Haustiere: Kriechende und krabbelnde Hausgenossen
Sie stecken ihr Vermögen und die ganze Freizeit in ihr Hobby. Sie kennen sich in ihrem Gebiet besser aus als viele Biologen. Und sie kämpfen gegen Vorurteile: Menschen, die ihr Herz an exotische Haustiere verloren haben.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Andere halten Katzen, er hält Spinnen. «Spinnen», sagt Thomas Märklin, «sind ganz normale Haustiere.» Und wie normale Haustiere haben die Spinnen in seiner Wohnung in Amriswil TG auch ihr Plätzchen bekommen. Ein ganzes Zimmer ist ihnen zugeteilt, darin reiht sich ein Terrarium ans andere. 150 Vogelspinnen wohnen unter seinem Dach, schätzt der 24-jährige Heizungstechniker. Das geht noch, denn er hat abgebaut. «Früher waren es gegen 300 Spinnen, und das war dann doch ziemlich zeitraubend.» Alles begann vor drei Jahren. «Cool», dachte sich Märklin damals, «eine Vogelspinne, die hat nicht jeder.» Und kaum krabbelte ein solches Tier bei ihm im Terrarium, packte ihn die Leidenschaft: Eine war nicht mehr genug, weitere mussten her. Bald war Märklin regelrecht süchtig geworden nach den haarigen Achtbeinern. Statt wie einst auf dem Fussballfeld traf man ihn sonntags auf Spinnenbörsen, häufig auch in Deutschland.
Von da brachte er jeweils ein neues Schmuckstück für seine Sammlung mit. Die Kontakte mit Spinnenfreunden im In- und Ausland bescherten ihm gesalzene Telefonrechnungen, aber auch viel neues Wissen, so dass ihm bald Nachzuchten von schwierig zu haltenden Arten gelangen.
Drei, vier Stunden wöchentlich braucht er für die «Wartung» seiner Spinnen: Wasser wechseln, ab und zu Scheiben reinigen, füttern. Das alles ist fast so harmlos wie bei einem Wellensittich. Denn Vogelspinnen sind keine Gift speienden Ungeheuer. Ihnen genügt einmal pro Woche eine Hand voll Grillen. Die packen sie mit ihren imposanten Klauen, den so genannten Chelizeren, töten sie mit einer Giftinjektion und verflüssigen sie mit einem Sekret, um sie dann einzusaugen.
Ihr Gift reicht aus, um einer Maus den Garaus zu machen, ist aber für Menschen ungefährlich. Zudem sind die wenigsten Vogelspinnen aggressiv. Die meisten sitzen tagsüber ruhig in ihrem Versteck und warten auf die Dunkelheit. Nachts werden die Tierchen erst richtig munter. Dann nimmt Thomas Märklin die Taschenlampe, um ihr Treiben zu verfolgen. «Das Grösste wäre, wenn ich nicht mehr arbeiten müsste und mich nur noch mit den Spinnen beschäftigen könnte.» Für Alice Huwiler aus Wettswil ZH wurde dies Realität – allerdings nicht ganz freiwillig. Ein Unfall vor fünf Jahren hatte das Leben der 42-jährigen Abteilungsleiterin völlig verändert. Ihr Beruf, das Tanzen, das Motorradfahren: All das war auf einen Schlag nicht mehr möglich. Die angeschlagene Gesundheit fesselte sie ans Haus.
Nach diesem brutalen Einschnitt begann sie, die Dinge in ihrer Nähe genauer wahrzunehmen. Sie, die vorher ständig in Bewegung war, entwickelte plötzlich ein Auge für die Natur, den Horizont, die Wolken. So kam es, dass sie eines Tages am Fenster eine Kreuzspinne entdeckte, die sie den ganzen Sommer lang beobachtete.
«Dabei hatte ich damals eine Spinnenphobie», sagt Alice Huwiler. Eine Spinne an der Schlafzimmerdecke konnte sie um den Schlaf bringen. Doch die Kreuzspinne am Stubenfenster fand sie so faszinierend, dass sich ihre Furcht vor Spinnen legte.
Anderthalb Jahre nach dem Unfall kaufte sie sich ihre erste Vogelspinne, eine Brachypelma emilia. Heute besitzt sie 45 Arten, von denen sie einige nachzüchtet. Und zwar sehr erfolgreich: Mittlerweile gehört Alice Huwiler zu den Kapazitäten unter den Spinnenhaltern, von denen mehrere hundert im Verein Arachnida zusammengeschlossen sind.
Wohin man im Wohnzimmer blickt: Uberall stehen Terrarien. Grosse, kleine, hohe, rechteckige. Irgendwo zwischendrin ganz zufällig ein Fernsehapparat. Doch den schaltet Alice Huwiler nur selten ein. «Die Spinnen», lacht sie, «sind spannender.»
