«Ich bezeichne mich als atheistisch und bin trotzdem nicht aus der Kirche ausgetreten.»
Irene, 21 Jahre

Eilig passiert eine Gruppe von 20 Mädchen und Knaben die beiden Türsteher. Die Konfirmanden sind zu spät dran an diesem Sonntagabend. Im Innern der Kirche dröhnen bereits die fetten Beats von DJ Platinum. Auf der Grossleinwand flattert ein Gänseschwarm über eine Seenlandschaft. Dann tritt der Pfarrer auf die Bühne – in Jeans und Freizeithemd.

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Die Streetchurch, eine offizielle Jugendkirche der Reformierten, lockt einmal im Monat 300 bis 350 Jugendliche in die Kirche St. Jakob am Stauffacher mitten in Zürich – darunter jeweils bis zu 100 Konfirmanden. Die biblische Botschaft, die Pfarrer Markus Giger eindringlich als Heilmittel gegen jede Sucht – Drogen, Computer, Pornographie – verkündet, wird jugendgerecht aufgepeppt mit Videoprojektionen, einem Rapper und einem Gospelchor. Doch die meisten der Schäfchen sind nicht freiwillig in der Streetchurch. Sie müssen einen Gottesdienst besuchen, um Punkte für die Konfirmation zu sammeln.

Parallel zur Firmung der Katholiken, die zwischen dem 12. und 16. Altersjahr stattfindet, lassen sich Reformierte mit 16 Jahren konfirmieren. Die Konfirmation ist ein Übergangsritus ins religiöse Erwachsenenalter. Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde die Konfirmation in der gesamten Schweiz am Palmsonntag vor Ostern gefeiert.

Gegen die Konfirmation entschieden hat sich die 15-jährige Olivia aus Benglen ZH – wie viele ihrer Freundinnen, die mit ihr zur Schule gehen. «Die Konfirmation ist eine Bestätigung der Taufe. Das ist nicht das, womit ich mich identifiziere.» Olivia liebt Hip-Hop, Rap, R&B und trägt die angesagten Markenklamotten. Manchmal sprechen sie über Mittag in der Mädchenrunde auch über Religion. Sie erzählen einander, woran sie glauben, und diskutieren über die Unterschiede zwischen Reformierten und Katholiken.

Quelle: Dominik Schenker

«Gott hat nichts mit Unfällen, Krankheiten und Verbrechen zu tun. Er greift höchstens ins Leben ein, um mir einen möglichen Weg zu zeigen.»
Damaris, 23 Jahre

Die Suche nach der religiösen Identität

Unter Teenagern ist Religion nicht nur Pausenplatzthema, weil sie sich für oder gegen die Firmung oder Konfirmation entscheiden. Sie stecken in einer Phase, in denen sie die Grundlinien ihrer gesellschaftlichen und religiösen Identität festlegen. Jungen und Mädchen müssen in diesem Alter oft sehr wichtige Lebensentscheidungen treffen. «Sie wählen ihre Ausbildung, ihren Beruf, ihren Partner, ihre Werte, ihren Freizeitstil – und auch ihre Religiosität oder Areligiosität», so Religionssoziologe Jörg Stolz, Leiter des Observatoire des religions en Suisse in Lausanne.

Trotz ihrem Entscheid gegen die Konfirmation glaubt Olivia an einen Gott. Damit ist sie in guter Gesellschaft. Vier von fünf Jugendlichen zwischen 13 und 16 Jahren sind überzeugt, dass ein Gott oder etwas Göttliches existiert. Dies hat eine derzeit laufende Nationalfondsstudie ermittelt. Erstmals wurden 748 Jugendliche in der Deutschschweiz über ihre Religiosität, Wertvorstellungen und Identität befragt. Erste Ergebnisse liegen dem Beobachter vor (siehe Grafiken Seite 66). Die Untersuchung zeigt zum Beispiel, dass der Glaube an Gott höher gewertet wird als der parareligiöse Glaube an Astrologie, an Heilkraft von Steinen oder Wahrsagerei. Welche Gestalt dieser Gott oder dieses Göttliche annimmt, darüber sagt die Studie noch nichts aus. Nur wer sich mit Jugendlichen aufs Gespräch einlässt, erfährt etwas über ihre religiösen Ein- und Innensichten.

