Tierklinik: Die Leiden der Mitgeschöpfe
900 Hunde, 1200 Katzen, 400 Hamster und zahllose Kleintiere werden Jahr für Jahr am Zürcher Tierspital verarztet. Und mit jedem vierbeinigen Patienten leidet ein zweibeiniger Angehöriger mit.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Jetzt sitzt er schon seit zehn Minuten hier und hustet nicht. «Gestern hustete er pausenlos! Rolli! Rollimolli! Magst du nicht husten?»
Die Hundehalterin ist aus Lörrach angereist. Das Tierspital Zürich geniesst einen guten Ruf. «Rollimolli…»
Das Tier kauert verstört auf dem Untersuchungstisch. «Er hustete während der ganzen Autofahrt!» – «Ich glaube es Ihnen», sagt der Arzt. Den Blick in die Ferne gerichtet, betastet er den Leib des glupschäugigen Yorkshireterriers.
Die Halterin ist bedrückt. Rolli nicht minder. «Rolli. Ärmster. Der Onkel guckt doch nur.» Das Tier, acht Jahre alt, ist 24 Stunden in ihrer Nähe – nachts, bei der Arbeit, immer. «Ich mache doch alles, was er will», sagt sie. «Welch herrliches Leben», lächelt der Arzt. Nur: Rolli hat Fieber, und seine Augen sind gerötet, aber leider hustet er nicht.
Der kurze Spaziergang im Spitalgarten bringt nichts. Die Besitzerin kann es nicht fassen. Sie ist «tausendprozentig» damit einverstanden, dass man ihr Tier «auf Herz und Nieren» untersucht.
24 Stunden pro Tag im Einsatz
Tierspital Zürich, Notfallstation. Um die 900 Hunde, 1200 Katzen und 400 Hamster, Papageien, Schlangen werden hier jährlich untersucht und verarztet. Der Untersuchungstisch ist aus Chromstahl, schulpultgross, und er kann stufenlos gehoben oder gesenkt werden. Eine elektrische Haarschere hängt daran. In Griffnähe die wichtigsten Utensilien: Blutentnahmebehälter, Venenkatheter, Infusionsbesteck. Dazu Antibiotika, Schmerz-, Brech-, Entwurmungsmittel. In der Regel sind hier ein Arzt und eine Pflegerin im Einsatz – rund um die Uhr.
Samstag, 18 Uhr. An der Pforte, in Turnhose, steht Hamadin. Er ist ausser Atem. Der Primarschüler streckt dem Tierarzt beide Hände entgegen: «Hier!» Auf einem Taschentuch liegt reglos eine Rauchschwalbe. Ihre Augen sind halb geschlossen. Hamadin hatte das Tier in einer Wiese gefunden. Möglicherweise sei es angefahren worden, erklärt der Assistent. Schwierig zu sagen, was ihm fehle; wahrscheinlich habe es den Flügel gebrochen; ja, das tue weh. «Können Sie operieren?», fragt das Kind. «Es ist nicht sicher, ob wir helfen können.» – «Und dann?» – «Müssen wir es halt einschläfern.» – «Hmm!» Der Arzt bedankt sich beim Jungen für die Hilfe: ein herzlicher Händedruck. Nein, Hamadin hat «wahrscheinlich keine Zeit», sich später nach dem Tier zu erkundigen. Uberhaupt: «Bei Vögeln kenne ich mich nicht so aus.» – «Tschau Hamadin!»
Das Wartezimmer ist gleichzeitig der Empfangsraum der Notfallstation – ein erstaunlich kleiner Saal, wenn man bedenkt, dass wir uns in einem internationalen Uberweisungszentrum befinden. Neben dem Telefon liegen «Gutscheine für eine kostenlose Tierhaarentfernung». An einer Wand hängt ein Plakat mit der Aufschrift: «Fledermäuse brauchen unsere Sympathie.» In der Ecke surrt der Kaffeeautomat. Sonst ist es still.
An einem der vier runden Tische sitzt ein gepflegter junger Herr. Ein Katzenkäfig thront auf seinen Knien. Nur zaghaft lässt er sich auf ein Gespräch ein. Man habe halt schon «eine "huere" Beziehung zu seiner Katze», sagt er dann. Sein Tier äugt entsetzt durchs Gitter. Es zittert, miaut. Debbie, eine Angorakatze, ist drei Jahre alt und «wird von der Nachbarkatze terrorisiert». Ihr Haarausfall «wird immer schlimmer». Ein Notfall? «Auf eine Art schon», sagt der Mann und schüttelt tief seufzend den Kopf.
