Früher schickte man Kinder in die «Aufbewahrungs-Anstalt»
Kinderhorte gibt es seit mehr als 100 Jahren. Zu Diskussionen führen sie erst, seit Eltern ihre Kinder freiwillig dorthinschicken.
Veröffentlicht am 26. April 2011 - 08:42 Uhr
Der Fritzli, das Ursi, die Inge und das Fräulein Därner: Man spürt sofort, dass die vier viel zusammen erlebt haben. Eine verschworene Gemeinschaft – seit mehr als 60 Jahren. Kennengelernt haben sie sich indes nicht ganz freiwillig.
Fräulein Därner war Hortleiterin in der Stadt Zürich. 1944 trat sie ihre Stelle im Hort «In der Ey» an. Fritz Tischhauser, damals vier Jahre alt, war ihr erster «Hortinsasse» oder «Zögling», wie man die Hortkinder damals nannte. Die beiden Mädchen kamen kurz darauf zur Gruppe. «Wie der Kleine am Morgen meines ersten Arbeitstags dastand, mit seinen Finklein in der Hand, und sagte: ‹Ich bin der Fritzli und ich komme jetzt zu Ihnen.›» Das werde sie nie vergessen, erzählt die 89-jährige Ruth Därner.
Auch wenn es manche Politiker gern glauben machen würden: Kinderhorte gibt es nicht erst, seit sich die Frauen «selbst verwirklichen» wollen, sondern bereits seit Beginn der Industrialisierung. Der erste Kinderhort in Zürich wurde 1886 eröffnet, seit 1800 existierten sogenannte Kleinkindaufbewahrungsanstalten. Die kargen Löhne zwangen damals auch Mütter und ältere Geschwister in die Fabriken. So war niemand mehr da, der sich um die Kleinen kümmern konnte. Beherzte Lehrer wollten diese Kinder von der Strasse holen und ihnen «Erziehung angedeihen lassen».
Tatsächlich mussten die Kinder in den Horten nicht nur Hausaufgaben erledigen, es blieb auch Zeit fürs Vergnügen: «Wir nutzten die schönen Abende für Bewegungsspiele und die freien Nachmittage zum Ausfliegen», heisst es im ersten Wochenbericht des oben erwähnten Knabenhorts von 1886.
Gern schickte auch zu Fräulein Därners Zeiten niemand sein Kind in einen Hort. Wie viele Kinder ausserhalb der Familie betreut wurden, bestimmte die Wirtschaftslage. So besuchten während des Kriegs in der Stadt Zürich 1300 Kinder den Ferienhort – nach dem Wirtschaftsaufschwung waren es um 1965 nur noch 130. «Es kamen diejenigen, die keinen Vater mehr hatten, jene, bei denen beide Eltern arbeiten mussten, und die Armengenössigen», sagt Ruth Därner. «Die kamen, weil es bei uns etwas zu essen gab.»
Inge Werners Mutter zum Beispiel war alleinerziehend. Sie kam 1947 mit ihrer Tochter mit dem Flüchtlingstransport des Roten Kreuzes von Ostdeutschland in die Schweiz. Als sie hier Arbeit gefunden hatte, schickte sie ihre Tochter in den Hort. «Am Anfang weinte ich viel, aber mit der Zeit war es für mich als Einzelkind im Hort natürlich lustiger als zu Hause», so die heute 68-Jährige. Mit ihrem damaligen Gspäändli Ursi – Ursula Schmid – ist sie heute noch befreundet. «Wir haben viel gebastelt und gestrickt», erinnern sich die beiden.
Das Fräulein Därner habe sie sehr gern gehabt, obwohl sie streng gewesen sei, sagt Inge Werner. «Sie hatte uns Kinder fest im Griff. Sie brachte uns Respekt und Anstand bei, aber sie tröstete uns auch, wenn wir Sorgen hatten.» Grund dazu hatten viele der Kinder des Öfteren. Ohrfeigen und «Tatzen» von Lehrern waren für die Aufmüpfigeren an der Tagesordnung, und auch in manchen Familien war es, wie Ruth Därner sagt, «für die Kinder nicht immer schön».