Quelle: Dominik Schenker

«Als religiöser Mensch fällt es mir leichter, mit Problemen umzugehen. Da hat es ein nicht religiöser Mensch vielleicht schwieriger.»
André, 17 Jahre

Die neue Minimum-Religion

Olivia beispielsweise geht auf Distanz zum Gott der Kirche. «Mein Gott ist nicht so, wie ihn die Kirche darstellt. Die Kirche hat ein genaues Bild von Gott. Er hat die Erde in sieben Tagen geschaffen. Woher wollen sie das wissen? Das kann ja jeder erzählen.» Olivia beschreibt ihren Gott als «eine übermenschliche Kraft, die über uns ist». Sie erlebt diese göttliche Kraft als Intuition. Manchmal ahnt sie, dass etwas passieren werde. «Das stimmt nicht immer, aber manchmal schon.» Ein Tsunami sei auch irgendwie eine Warnung von oben oder das «Megapech» eines Sportlers, der immer Erfolg hatte und sich ausgerechnet vor den Olympischen Spielen ein Bein bricht. Statt an der Bibel orientiert sich die 15-Jährige an ihrer Musik, eigenen Erlebnissen oder an Biographien von berühmten Frauen. Ihr Rat: «Die Kirche soll nicht so viele Geschichten aus der Bibel vorlesen, sondern den Menschen den Freiraum geben, selber zu denken und sich ihre eigene Version von Gott zu entwickeln.»

Die intimen Glaubenswelten junger Menschen rücken erst langsam ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Soeben ist das Buch «Ansichten vom Göttlichen» erschienen, das sich auf die religiösen Weltbilder von 22 Jugendlichen konzentriert. Die Bilder und Zitate der Jugendlichen in diesem Artikel stammen aus dem Buch. Was bei Olivia im Gespräch aufscheint, manifestiert sich auch bei den interviewten Jugendlichen im Alter von 16 bis 24 Jahren: Sie schaffen sich ihren Gott selber; sie nehmen sich das von der Religion, was ihnen passt. Was im 19. Jahrhundert Religionskritiker wie Karl Marx, Ludwig Feuerbach und Sigmund Freud als revolutionären Gedanken begründeten, nämlich dass Gott eine Projektion sei, ist heute eine verbreitete Einstellung. Neu ist, dass dieser selbsterschaffene Gott nach Ansicht der Jugendlichen im Alltag wirkt.

Die Jugendlichen vertreten eine sozial tolerierte Minimum-Religion, die seit den neunziger Jahren an die Stelle der konfessionellen Religiosität getreten sei, so Dominik Schenker, Mitautor des Buchs «Ansichten vom Göttlichen», Theologe und Sozialwissenschaftler. Diese Minimum-Religion beinhaltet den Glauben an eine undefinierbare höhere Macht ohne Dogmen und Bekenntnisse. Sie sichert nicht das Heil der Seele, sondern gibt Halt im Alltag – ohne Verzicht auf Konsum oder Veränderung des Lebensstils. Sie deutet das Unvorhersagbare. «Das gilt als normal und wird von der Gesellschaft toleriert.» Religiöse Einstellungen, die dieses Minimum überschreiten, fallen unter einen Begründungszwang. Jeder darf etwa sagen, dass er in der Kirche eine Kerze anzünde – als Ritual. Das ist gesellschaftlich akzeptiert. Sobald es mehr sei als ein Ritual, müsse man dies begründen und werde schnell in die Sektiererecke geschoben. Schenker: «Man kann agnostisch, katholisch, reformiert, neuheidnisch, buddhistisch oder sonst was sein, wenn man nur nicht zu überzeugt ist.»

