Verheiratet, verzweifelt
Junge Frauen werden mit Männern verheiratet, die sie oft nicht einmal kennen. Obwohl viele unter der Zwangsehe leiden, schaut die Politik weg.
Los von diesem Leben, los von den Zwängen der Familie, los von ihrem Mann. Demet A. sitzt auf dem Sofa im interkulturellen Zentrum in Basel. Sie streicht das Kopftuch glatt, am Finger blinkt der Ehering. Vor kurzem schluckte Demet A. Pillen: Die 38-jährige Türkin hatte genug, keine Kraft mehr zum Leben. Ihre Schwester fand sie bewusstlos auf dem Boden des Wohnzimmers und brachte sie in die Notfallklinik.
Demet A. erzählt ihre Geschichte ruhig, in gebrochenem Deutsch. Sie war 19 Jahre alt, als ihr Vater sie in den Türkeiferien in ein Zimmer sperrte und ihr eröffnete, sie werde in ein paar Tagen ihren Cousin heiraten. Wenn sie nicht einwillige, werde sie nie wieder in die Schweiz zurückkehren können. Demet A. hatte Panik, wollte fliehen, tat es nicht. Zu beiden Seiten standen Familienangehörige, als sie den Heiratsvertrag unterschreiben musste. Der Bräutigam war nicht zugegen. «Ich fühlte mich hilflos, verraten, ohne Zukunft.»
Die meisten jungen Frauen, denen die Zwangsheirat droht, sind zwischen 16 und 19 Jahre alt, wenn sie im Mädchenhaus in Zürich Hilfe suchen. Sie kommen unter anderem aus der Türkei, vom Balkan oder aus Sri Lanka. Die Familien verschweigen den jungen Frauen die Absichten oft: «Die Eltern reden über eine Hochzeit im Heimatland, bis die Tochter ahnt, worüber sie wirklich sprechen», so Talitha Widmer, Psychologin im Mädchenhaus.
Die Zahl der Hilfesuchenden steigt: Gelangten vor drei Jahren noch zwölf Betroffene ans Mädchenhaus, waren es 2004 bereits doppelt so viele. «Die Öffentlichkeit ist heute sensibilisierter», sagt Widmer. Die Expertin schätzt die Dunkelziffer der Zwangsehen jedoch weiterhin als hoch ein. Und Regina Probst von der Menschenrechtsorganisation Terre des femmes Schweiz geht aufgrund einer deutschen Umfrage davon aus, dass 50 Prozent der muslimischen Frauen in der Schweiz den Ehemann nicht frei wählen durften oder zumindest gegen massive Widerstände in der Familie ankämpfen mussten.
Auch Demet A. ist Muslimin. Die Eltern haben sie aber nicht der Religion wegen zwangsverheiratet, «sondern weil es so Tradition ist und mein Vater vor der Familie die Ehre verloren hätte». Demet A. war versprochen. Ein Mann, der sein Wort bei der Familie oder bei Freunden nicht halten könne, werde als Oberhaupt nicht mehr ernst genommen, so Demet A.
Im Koran ist die Zwangsheirat nicht explizit erwähnt. «Sie ist eine wirtschaftliche, kulturelle, aber keine religiöse Angelegenheit», sagt Psychologin Widmer. Und: Traditionen würden bei manchen Immigranten überaus stark gepflegt, um die Identität zu wahren.
«Dass Zwangsehen bei Muslimen verbreitet sind, hat damit zu tun, dass diese Gesellschaften extrem patriarchalisch geprägt sind», weiss Regina Probst. Zudem werde die Zwangsheirat vor allem in ländlichen Regionen und bei ungebildeten Schichten praktiziert. Ein weiterer wichtiger Grund für eine unfreiwillige Ehe ist die Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. In Demet A.s Umgebung zwar keine Seltenheit, doch «es wird nicht offen über dieses Thema gesprochen».
Bis heute hat Demet A. ihren Eltern nicht verziehen. «Ich hasse sie, sie haben mein Leben zerstört, nur damit sie gegenüber der Familie das Gesicht wahren können.» Die junge Frau konnte sich nicht wehren – sie wusste nicht, dass es in der Schweiz Stellen gibt, die ihr geholfen hätten. In der Schule besass sie keine Schweizer Freunde: «Ich wusste nichts über meine Rechte, sonst wäre ich zur Lehrerin gegangen.» Später dann, während ihrer Ehe, spielte sich ihr Leben hauptsächlich in der eigenen Wohnung ab. Ihr Mann verbot ihr, mit Freundinnen auszugehen.
«Der politische Wille fehlt, etwas gegen die Zwangsheirat zu unternehmen», sagt der Solothurner SP-Nationalrat Boris Banga. So strich die grosse Kammer bei der Debatte über das Ausländergesetz vor gut zwei Wochen eine neue Strafbestimmung des Ständerats: Der Nationalrat will die Zwangsheirat nicht explizit unter Strafe stellen, bevor der Bundesrat nicht zusätzliche Abklärungen getroffen hat.
Regina Probst kann nur vermuten, weshalb die Politiker in dieser Sache zögern: «Die Linken haben Angst, als ausländerfeindlich zu gelten, wenn sie die Zwangsheirat zum Thema machen.» Und bei den Rechten seien Frauenthemen schon immer sekundär behandelt worden.
Psychologin Talitha Widmer hingegen ist überzeugt, dass «verschärfte Bestimmungen die Situation der Betroffenen kaum verbessern, weil nur wenige Frauen Anzeige erstatten». So wie Demet A.: «Ich gehe nicht vor Gericht», sagt sie. Sie ist noch immer verheiratet. Bei einer Klage gegen ihre Familie würde sie vom ganzen Clan verstossen. Ebenso bei einer Scheidung: «Meine Familie sähe mich als Hure an.» Mit den Schwestern hat Demet A. schon oft über ihre Situation geredet. «Im Moment habe ich einfach nicht die Kraft, allein zu leben – irgendwann später, vielleicht.» Sie will den Kontakt zu ihren Schwestern und andern Familienmitgliedern unter keinen Umständen gefährden.
Talitha Widmer fordert derweil mehr Geld für die Aufklärung in Schulen und bei Sozialbehörden. Zudem fehlen in der Schweiz statistische Zahlen: Um zu untermauern, dass die Zwangsehe ein Problem für viele junge Frauen in diesem Land ist, sei eine Studie nötig, sagt Widmer.
Erst als Demet A. nach ihrem Suizidversuch ins Spital kam, wurde sie an entsprechende Stellen verwiesen. Heute weiss sie, wo sie anrufen kann, wenn es ihr schlecht geht. Früher hatte sie den Drohungen der Familie geglaubt: Sie dürfe niemandem etwas erzählen, Schweizer würden das nicht verstehen, sagte man ihr.
Demet A. hatte als Kind mit ihrem Mann im Sandkasten gespielt: «Ich habe ihn sogar Bruder genannt.» Sie hatte ihren Cousin einmal gern gehabt, Liebe konnte sie für ihn indes nie entwickeln. Später schlug die Sympathie in Abneigung um. Heute sind drei Kinder da. Ihre älteste Tochter ist 15 – sie hat für die Familie das heiratsfähige Alter. «Ich lasse nicht zu, dass ihr das Gleiche passiert wie mir.» Demet A. hat ihr alles erzählt. Die Tochter soll es einmal besser haben.