Das schiefe Bild von der Familie
Die heute gelebten Familienmodelle sind äusserst vielfältig. Doch ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Früher war das auch nicht anders - unser Idealbild von Familie ist voller Mythen.
Veröffentlicht am 25. April 2008 - 15:51 Uhr
Die Familie ist nicht mehr, was sie einmal war»: So lautet das Maximum an gemeinsamem Nenner, wenn im Bundeshaus, am Fernsehen, im Wohnzimmer über «die heutige Familie» gesprochen wird. Nichts scheint mehr verbindlich, dafür alles möglich. Dies entspricht auch dem Ergebnis des ersten Beobachter-Familienmonitors, bei dem 1000 Männer und Frauen in der Schweiz zum Thema «Familie» befragt wurden (siehe Artikel zum Thema): Die Menschen hierzulande wählen heute ganz unterschiedliche Modelle des Zusammenlebens. Mit dieser Entwicklung tun sich viele schwer - insbesondere jene, die der Einernährerfamilie nachtrauern. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt allerdings: Dieses Ideal der «bürgerlichen Familie» ist voller Mythen.
Mythos 1: Die jungfräuliche Braut
Früher wäre es nicht vorgekommen, dass eine Braut hochschwanger oder bereits Mutter ist, wenn sie ihr Jawort gibt? Von wegen - am Ende des 18. Jahrhunderts erreichten die vorehelichen Geburten einen Höchststand: «Im bernischen Thurnen machten sie 48 Prozent aller Erstgeburten aus», schreibt Beatrix Mesmer, Professorin für Schweizer Geschichte, in «Familien in der Schweiz», einer Publikation der Universität Freiburg. Aus heutiger Perspektive mag man daraus schliessen, dass die jungen Menschen damals von ihren Eltern nicht ausreichend über die Konsequenzen der Liebesfreuden in Kenntnis gesetzt worden waren. Doch offenbar war es völlig normal, ja sogar Brauchtum, schwanger vor den Altar zu treten: «In den Augen der ländlichen Bevölkerung war nicht die rechtsgültige kirchliche Trauung, sondern das durch Pfand besiegelte Eheversprechen der Anfang einer ehelichen Gemeinschaft. Kam es zu einer Schwangerschaft, so war das die Bestätigung, dass der Zweck der Verbindung - die Zeugung erbberechtigter Nachkommen - erreicht werden konnte», so Mesmer.
Mythos 2: Freie Partnerwahl
Liebesehe? Schön wärs. Die Wahl des Partners war bis übers 18. Jahrhundert hinaus keine Frage der Liebe. In den oberen Schichten wurde vielmehr darauf geachtet, dass standesgemäss geheiratet wurde. Und auch in den Unterschichten spielte das Geld eine Rolle. Dass Ehepaare der Gemeinschaft nicht zur Last fielen, dafür sorgten die Gemeinden: «Abgesehen davon, dass konfessionelle Mischehen untersagt waren, wurden von auswärtigen Bräuten hohe Einzugsgebühren erhoben und Unbemittelten die Trauung verwehrt. Noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in einzelnen Kantonen die Eheschliessung vom Nachweis eines genügenden Einkommens abhängig gemacht», erklärt Historikerin Mesmer.
Von der «romantischen Liebe» schwärmten damals erst die Dichter und Literaten. Das neue Ideal von gefühlsmässiger Zuneigung und sexueller Leidenschaft - für ein und dieselbe Person -, vom Paar, das dauerhaft zusammen ist, verbreitete sich zuerst in den Städten und erst viel später auch auf dem Land, wie der Soziologe Rüdiger Peuckert in «Familienformen im sozialen Wandel» schildert. Auch die Vorstellung, dass die Frau immer schon für den Haushalt und die Erziehung der Kinder verantwortlich war, ist falsch.