Quelle: Dominik Schenker

«Ich habe einen Kollegen, dessen Familie strenggläubig ist. Er liest immer aus der Bibel. Ich finde das schon ein wenig übertrieben.»
Kim, 17 Jahre

«Die Kirche am besten abschaffen»

Trotz dieser religiösen Minimalvariante beschäftigen sich Teenager mit den grossen Menschheitsfragen, die traditionell von der Religion bearbeitet werden. Wer bin ich? Was ist der Sinn des Lebens? Welche Ziele sollte ich haben? Was ist gut? Was ist böse? Manche Jugendliche entscheiden sich schliesslich doch für die Antworten einer religiösen Gruppierung. Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der religiösen Bekehrungen zwischen 15 und 25 Jahren stattfindet. Doch die offiziellen Kirchen treffen heute auf scharfe Konkurrenz. «In der modernen Gesellschaft werden die traditionellen Fragen auch von nichtreligiösen Institutionen behandelt, wie zum Beispiel von Psychotherapeuten oder der Freizeitindustrie. Daher können Jugendliche auch einfach aus der Religion aussteigen», erklärt Religionssoziologe Stolz.

Roberto zum Beispiel hat mit Religion und Kirche gebrochen. Der 17-jährige Gymnasiast in Zürich ist katholisch getauft, war einst Ministrant, betete ab und zu auf Italienisch zu einem Gott, mit dem er reden konnte, der ihm zuhörte. Seit seinem Coming-out glaubt er nicht mehr an Gott. «Ich werde so bald als möglich aus der Kirche austreten», sagt er. Als Roberto mit 14 Jahren merkte, dass er schwul ist, realisierte er, welchen Einfluss die Kirche auf die Menschen hat und wie sie zum Thema Homosexualität steht. «Für mich ist die Kirche nichts Gutes mehr. Sie akzeptiert mich nicht, wie ich bin. Wieso soll ich an etwas glauben, das mich nicht unterstützt?»

Heute kann Roberto gut ohne Gott und Jesus leben. Nur mit seiner besten Kollegin redet er manchmal noch über Religion und lästert über die Kirche, weil sie Kondome verbietet und sich in Dinge einmischt, die sie seiner Meinung nach nichts angehen. Robertos Lösung ist radikal: «Die Kirche muss nichts anders machen. Ich brauche sie nicht. Am besten wäre es, sie ganz abzuschaffen.»

Quelle: Dominik Schenker

«Wohin die Reise nach dem Tod geht, weiss ich nicht. Ich sehe ihr gelassen entgegen und will mich überraschen lassen.»
Eliane, 20 Jahre

Mit 16 Jahren springen sie ab

Echte Atheisten sind laut der laufenden Nationalfondsstudie nur rund 16 Prozent der Minderjährigen in der Deutschschweiz. Doch die reformierte und die katholische Kirche machen sich zu Recht Sorgen um ihren Nachwuchs. Erfahrungsgemäss verlieren sie die Jugendlichen meist mit etwa 16 Jahren. Diese brechen nach der Volksschule den Kontakt zu den Kirchen ab oder gehen auf Distanz.

Die einstigen Monopolinstitutionen wollen indes nicht mehr tatenlos zusehen, wie ihnen die Teenager davonlaufen. Sie haben unter Jugendlichen einen lebendigen Gottesglauben geortet, den sie nur stilgerecht bedienen müssen. Ihr Rezept: Zeitgemässe Jugendkirchen mit Lokalitäten inmitten der Jugendszenen. Die Evangelisch-reformierte Kirche wirkt seit 2003 mit der Streetchurch im Zürcher Szenekreis 4 und seit 2009 auch in der Fabrikkirche in Winterthur.

Die katholische Jugendkirche in Zürich ist zwar noch ein Pilotversuch, der bis 2012 laufen soll. Nächstes Jahr zieht sie ins Partyquartier der Stadt, in den Kreis 5, in den Bogen 11 und 12 des neuen SBB-Viadukts. Dort sollen die Jugendlichen im Kirchenbogen «chillen» und im andern plaudern. Die «Geh-hin-Kirche» sei wieder auf dem Markt, sagt Peter Kubikowski, Marketingfachmann und Leiter der Katholischen Jugendkirche Zürich. In der Stadt Basel wird die katholische Jugendkirche ab 2010 definitiv starten, und in St. Gallen haben die Reformierten und Katholiken vor wenigen Monaten gemeinsam die Jugendkirche «dankstell am see» aus der Taufe gehoben.

