Mehr Frust als Lust
Knatsch mit Kollegen, Stress mit den Eltern, Druck in der Schule und im Job: Viele Jugendliche erleben ihren Alltag als anstrengend und belastend. Nicht alle halten den Druck aus – jeder fünfte Teenager klagt über psychische Störungen.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
Stark und ungebunden erobert man die Welt, alle Wege stehen offen, jeden Samstag steigt eine Megaparty. Fun ist angesagt. Jung sein ist herrlich!
Das suggeriert die Werbung, und so stellen sich das viele Erwachsene gern vor – wohl in Erinnerung an eigene (verklärte) Jugenderlebnisse.
Die Realität ist düsterer: Viele Jugendliche haben ernsthafte Probleme und fühlen sich gestresst. 70 Prozent leiden unter Prüfungsangst, 43 Prozent unter schwerwiegenden Problemen mit den Eltern. Der Stress bleibt nicht ohne Folgen: Jeder fünfte Jugendliche fühlt sich psychisch krank, und jeder siebte nimmt missbräuchliche Mengen Drogen.
Zu diesem Schluss kommt das Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich, das im Rahmen einer Nationalfondsstudie 1997 rund 1500 Jugendliche im Alter von 13 bis 20 Jahren im Kanton Zürich zu ihrer Situation befragt hat.
Drogen, Alkohol – und Depressionen
Ein ähnliches Fazit zieht der jüngst veröffentlichte Bericht schweizerischer Kinderschutzorganisationen zur Situation von Kindern und Jugendlichen: Wie die Erwachsenen leiden Teenager unter Leistungsdruck, Stress und Zukunftsangst; und wie bei den Grossen führt das zu Ess- und Schlafstörungen, Depressionen, Allergien sowie übermässigem Konsum von Drogen, Alkohol und Medikamenten.
Das Risiko, dass Jugendliche an einer Depression erkranken, hat sich seit den achtziger Jahren beinahe verdoppelt. Und jedes Jahr begehen rund 110 Jugendliche im Alter von 15 bis 20 Jahren Selbstmord. Damit weist die Schweiz unter den westlichen Industrieländern eine der höchsten Jugend-Selbstmord-Raten auf.
Natürlich zeigen die Studien auch, dass ein Grossteil der Jugendlichen mit ihrer Lebenssituation ganz gut zurechtkommen. Trotzdem machen sich Fachleute Sorgen um die heranwachsende Generation: «Das Ausmass der seelischen Not unter Jugendlichen ist alarmierend», warnt Psychologin Christa Winkler Metzke, die an der Zürcher Nationalfondsstudie mitgearbeitet hat. Die Gründe sind laut Winkler vielfältig: «Seit den achtziger Jahren haben sich die Perspektiven für die Jungen verschlechtert. Unsere komplexe Gesellschaft schürt Ängste und Verunsicherung. Längst nicht alle können damit umgehen.» Das Bild der starken, unverwüstlichen Jugend, das in den Medien portiert wird, verstärke die Unsicherheit.
Unbestritten mit Stress verbunden ist der Eintritt ins Berufsleben. Kein Wunder: In den neunziger Jahren hat sich sowohl die Lehrstellensituation als auch das Stellenangebot für frisch ausgebildete junge Arbeitnehmer drastisch verschlechtert. Ein 16-Jähriger, der schon 50 Absagen auf eine Bewerbung bekam, ein Zwischenjahr absolviert und dann wieder vergeblich eine Bewerbung um die andere schreibt, kann sich nicht besonders gut fühlen.
Schnelle Besserung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: «Auf die Jugendlichen kommt noch mehr Stress zu», prophezeit Heinrich Summermatter vom Bundesamt für Berufsbildung und Technologie. Die Lehrstellen sind zwar wieder zahlreicher, und die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich entspannt. Aber in den nächsten Jahren drängen mehr Junge in die Arbeitswelt. Und viele attraktive Zukunftsberufe in den Bereichen Computer und Kommunikation stellen so hohe Anforderungen an die Jungen, dass sie bereits in der Schule sehr stark gefordert sind.
Der Leistungsdruck setzt immer früher ein: «Der Stress beginnt oft schon in der Primarschule», sagt der Schulpsychologe Christian Waser. «Je näher der Ubertritt zur Oberstufe kommt, desto grösser wird auch der Druck.» Richard Müller, Leiter der Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme, doppelt nach: «Nie wird ein Mensch so stark über seine Leistung definiert wie in seiner Schulzeit. Und das nicht nur von den Lehrern, sondern auch von den Eltern und den Kollegen.»
So gesellt sich Sozialstress zum Leistungsdruck. «Die Kinder treiben sich gegenseitig an und entwickeln untereinander ein Konkurrenzverhalten, das bis zu Mobbing gehen kann», sagt Schulpsychologe Waser. Tatsächlich entwickeln bereits fünfjährige Kindergartenschüler Strategien, um andere auszugrenzen (siehe Artikel in Beobachter 23/99). Die Angst vor Ausgrenzung und Hänselei lähmt. Dagegen hilft auch keine Party.