Die Kleinsten werden die Ersten sein
Das Projekt Talent Eye erfasst bereits die sportliche Begabung von Siebenjährigen. Das Schwierigste ist dabei der Umgang mit ehrgeizigen Eltern.
Veröffentlicht am 27. Februar 2006 - 12:02 Uhr
Es scheint, als wäre der Reifen mit einem Gummiband an ihrem Körper fixiert – mit viel Geschick und hoher Körperspannung lässt die siebenjährige Lee-Ann Aerni das Sportgerät kreisen. Bei anderen dagegen fällt der Reifen zu Boden, kaum haben sie ihn auf Schulterhöhe losgelassen. 40 Erstklässler aus der Region absolvieren an diesem Mittwochnachmittag in der Turnhalle von Lausen BL ein Übungsprogramm, das ihre sportliche Begabung erfassen soll. Sie alle wollen ins Programm Talent Eye aufgenommen werden, das motorisch begabte Kinder fördert.
Beim Vorselektionstest werden an elf Stationen Schnelligkeit, Kraft, Beweglichkeit, Koordination und Ausdauer getestet. Im Parcours enthalten sind Sprint, Medizinballwurf, Balancieren und schnelles paralleles Hüpfen. In den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft bewerben sich gesamthaft 120 Unterstufenschüler um die 48 Plätze. Die meisten Teilnehmer sind von ihren Lehrern auf das Angebot hingewiesen worden, das Basel-Stadt und Basel-Landschaft sowie der nationale Sportdachverband Swiss Olympic und das Institut für Sport und Sportwissenschaften der Universität Basel (ISSW) initiiert haben.
Auf der Zuschauertribüne der Lausener Turnhalle haben sich Eltern und Geschwister der Hauptakteure eingerichtet. Es wird geplaudert, gestrickt, mit Puppen gespielt. Scheinbar gelassen beobachten Mütter und Väter die Einsätze ihrer Sprösslinge. Diese tragen Startnummern, damit sie für die Leiter – Studierende am ISSW – im Gewusel identifizierbar sind.
2004 haben die Sportämter der beiden Basel das Projekt Talent Eye gestartet. Die Nachwuchstalente trainieren im ersten Jahr zweimal wöchentlich, im zweiten einmal; dazu kommen Hausaufgaben – beispielsweise Koordinations- und Beweglichkeitsübungen. Den Unterricht erteilen Turn- und Sportlehrkräfte mit Erfahrung im Leistungssport, und einmal monatlich erhalten die Kinder Gelegenheit zu einem Schnuppertraining in einem Sportverein. Basel-Stadt und Basel-Landschaft steuern jährlich zusammen 50’000 Franken aus dem Sport-Toto-Fonds an das Projekt bei. Die Eltern müssen im ersten Jahr 300 Franken für die Förderung ihres Kindes zahlen, im zweiten 150.
Kindgerechte Basisausbildung
Inzwischen haben andere Kantone das Basler Modell kopiert oder adaptiert. Das Tessin, Schaffhausen und Graubünden – mit 13 dezentralen Trainingsstützpunkten in verschiedenen Talschaften – haben sich ebenfalls des Sportnachwuchses angenommen. Zudem fördert seit einem Jahr auch die Stadt Zürich talentierte Kinder.
Eben erst – am 1. März – hat die zweite Talent-Eye-Staffel begonnen. Nach Basler Vorbild trainieren 60 motorisch begabte Erstklässlerinnen und Erstklässler zusätzlich zum Turnunterricht in der Schule zweimal wöchentlich. «Wir streben eine polysportive und kindgerechte Basisausbildung an, eine frühe Spezialisierung wollen wir vermeiden», sagt Alexander Keller vom städtischen Sportamt. Jonglieren, Seilspringen, Spiele und musikalisch begleitete Übungen sind zentrale Inhalte. Das Zürcher Projekt, für das die Stadt insgesamt 100’000 Franken bereitstellt, ist auf drei Semester angelegt.