Der Theologe und Buchautor Dominik Schenker ist da skeptisch: «Jugendkirchen bleiben ein Nischenangebot.» Es sei ein Trugschluss zu glauben, die Kirche müsse den Inhalt nur richtig verpacken, damit er übernommen werde. «Die Mehrheit der Jugendlichen hat kein Bedürfnis nach diesen Inhalten.» Die deutsche Shell-Jugendstudie 2006 gibt ihm recht. Zwei Drittel der Befragten kritisieren, dass die Kirche keine Antworten auf die Fragen habe, die sie wirklich bewegen. «Die Kirchen sollten die Jugendlichen bei der religiösen Identitätssuche nur begleiten und nicht bekehren», sagt Schenker.

Quelle: Dominik Schenker

«Die Frage ‹Wer oder was ist Gott?› macht mich nervös, weil man sie nicht beantworten kann.»
Paula, 17 Jahre

Die altbekannte Antwort: Bibel und Jesus

Die Streetchurch hilft zwar mit ihrem Beratungsangebot Jugendlichen bei Drogenproblemen, Wohnungsnot oder Arbeitslosigkeit und achtet dabei nicht auf deren Konfession. Doch im Gottesdienst beruft sie sich auf kirchliche Werte: «In einen Gottesdienst gehört eine Predigt. Die Jugendlichen sollen sich mit Bibeltexten auseinandersetzen», sagt Pfarrer Markus Giger. Seine Antwort auf die Suchtprobleme der Teenager ist altbekannt: Bibel und Jesus. Ob die Streetchurch damit die Konfirmanden, die sie mit Popmusik und Multimedia begeistert, überzeugen kann, ist fraglich.

Im Innern der Zürcher Kirche St. Jakob schmettert der R&B-Chor den Schlusssong ins Publikum. Draussen vor der Tür rauchen ein paar Konfirmanden, die sich schon vor dem Ende des Gottesdiensts abgesetzt haben. «Die Musik war super, aber der Pfarrer sprach zu viel, das war fast etwas sektiererisch», sagt Jeannine aus Dietikon. «Ich bin ohnehin nur da, weil ich mich konfirmieren lassen will.» Der Ausflug bringt ihr 40 Punkte für die Konfirmation statt bloss zehn für einen Besuch des Gottesdiensts in der eigenen Pfarrei. «Ich glaube nur ab und zu an Gott. Wenn zum Beispiel der HC Davos spielt, glaube ich sehr.» Jeannines Gott ist auf Stand-by. Sie ist nur für die sozial tolerierte Minimum-Religion empfänglich, der Kirchenbesuch bleibt Pflichtübung.

Quelle: Dominik Schenker

«Gott ist etwas Spirituelles. Fast alle Menschen haben einen Gott, aber jeder einen anderen.»
Ursin, 17 Jahre

Jugendliche: So glauben sie heute

Im Rahmen des laufenden Nationalen Forschungsprogramms «Religionen in der Schweiz» wurde kürzlich eine repräsentative Umfrage unter Jugendlichen durchgeführt. Sie stellt unter anderem fest, dass für christliche Jugendliche – mit Ausnahme der freikirchlich orientierten und der christlich-orthodoxen – Religiosität und religiöse Riten eine geringere Rolle spielen als für jugendliche Muslime und Hindus. Erklärt wird das damit, dass sich Jugendliche mit Migrationshintergrund stärker mit den kulturell-religiösen Wurzeln ihrer Herkunftskultur auseinandersetzen.

Quelle: Dominik Schenker

1) In die Vergleiche zwischen den Religionsgruppen wurden nur jene Gruppen einbezogen, die eine Mindestgrösse aufweisen, die statistische Analysen ermöglicht. So konnten etwa die jüdischen Jugendlichen mit einem Stichprobenumfang von 14 Personen in diesen Analysen nicht berücksichtigt werden. Quelle: Nationales Forschungsprogramm (NFP) 58 «Religionen in der Schweiz»: «Wertorientierungen und Religiosität – Ihre Bedeutung für die Identitätsentwicklung und psychische Gesundheit Adoleszenter». Umfrage bei 748 Jugendlichen aus der Deutschschweiz zwischen 13 und 16 Jahren Infografik: Beobachter/dr

Fotos und Zitate

Oliver Demont, Dominik Schenker:
«Ansichten vom Göttlichen.
22 Jugendliche»
Salis-Verlag
Zürich
2009
CHF 39.80

Quelle: Dominik Schenker