Mythos 3: Der Vater bringt das Geld nach Hause
Schöne heile Welt: Der Ernährer-Vater geht auswärts arbeiten, zu Hause kümmert sich die liebende Mutter um das Wohl der Kinder. So die Vorstellung. Doch die ökonomischen Bedingungen liessen ein solches Modell gar nicht zu. Zwar forderten die durch die Industrialisierung stattfindenden wirtschaftlichen Umwälzungen und damit die Veränderungen der Arbeitswelt auch von den Arbeiterfamilien eine völlig neue Organisation der Familie, aber von Idyll konnte keine Rede sein: Um die Existenz der Familie zu sichern, mussten Frauen entweder Heimarbeit verrichten oder ebenso in den Fabriken arbeiten - bis zu 14 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche.
Mythos 4: Die Kinder werden ausschliesslich von der Mutter erzogen
Wie stark die innerfamiliären Bindungen den Lebens- und Erziehungsstil beeinflussen konnten, hing immer von den Einkommens- und Wohnbedingungen ab. Bei den Ärmsten, den Tagelöhnern und Kleinbauern, gab es noch im 18. Jahrhundert für die Kinder in der elterlichen Wirtschaft nicht viel zu tun - darum mussten sie anderswo ihren Lebensunterhalt selber verdienen. Auswertungen der Gemeinde Langnau BE zeigen: 11 Prozent der Kinder unter 15 Jahren waren in fremden Haushalten untergebracht.
Bei den Arbeiterfamilien des 19. Jahrhunderts konnten Mütter, die in Fabriken arbeiteten, wegen der kurzen Mittagspausen nicht nach Hause eilen und ein Essen zubereiten. Manche Kinder wurden fremdbetreut, etwa in Kinderbewahranstalten, andere waren sich selbst überlassen. In den bürgerlichen Mittel- und Oberschichten wiederum wurden häufig Dienstboten oder Ammen mit der Kinderbetreuung betraut. Weil damals die Kindersterblichkeit hoch war, wurden «nicht allzu viele Gefühle an Kleinkinder verschwendet», schreibt Beatrix Mesmer.
Mythos 5: Heiratet früh - und mehret euch fleissig
Bei den Männern lag das Durchschnittsalter bei der Erstheirat im 18. Jahrhundert bei 28 Jahren, die Frauen waren im Mittel 26 Jahre alt. Beatrix Mesmer erklärt das so: «Die meisten Paare mussten einen Erbfall abwarten oder die Mittel für einen eigenen Haushalt zusammensparen. Dass Frauen im Allgemeinen erst nach der Mitte ihres dritten Lebensjahrzehnts heirateten, hatte aber auch die durchaus erwünschte Folge, die Geburtenrate zu senken.» So fand man aufgrund der Auswertung von Kirchenbüchern heraus, dass pro Ehe fünf bis sechs Kinder zur Welt kamen - davon überlebten im Schnitt aber nur zwei bis drei, weil in der damaligen Zeit sowohl die Kinder- als auch die Jugendsterblichkeit hoch war.
Interessanterweise gab es grosse regionale Unterschiede: In der Ostschweiz wurden mehr Kinder geboren als in der Romandie, und auch die Städter waren nicht gerade besonders grossfamilienfreundlich. Laut Mesmer spielte dabei eine bewusste Familienplanung mit: Auswertungen der Gemeinden Vallorbe, Langnau, Luzern und Genf belegen, so die Historikerin, dass seit Mitte des 18. Jahrhunderts gezielte Empfängnisverhütung betrieben wurde - in den gehobenen Schichten sogar schon früher. «Die Begrenzung der Nachkommenschaft zielte darauf ab, Besitz und Status der Familie über die Generationen weg zu erhalten.»
Mythos 6: Im Haushalt leben drei Generationen zusammen
Die Lebenserwartung war noch bis Ende des 19. Jahrhunderts so gering, dass nur wenige älter als 60 wurden. Weil zugleich erst spät geheiratet und Nachwuchs gezeugt wurde, lernten Kinder nur selten ihre Grosseltern kennen. Auch in der ständischen Gesellschaft, die dem Bürgertum vorausging, war der Unterhalt von nicht mehr arbeitsfähigen Alten insbesondere in den unteren Schichten nur schon aus wirtschaftlichen Gründen kaum möglich. In den Familien mussten bereits die Knechte und Kinder mit Essen versorgt werden, man war deshalb mehr eine Art arbeitende Wohngemeinschaft, geleitet vom Oberhaupt, dem Hausherrn.