Spinnenpflege braucht viel Geduld
Alles an den Spinnen fasziniert sie: das Verhalten, die elegante Fortbewegungsart, die Farben und die Formen. «Es ist beruhigend, den Spinnen zuzuschauen. Man braucht allerdings viel Zeit und Geduld.» Setzt sie etwa ein paarungsbereites Männchen zu einem Weibchen, kann es Stunden dauern, bis es zwischen den beiden funkt. Stunden, in denen Alice Huwiler vor dem Terrarium sitzt, damit sie ihr Spinnenmännchen nach getaner Arbeit schnell entfernen kann. Denn nach der Kopulation könnte das Weibchen Appetit auf den Spinnenmann entwickeln.
Die Frucht der erfolgreichen Paarungen wächst im Nebenzimmer heran: In vielen Schachteln krabbeln Hunderte von Spinnenbabys – zarte, fast durchsichtige Winzlinge, die im Verlauf der Monate zu stattlichen Spinnen heranwachsen. Eine Vogelspinne ist ein Freund fürs Leben, jedenfalls wenn sie weiblichen Geschlechts ist. Dann kann sie locker zwanzig Jahre alt werden. Die Männchen hingegen sterben nach vier, fünf Jahren.
Mit akribischer Genauigkeit notiert Alice Huwiler Zeit und Besonderheiten von Vorkommnissen wie Häutung, Paarung, Kokonbau oder Brutpflege. «Jede Spinne ist ein Individuum», sagt sie. Sie kennt ihre Tiere und deren Eigenheiten, weil sie fast die ganze Zeit mit ihnen verbringt – mehr Zeit, als «richtige» Wissenschaftler es je könnten. Kein Wunder, führten ihre Beobachtungen zu Ergebnissen, die in der Fachliteratur nicht erwähnt sind.
Jede Woche bringt die Post eine gut verschlossene Kartonröhre. Eine Expresssendung von der Grillenfarm. Darin krabbeln einige hundert Heimchen. Sie werden in einem Plastikbehälter in der Küche zwischengelagert: Spinnenfutter. Auch im Badezimmer wird man an Spinnen erinnert: Das Muster auf dem WC-Deckel-Uberzug stellt ein Spinnennetz dar. «Spinnen sind das Wichtigste in meinem Leben – dann kommt lange nichts mehr.»
Mit Unverständnis oder bestenfalls mit Gleichgültigkeit reagiert das Umfeld auf die Leidenschaft der Arachnophilen. Wer Spinnen liebt, mit dem kann doch etwas nicht stimmen – so die landläufige Meinung. Viele Spinnenfreunde haben Angst, in eine falsche Ecke gedrängt zu werden. «Bitte schreiben Sie nichts Reisserisches», sagt Alice Huwiler, «bitte keine Vorurteile zementieren.» Misstrauen auch bei Schlangenhalter Henri Kratzer. «Sie werden hoffentlich seriös berichten. Die Presse hat zu oft aus purer Sensationsgier unser Hobby falsch dargestellt», sagt er bissig. Schlangen eignen sich natürlich besonders gut für spektakuläre Berichte. Nicht nur das ärgert Kratzer, auch die Diskriminierung von Schlangenhaltern im Alltag gibt ihm zu denken. Schon manchem, der zu Hause Schlangen hielt, wurde aus diesem Grund die Wohnung gekündigt. Deshalb üben viele ihr Hobby im Versteckten aus – hinter geschlossenen Fensterläden, in steter Furcht vor den Nachbarn.
Prahler bringen die Szene in Verruf
Natürlich gibt es auch unter den Schlangenhaltern schwarze Schafe, die ihren zweifelhaften Ruf selber verschulden – das verschweigt Kratzer nicht. Manch einer hält eine Schlange, um sich an der Hühnerhaut des Publikums zu ergötzen oder um mit ihrer Gefährlichkeit zu prahlen.
Schlangenliebhaber wie Henri Kratzer aber möchten nur eines: dass die Menschen ihre Angst vor den Tieren verlieren. «Mit den nötigen Sicherheitsmassnahmen kann nichts passieren.» Kratzer hält seine Schlangen seit mehr als dreissig Jahren im Keller eines Mehrfamilienhauses in Zürich-Schwamendingen. Es kam noch nie zu einem Zwischenfall. Die Fenster sind mit feinem Drahtgitter verkleidet, die Terrarien abgeschlossen. Und Totenkopfkleber auf den Terrariumscheiben warnen Unkundige vor den Giftschlangen.