Nicht alles ist «reparierbar»
Sonntag, kurz nach neun Uhr. Harschen Schrittes marschiert der Mann ins Untersuchungszimmer. Eine bärenhafte Erscheinung, kräftige Stimme, Barbadoshemd. Sein Begleiter ist graublond, erschöpft und heisst Saccho. Der Halter, Anfang sechzig, ist zornig: Ein «Laueri» sei sein Tierarzt im Oberland, ein «grauenhafter Laueri». Seit vier Tagen wartet er auf den Befund zur Krankheit seines deutschen Schäfers, noch immer vergeblich.
Saccho hat Durchfall, seit drei Wochen. Alles fing an, kurz bevor sein Herr in die Ferien verreiste und den Hund seinem Sohn überliess. Man telefonierte täglich. Mal wurde es besser, «dann wieder schlimm». Jetzt habe er das Recht zu wissen, was mit Saccho los sei.
«Vier Tage für einen Befund… Nicht zu glauben.» Genaue Abklärungen brauchten eben ihre Zeit, sagt der Arzt, das sei auch im Tierspital so. Er entnimmt dem Tier etwas Blut. Saccho ist zwölf Jahre alt, 39 Kilo schwer, die Schleimhäute sind in Ordnung, der Puls ist gut, doch das «Buebeli» sieht müde aus.
«Sie können ihm doch etwas spritzen, dass er wieder auf die Beine kommt!» – «So einfach ist das nicht», sagt der Arzt. «Tiere sind keine Maschinen, wo der Defekt sofort reparierbar ist.» Der Mann im Barbadoshemd stützt die Arme in die Hüften. «Drei Kilo hat er abgenommen.» – «Wir müssen seine Brust röntgen», sagt der Arzt. Leicht ungeduldig rät er zu einer umfassenden Abklärung. Vor allem aber: Das Tier müsse eine Nacht hier bleiben.
Gestandene Männer weinen
«Kommt nicht in Frage», sagt der Mann, «jetzt bin ich dreissig Kilometer gefahren!» Der Arzt bleibt hartnäckig: «Glauben Sie, dass es hilft, wenn man zuwartet?» – «Saccho lasse ich nicht hier.» – «Es ist Ihre Entscheidung.»
Der wütende Senior ist leiser geworden. Es arbeitet in seinem Innern. Am Dienstag wird er die Resultate von seinem Privatarzt erhalten. Er klopft seinem Tier auf die Flanken. «Sacchobuebeli.» Er ist heiser geworden, gedankenverloren. Langsam verzieht sich sein Gesicht zur Grimasse, seine Augen werden klein, und sein vorstehender Bauch beginnt zu wippen. Der wütende Senior weint.
Vor einer halben Stunde noch stand er lautstark in der Eingangstür, jetzt tastet er nach der Klinke, rückwärts gehend, den wässrigen Blick auf den Hund gerichtet. «Warte schön hier», sagt er. Er sagt es immer wieder. Auch kurz vor dem Schliessen der Tür. «Warte schön hier.» Vom Arzt verabschiedet er sich nicht.
Die Haustierpopulation wächst und wächst
Katzen und Hunde lernen die Schweiz zu schätzen. Ihre Population wächst kontinuierlich. Der Zuwachs der Hauskatzen in den letzten drei Jahren beläuft sich auf rund sieben Prozent. Laut Erhebungen des Tiernahrungsmittel-Produzenten Effems leben zurzeit rund eine halbe Million Hunde im Land; das Katzentotal beläuft sich auf über 1,2 Millionen.
Rund 387'000 Haushalte beherbergen im Schnitt 1,2 Hunde, und in 728'000 Haushalten leben durchschnittlich 1,7 Katzen. Angaben zu Papageien, Hamstern, Meerschweinchen und Schlangen fehlen.