Mythos 7: «Familie» gab es schon immer
Der Begriff «Familie» ist eine Neuschöpfung: Er wurde erst im Laufe des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebrauch heimisch. Zuvor stand das lateinische «familia» für das Modell der erweiterten Hausgemeinschaft, bei den Oberschichten ebenso wie in den Bauern- und Handwerkerständen («ganzes Haus»). «Familia» meinte nicht «Verwandtschaft», sondern «Herrschaft» - die Gruppe von Blutsverwandten und Angestellten (oder Sklaven), die in einem Haus dem männlichen Oberhaupt unterstellt waren.
Heute ist vieles «Familie». In Lexika steht beispielsweise «eine Gruppe von miteinander verwandten Menschen», wahlweise «lebenslang», «generationenübergreifend», «ein Ort der Zugehörigkeit». Gemäss Tarmed, dem Tarif der medizinischen Leistungen, heisst Familie schlicht «drei oder mehr verwandte Personen». Pro Familia, der Dachverband der Familienorganisationen, hat sich eingehender mit der Definition befasst und «die Familie» 1994 in einer Charta als «offene Gemeinschaft, in welcher mindestens zwei Generationen sich füreinander einsetzen», definiert.
Auch die Personen, die im Rahmen des Beobachter-Familienmonitors befragt wurden, was für sie Familie sei, nannten am häufigsten Eltern, Geschwister, Partner, eigene Kinder. Doch an nächster Stelle wurde nicht die weitere Verwandtschaft genannt, sondern die Freunde.
Das ist eigentlich nicht überraschend. Mit den seltener werdenden klassischen Familienmodellen haben die Beziehungen zu Freunden an Bedeutung gewonnen, insbesondere seit den achtziger Jahren, wie Rüdiger Peuckert sagt. Am sichtbarsten seien die haushaltsübergreifenden Hilfebeziehungen bei Frauen und Arbeitern, und ihre Qualität sei hoch: «Die Hilfeleistungen beziehen sich nicht nur auf gelegentliche praktische Hilfen. Gerade die gegenseitige Unterstützung bei persönlichen Problemen (mit Ausnahme der Betreuung von Kranken und Behinderten) wurde intensiviert. Gemeinschaftsbildung ist immer mehr zu einer individuell zu erbringenden Leistung geworden.» Diese verbindlichen Freundschaftsbeziehungen, auch solche auf Zeit, sind eine neue Form der Zugehörigkeit. So führt das Auseinanderbrechen der bürgerlichen Familie als dominierendes Modell nicht zu einer Masse von sozial isolierten Menschen. In Zeiten, da aus der lebenslangen Monogamie die serielle geworden ist - die Partnerbeziehung auf Zeit, der eine nächste Beziehung folgt -, gewinnen lang andauernde Freundschaften an Bedeutung.
Wer heute vom «Tod der Familie», von Krise und Zerfall spricht, verkennt die Tatsache, dass die bürgerliche Familie als Ideal gerade mal während zweier Jahrzehnte das dominierende Familienmodell war. Zwar wurde diese Form des idealisierten Zusammenlebens schon seit Ende des 18. Jahrhunderts angestrebt, durch die schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse und die Kriege war es aber erst die Generation Wirtschaftswunder in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die es tatsächlich leben konnte. Jeder Erwachsene durfte heiraten, ja er war, um den gesellschaftlichen Normen zu genügen, geradezu dazu verpflichtet: Neun von zehn deutschen Männern hielten die Institution Ehe zu Beginn der sechziger Jahre «grundsätzlich für notwendig». Aber als gesellschaftlich stabil erwies sich dieses Modell nicht: Bereits Anfang der siebziger Jahre hatte es seinen Zenit überschritten. Was wir seither mit den vielen neuen Formen von «Familie» erleben, ist nicht ihr Zerfall, sondern - in den Worten des Soziologen Trutz von Trotha - die «Wiederkehr der Vielfalt».