Sein letzter Schlangenbiss liege zwanzig Jahre zurück, erinnert sich Henri Kratzer. Früher, als seine Erfahrung noch nicht so gross war und der Leichtsinn ab und zu über die Vorsicht siegte, kam es schon mal zu Bissen. Er spricht nicht gern darüber, denn, so sagt er heute kategorisch, «bei einer seriösen Schlangenhaltung wird man nicht gebissen». Die Bisse hat er gut überstanden: «Ich hatte Glück», sagt Kratzer trocken. Für den Fall der Fälle bewahrt er einige Gegengifte im Schrank auf.
Wer Henri Kratzers Vivarium betritt, kommt in eine andere Welt. Wir befinden uns in den Tropen: Die Luft ist schwülfeucht, die Raumtemperatur beträgt 27 Grad, im Sommer wie im Winter.
Die beleuchteten Terrarien sind kleine Biotope, wunderschön hergerichtet mit Pflanzen, Ästen und Bodengrund – so als hätten wir einen Ausschnitt aus dem madagassischen Regenwald vor uns, einen Teil des südamerikanischen Nebelwaldes oder einen Quadratmeter Saharaboden.
Insgesamt 189 Schlangen sind zurzeit hier zu Hause. Darunter befinden sich viele Jungtiere. Zwanzig ungiftige und zwölf giftige Arten sind vertreten, auch viele aussergewöhnliche und seltene.
Die Grüne Mamba ist die giftigste und eine der schönsten Schlangen in Kratzers Vivarium: Zwei grosse schwarze Knopfaugen und die schwarze fadendünne Zunge kontrastieren mit der porzellanartig glänzenden lindgrünen Schuppenhaut.
Die Jamaica-Boa ist in der Natur fast ausgestorben. Kratzer hat sie im Rahmen eines internationalen Arterhaltungsprogramms erfolgreich zur Nachzucht gebracht.
Dominiert wird der Raum aber vom grossen Gehege des afrikanischen Stumpfkrokodils. Wie ein Minisaurier treibt es regungslos im Wasser und mustert die Besucher mit grossen blanken Augen.
Nichtwissenschaftler macht Furore
Henri Kratzer, Jahrgang 1934, ist in der Schweiz einer der Initianten der Herpetologie – der Wissenschaft von den Lurchen und Kriechtieren. Vor drei Jahrzehnten gründete er die Landesgruppe Schweiz der Deutschen Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde. Die internationale Forschergemeinschaft zählt weltweit 6000 Mitglieder. 300 leben in der Schweiz.
Der «Nichtwissenschaftler» Kratzer war damals einer von wenigen Schweizern, die sich intensiv mit Schlangen befassten. Heute ist er ein weltweit anerkannter Schlangenspezialist, der an Kongressen nicht fehlen darf. Er publiziert in wissenschaftlichen Werken und berät Wissenschaftler. Zahlreiche Verdankungen in der Fachliteratur sind dem «experienced snake keeper» Henri Kratzer gewidmet. Eine Zornnatter ist nach ihm benannt, die Coluber viridiflavus kratzeri. Und nicht ohne Stolz weist Henri Kratzer darauf hin, dass «in diesem Keller schwierige Nachzuchten weltweit das erste Mal gelungen sind».
Die Schlangenliebe hatte ihn schon früh gepackt. Bereits als Knirps verbrachte er Stunden in Kies- und Lehmgruben, fing Ringelnattern und beobachtete Frösche. Mit zwölf Jahren fing er von Hand eine giftige Kreuzotter und brachte sie zum Entsetzen der Familie nach Hause. Später hätte er gern Biologie studiert, doch man hiess ihn, zuerst einen «richtigen» Beruf zu erlernen und die Schlangen als Hobby zu betreiben. Kratzer befolgte diesen Rat – «und das war wohl auch richtig so».
So wurde er Hochbauzeichner, dann Bauführer und schliesslich Liegenschaftsverwalter. Doch zwei Stunden pro Tag verbrachte er nach der Arbeit jeweils bei den Schlangen. Und als ob das nicht reichen würde: Henri Kratzer amtete noch jahrelang als Eishockey-Schiedsrichter in der Nationalliga.
Die Ferien gehören den Kriechtieren
Seine Ferien verbringt Henri Kratzer seit zwanzig Jahren mit anderen Herpetologen auf Expeditionen. Die abenteuerlichen Forschungsreisen führen ihn zu den entlegensten Ecken der Welt: auf die Salomonen zum Beispiel, die Neuen Hebriden oder zum Bismarck-Archipel.
Auch in diesem Sommer wird er wieder aufbrechen, für einen Monat. Dann wird er das höchste der Gefühle der Herpetologen geniessen, das schöner ist als ein Sechser im Lotto: die selig machende Gelegenheit nämlich, nichts anderes zu tun, als sich mit Kriechtieren zu beschäftigen.