Lange Zeit wurde die Haltung von Tieren, die keinen ökonomischen Nutzen abwerfen, für Luxus gehalten – eine Begleitung ohne Notwendigkeit, ohne Sinn. Erst in jüngerer Zeit begann sich die Forschung mit der Bedeutung solcher Verbindungen zu befassen. Ein Haustier – so die Entdeckung – kann für den Menschen weit mehr bedeuten als Prestige und auch mehr als Erlösung aus der Langeweile.
Psychotherapeuten setzen Hunde und Katzen heute als «Eisbrecher» ein. Die Atmosphäre im Altersheim, in Gefängnissen, in Behindertenheimen kann durch ein Tier entscheidend bereichert werden. Das Tier ist ein Spielgefährte, der die Stimmung hebt und dem Menschen das Gefühl gibt, gebraucht zu werden.
Seit sechs Monaten hat der Terrier «das Zittern». Sein Kiefer beginnt dann für zehn, fünfzehn Sekunden zu vibrieren. Der Halter, Vater von zwei Kindern, erläutert ein weiteres Problem: Bingo hat diese Nacht zum dritten Mal die Küche verkotet, «eine wilde Sache». Das Tier schrie nicht, es hat wohl auch nicht gelitten; der Halter hörte nichts von allem. Handelt es sich vielleicht um ein neurologisches Problem?
Frau S. hält eine ältere Katze und einen jungen Hund. Die Katze kratzte dem Hund ins Auge. Seine Hornhaut wurde verletzt. Und nun?
Pedro, kastriert, elfjährig, schläft auf dem Untersuchungstisch. Der Kater ist hochgradig ausgetrocknet. Der Besitzer erzählt eine lange Geschichte.
Ein Paar im Trainingsanzug, gegen dreissig, verlässt das Spital wortlos, eng umschlungen. Vor dem Auto bricht die Frau in ein haltloses Schluchzen aus. Der Mann streicht ihr über den Rücken.
«Es gibt viele Arten, ein Tier zu lieben», sagt Gaby Elsener. Sie arbeitet im Empfangsbereich; vor zwei Jahren absolvierte sie eine Ausbildung als tierpsychologische Beraterin. Ihre Abschlussarbeit widmete sie einem schwierigen Thema: der menschlichen Trauer um ein verlorenes Tier.
400 Fragebögen verschickte sie an «hinterbliebene» Tierbesitzer – und erhielt über 300 beantwortet zurück. Das Resultat ist erstaunlich: Rund die Hälfte der Befragten aller Alterskategorien betrachtet ihr Haustier als festes Familienmitglied. Die höchste Intensität der Trauer durchlebten Leute zwischen 16 und 30 Jahren.
Ob das Tier ein paar Wochen, Monate oder Jahre im betreffenden Haushalt verbrachte, spielt für die Intensität des Verlustgefühls keine Rolle. Das Gefühl der Leere bedrängt allein gelassene Hundebesitzer weit mehr als Trauernde um Katzen oder Zootiere: Hunde bestimmen die Freizeitgestaltung der Menschen stärker. Weit über die Hälfte der Hunde- und Katzenbesitzer gab an, dass dieser Verlust ihr Leben verändert habe. Bei den Zootierhaltern sind es knapp vierzig Prozent.
In Frankreich und England gibt es für trauernde Tierbesitzer spezielle «Hotlines». In der Schweiz erfüllt «Die dargebotene Hand» teilweise diese Funktion.
In Box vier sitzt Herbie, ein Spaniel, vor der Infrarotlampe. Sein linkes Auge ist frisch operiert. «Kein Futter», steht an seiner Box. Cora, eine Hauskatze, hat den Unterleib eingebunden. Ihr Kopf ist abgewandt. In Box elf ist Lasso, ein deutscher Schäfer. Drei Beine hat er einbandagiert. Er hängt an einer Infusion. Rex, ein sibirischer Husky, hat Schienen an den Vorderbeinen. Er bellt.
«Der Dringlichkeitsgrad der Notfälle
ist extrem verschieden», sagt Tony Glaus, Oberarzt. «Es gibt absolute Notfälle wie Magendrehungen bei Hunden. Sie müssen sofort operiert werden.» Dann gebe es aber auch Tierbesitzer, die um ein Uhr nachts auf dem Lid des Vierbeiners eine Zecke entdecken und glauben, sofort ins Tierspital rasen zu müssen. «Die Not der Besitzer ist auch hier real. Ich betrachte es als meine Aufgabe, sie zu beruhigen», sagt Glaus. Aber nur rund die Hälfte der Tiere sind wirklich klinische Notfälle.