Ein Projekt wie Talent Eye sei lediglich eine punktuelle Massnahme, sagt Thomas Beugger vom basel-landschaftlichen Sportamt. Für eine Sportart wie Kunstturnen komme die Erfassung Begabter im frühen Primarschulalter bereits zu spät, für Orientierungslauf zum Beispiel dagegen noch zu früh. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass in diesem Alter beträchtliche Unterschiede in der Grösse und im Körperbau bestehen. Der Grund, das Projekt dennoch mit Siebenjährigen durchzuführen: In der ersten Klasse lässt es sich laut Beugger am besten in den Schulbetrieb integrieren. Bei der Selektion beziehe man Grösse und Gewicht der Kinder mit ein; Spätentwickler seien nicht benachteiligt.
Nach Abschluss von Talent Eye, ab der dritten Klasse, liegt es allein an den Vereinen und am Schulsport, den talentierten Nachwuchs weiter zu fördern. Da hapert es oft. Vielen Klubs fehlen qualifizierte Kindersport-Leiter, oder sie führen gar keine Abteilungen für die Jüngsten. Altersgerechte Förderung des Nachwuchses ist oft ein Fremdwort.
Sorgen macht den Verantwortlichen auch der Schulsport. Die alarmierende Zunahme von übergewichtigen und sportlich untätigen Kindern lässt das Schulturnen eher zur Bewegungstherapie verkommen. Wenn ein grosser Teil einer Klasse nicht einmal einen Purzelbaum zustande bringt, ist eine Förderung Begabter kaum möglich. Nun hoffen die Sportfunktionäre auf die kantonalen Erziehungsdirektoren, die letzten Herbst ein gemeinsames Bekenntnis zu vermehrter Bewegungsförderung in der Schule abgegeben haben.
Doch das föderalistische System erschwert ein einheitliches Vorgehen, zudem fehlen die Mittel. Schwierige Bedingungen für eine gezielte Nachwuchsförderung, denn die ist aufwändig: «Talente müssen aktiv gesucht und speziell betreut werden», sagt Erich Hanselmann, Nachwuchsverantwortlicher bei Swiss Olympic. «Begabte unter sich erzielen wesentlich grössere Fortschritte als in heterogenen Gruppen.»
In Lausen sind die Kinder – mehr als die Hälfte von ihnen trainiert bereits in einem Sportverein – sichtlich mit Spass bei der Sache. Nicht nur beim offerierten Zvieri. Die Übungen, die Projektleiter Lukas Zahner vom ISSW ausgetüftelt, standardisiert und ähnlichen Tests im Ausland angeglichen hat, verlangen von den Siebenjährigen volle Konzentration.
Nichts garantiert den Olympiasieg
Auf Zahner kommt die anspruchsvollste Aufgabe meist erst einige Wochen nach Auswertung des Tests zu: Es gilt, Müttern und Vätern der ausgewählten Kinder die Philosophie von Talent Eye zu vermitteln. Zahner staunt immer wieder, wie Eltern ihre Siebenjährigen auf sportliche Erfolge trimmen wollen.
Allwöchentlich Ballett, Turnen, Tennis oder zwischen Montag und Freitag vom Fussball- über das Handballtraining in die Jugendriege – am Informationsabend erklärt Projektleiter Zahner den Anwesenden, dass solcher Aktionismus kein polysportives Basistraining ersetzt. Und dass Talent Eye keinen zukünftigen Olympiasieg garantiert. Nicht alle wollens wahrhaben. Die Gefahr, dass ehrgeizige Eltern ihre Kinder für frühe sportliche Erfolge verheizen, ist mit gutem Zureden kaum abzuwenden – nach der Pubertät sind viele dieser Jugendlichen dann nicht mehr auf Sportplätzen anzutreffen.
Lee-Ann Aerni wäre gern bei Talent Eye dabei. Das sei eine «gute Chance für ein motorisch begabtes Kind», sagt ihre Mutter Franziska Aerni. Das Schulturnen reiche der Tochter bei weitem nicht, um den grossen Bewegungsdrang zu stillen.