger Schritt: Hierzulande fehlen 200000 Krippenplätze für Kinder von berufstätigen Müttern.
Positive Signalwirkung
Engagierte Politikerinnen und Politiker sowie Familienorganisationen erhoffen sich vom Ja zum Impulsprogramm eine positive Signalwirkung. «Es ist heute schwieriger, die Probleme zu negieren», sagt Jacqueline Fehr. Beim Thema Krippenplätze habe sich die Mehrheit des Parlaments zumindest grundsätzlich mit einer flexiblen Familienform anfreunden können. Vor drei Jahren, etwa bei der Diskussion über die Einführung der Mutterschaftsversicherung, sei noch ein traditionelles Familienbild in den Köpfen der Männer zementiert gewesen.
Mit ihrer Nationalratskollegin Lucrezia Meier-Schatz (CVP) hat Fehr schon das nächste familienpolitische Paket geschnürt: einheitliche Ergänzungsleistungen für einkommensschwache Familien. Als Vorbild dient das so genannte Tessiner Modell, das die Familienarmut im Südkanton seit 1997 erfolgreich bekämpft (siehe «Familienförderung» und Interview mit Patrizia Pesenti auf Seite 32). Der Familienpolitik auf die Sprünge helfen will auch die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen. Mit den vier grossen sozial- und familienpolitischen Organisationen Pro Familia, Pro Juventute, Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe und Städteinitiative Ja zur sozialen Sicherung hat die EKFF das Positionspapier «Perspektive Familienpolitik» erstellt, das den akuten Handlungsbedarf illustriert und konkrete Forderungen stellt.
Die sozialpolitische Gesamtschau stützt sich auf eine Studie von Tobias Bauer und Elisa Streuli vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (Bass), in der erstmals die Folgen des heutigen Systems des Familienlasten- und -leistungsausgleichs sowie die Wirkungen von Alternativszenarien untersucht werden.
Bestehendes System erweitern
Fazit der Analyse: Zur Entlastung der Familien muss am System der Steuerabzüge und Familienzulagen festgehalten werden. Zudem fordern die fünf Organisationen für alle Kinder eine einheitliche eidgenössische Kinderzulage von mindestens 200 Franken; als Ausbildungszulage sind 250 Franken vorgesehen. Bei der jetzigen Regelung geht fast jedes fünfte Kind leer aus.
Zudem soll in der ganzen Schweiz das Tessiner Modell zum Tragen kommen, das neben den Kinderzulagen gesetzliche Ergänzungsleistungen für bedürftige Familien vorsieht. Laut Bass-Studie könnte so die Armutsquote bei den Familien auf rund die Hälfte reduziert werden.
Zu einer radikalen Schlussfolgerung kommt eine soeben veröffentlichte Nationalfondsstudie der Universität Freiburg. Das heutige System der Familienunterstützung mit rund 50 Anlaufstellen sei ein «wahrer Hindernislauf», schreibt die Forschergruppe um den Ökonomen Bernard Dafflon. Sie fordert eine einheitliche Zulageordnung auf Bundesebene sowie eine Grundentschädigung nach dem Motto: «Ein Kind = eine Zulage».
«Unbewusster Gebärstreik»
Für Lucrezia Meier-Schatz hat die materielle Sicherheit für Familien oberste Priorität. «Nur in einer finanziell abgesicherten Familie kann jedes Mitglied sein Entwicklungspotenzial zur Geltung bringen.»
Die Generalsekretärin von Pro Familia und Mutter von zwei Söhnen plädiert für eine partnerschaftliche Familienform und für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf «als Wahlfreiheit». Mit Krippen- und Betreuungsplätzen müsse auch die Wirtschaft bessere Rahmenbedingungen für erwerbstätige Eltern schaffen. Bis jetzt liegt für nur gerade acht Prozent aller Kinder bis 14 Jahre ein geeignetes familienergänzendes Betreuungsangebot vor. In Sachen Familienpolitik, so Meier-Schatz, stehe die Schweiz im Vergleich zu den Nachbarstaaten als «Entwicklungsland» da.
Dass zwischen tiefer Geburtenrate und kinder- und familienfeindlichen Strukturen ein Zusammenhang besteht, ist nicht mehr von der Hand zu weisen (siehe «Ländervergleich» auf Seite 25). In der Schweiz sinkt die Geburtenrate kontinuierlich, in Ländern mit professionellem Betreuungsnetz und finanzieller Unterstützung zieht sie langsam wieder an. In der Schweiz werden 1,5 Kinder pro Frau im gebärfähigen Alter geboren um die Bevölkerung stabil zu halten, wären 2,1 Kinder nötig.
«Die Zahlen könnten auf einen unbewussten Gebärstreik hindeuten», sagt Bass-Mitbegründer und -Projektleiter Tobias Bauer. Allein schon die äusseren Lebensbedingungen wie Wohnverhältnisse oder Verkehrskonzepte böten in der Schweiz nur wenig Anreiz zum Gebären, stellt Bauer fest.
Tauwetter kündigt sich immerhin im jahrzehntelangen Kampf um den Mutterschaftsurlaub an. In der Dezembersession könnte die parlamentarische Initiative von FDP-Nationalrat und Gewerbeverbandsdirektor Pierre Triponez die letzte Hürde nehmen ein sozialpolitischer Meilenstein: Nach wie vor ist die Schweiz das einzige Land Westeuropas ohne gesetzlich geregelte Mutterschaftsversicherung. Triponez Vorlage sieht einen 14-wöchigen bezahlten Mutterschaftsurlaub für alle erwerbstätigen Mütter vor.
«Ich wünsche mir, dass dies das Jahrzehnt der Familie wird», sagt Jacqueline Fehr. Familienarmut untergrabe auch die Chancengleichheit. Kinder aus armen Familien könnten ihr schulisches Defizit nur schwer kompensieren, was ihre beruflichen Perspektiven begrenze. Damit ist das Grundrecht der Uno-Kinderrechtskonvention in Gefahr, das jedem Kind ein sorgloses Aufwachsen in Würde garantiert. Fehr stammt selbst aus einer Familie, die mit Armut kämpfte. Dank ihrer Mutter konnte sie die Matura absolvieren und studieren. «Ich hatte Glück», sagt die SP-Politikerin. Die Zukunft der Kinder dürfe aber nicht von Glück abhängen.
Jürg Krummenacher fordert von den Politikerinnen und Politikern endlich mehr Taten statt Worte. Wenn die Kandidatinnen und Kandidaten vor den Wahlen den Begriff Familienpolitik in den Mund nähmen, «hört sich das an wie eine Sonntagspredigt», kritisiert der EKFF-Präsident. «Die Tatsache, dass wir kein Familienministerium haben, zeugt vom geringen Stellenwert der Familienpolitik.» Jacqueline Fehr ist überzeugt, dass sich das bald ändern wird und sich in absehbarer Zeit die Frage nach einem Familienministerium geradezu aufdränge: «Wenn ein Bundesamt für Sport existiert, muss es auch ein Familienministerium geben.»
Mitarbeit: Ursula Gabathuler, Birthe Homann, Urs Zanoni