Der ordentliche Dienst des Notfallarztes dauert 36 Stunden. Es kommt vor, dass die Veterinäre in diesem Zeitraum nur drei Stunden schlafen. «Ja, es ist hart», sagt der Notfallarzt. Das Aufgebot trifft ihn alle zwei Wochen. Fällt es auf ein Wochenende, hat er am Montag frei.
Unendlich langsam setzt sich der junge Mann auf den Stuhl vor dem Untersuchungstisch. Der Blick seiner Katze ist starr. Vor einigen Tagen ist Manga vom Balkon gestürzt. Seither versagt ihre Niere. Sie ist innerlich vergiftet. Die Uberlebenschancen sind gering. Der Mann bringt kein Wort über die Lippen.
Nigel leidet an Arthritis
Sonntag, 15 Uhr 30. Nigel kauert auf dem Tisch in der Mitte des Wartezimmers. Der kleine Hund ist der einzige Patient zurzeit. Sein Atem geht schwer, und unter dem ledrigen Näschen schaut ein kleines, steifes Stück Fleisch hervor. «Die Zunge hat er schon ein Leben lang draussen», erklärt seine Halterin ernst. «Ein Geburtsfehler.» Die Frau ist Amerikanerin. Sie malt, und sie ist zu Besuch bei ihren Eltern in der Schweiz, «wie jedes Jahr – oder fast».
Nigel gehört einer tibetanischen Rasse an. Er ist ein Shizu. «Kaiserliche Wachhunde. Long Tradition.» Und Nigel ist nicht mehr der Jüngste. Was macht ihn zum Notfall?
Es fehlt ihm ein Medikament. Die Frau klaubt in der Hüfttasche. «Hier!» Sie hält ein oranges Döschen hoch. Die Pillen, die ihm der Arzt in New York verordnet hat. Das Röllchen ist leer.
Die Falttür öffnet sich. Der Arzt erscheint, und Nigel zuckt zusammen. «Darling», sagt die Frau.
Nigel kauert auf dem Untersuchungstisch. Der Notfallarzt tastet, späht. «Ihr Hund leidet an Herzversagen», sagt er. «Oh. Und auch an Knochenschwund», ergänzt die Frau. «Arthritis?» – «Yes.» – «Er hat vielleicht Wasser in der Lunge.» – «Wenn er nur die Pillen hätte…»
Seit fünf Tagen hat Nigel die Pillen nicht. «Welche Medikamente nimmt Ihr Hund sonst noch?» – «Ach, eine Menge… Vasotec! Hydroxy Compound.» – «Das sind Marken», sagt der Arzt. «Ich muss die Wirkstoffe wissen.» – «Oh God!» sagt die Frau. «Dies ist alles, was er braucht.» Sie zeigt auf das orangefarbene Döschen.
«Veterinary Center, W.83 St., New York 10024», steht darauf. «Können Sie ihm nicht irgendetwas Ähnliches geben?»
«Es ist schwierig, ein Medikament mit einem unbekannten zu kombinieren», sagt der Arzt.
«Wissen Sie», sagt die Frau, «mein Doktor Edwards in Albany hat gesagt: Nigel werde sterben im August 1998! Nineteen-ninety-eight.» Sie schaut den Arzt herausfordernd an. «Aber er lebt noch. Geben Sie ihm noch einen Tag, Doktor!»
Sie hält das orangefarbene Döschen hoch. «Please. Please…»
«Leiden ist subjektiv», sagt der Arzt. «Wenn Sie finden, dass er leidet, müssen wir etwas machen.» – «Please. Machen Sie, was Sie können.» Der Arzt zählt mögliche Massnahmen auf: Röntgen, Spiegelung, Infusion. Die Halterin wird bleich. «Machen Sie, was Sie können.»
Als der Arzt behutsam von «Einschläfern» spricht, bricht sie zusammen. «Wissen Sie, ich habe in Amerika mein Pferd verloren. Nachher konnte ich nicht mehr in dieses Haus zurück. Auch aus diesem Grund bin ich hier.»
Der Arzt fasst sie kurz an der Schulter: «Wir machen, was wir können.»