Hortleiterinnen waren damals Erzieherinnen und Mutterersatz in einem. Die meisten Kinder kamen die ganze Woche, den ganzen Tag über. «Ich wusste von meinen Kindern alles», sagt Därner nicht ohne Stolz. Wenn ihr etwas «spanisch» vorgekommen sei, habe sie einen Hausbesuch gemacht. «Ich erinnere mich zum Beispiel an zwei Geschwister, die manchmal den ganzen Nachmittag auf unseren Militärpritschen verschlafen haben.» Beim Hausbesuch sah die Leiterin, dass die beiden daheim auf alten Zeitungen schlafen mussten, weil das Geld für ein Bett fehlte. «Solche Dinge sah ich oft», sagt sie. Sie stand in engem Kontakt mit der Fürsorge und sorgte dafür, «dass glueget wird». Wenn sie nicht sicher war, ob die Eltern mit dem Geld umgehen konnten, kaufte sie gleich selber ein.
Verdient habe sie für das, was sie geleistet habe, eigentlich immer zu wenig, sagt Därner. Ihr Beruf sei als blosses Kinderhüten abgetan und dementsprechend schlecht bezahlt worden. Etwas mehr als 300 Franken monatlich hat sie anfangs verdient, mit knapp 5000 Franken monatlich ging sie 1982 in Pension. «Ein typischer Frauenberuf halt», sagt die gelernte Heimleiterin. Bis in die siebziger Jahre war es für Männer gar nicht möglich, sich zum Hortleiter wählen zu lassen, und auch heute sind männliche Hortmitarbeiter die Ausnahme.
Die ehemalige Hortleiterin hätte sich nie etwas anderes vorstellen können. Die Arbeit mit den Kindern sei für sie mehr als ein Beruf gewesen – eine Berufung. Sie stört sich an der zunehmenden Akademisierung der Ausbildung. «Der Wunsch, mit Kindern zu arbeiten, muss im Herzen wachsen, nicht im Kopf.» Sie habe jedes einzelne «ihrer» Kinder geliebt. «Sie waren meine Familie», sagt Ruth Därner. Und das war zeitweise eine sehr grosse Familie: Mehr als 40 Kinder vom Kindergärtler bis zum Oberstufenschüler betreute sie manchmal. Allein. Nur über Mittag war man zu zweit.
Frau Därner, wie haben Sie das gemacht? «Es war schon streng», sagt sie. «Sie dürfen aber nicht vergessen, dass die Kinder damals anders waren – und die Eltern auch.» Was heisst das? «Wir mussten gehorchen», sagen die ehemaligen Hortkinder im Chor. «Den Teller leer essen, die Hausaufgaben machen und unsere Ämtli erledigen.» Widerspruch wurde nicht geduldet. Was ein Lehrer, ein Pfarrer oder ein «Fräulein» sagte, galt. «Anders wäre es nicht gegangen», sagt Ruth Därner. «Stellen Sie sich vor, wir haben zu zweit vierwöchige Ferienlager durchgeführt. Mit 23 Kindern. Ohne Geschirrspüler und Fertigprodukte.»
Und wie waren die Eltern? Sie seien mit allem in den Hort gekommen, mit den Einzahlungsscheinen, die sie nicht ausfüllen konnten, den Briefen, die sie nicht verstanden, und den Erziehungsproblemen. «Sie waren dankbar, dass sie uns die Kinder schicken durften. Bei Problemen haben sie auf unserer Seite gestanden und uns geholfen – und nicht den Kindern wie heute.»
«Heute» begann für Ruth Därner in den siebziger Jahren. Zum ersten Mal in der Geschichte suchten sich auch Frauen ohne finanzielle Not Tätigkeiten ausserhalb der eigenen vier Wände. Während zu Beginn die Hortkinder aus armen Verhältnissen stammten, war von den siebziger Jahren an die einzige Bedingung für einen Hortplatz der Besuch eines öffentlichen städtischen Kindergartens oder einer städtischen Schule. Mit anderen Worten: Die Frage, ob ein Kind ausserschulische Betreuung benötigte, wurde fortan den Eltern überlassen.
«Von da an konnten alle Frauen ihre Kinder abschieben», sagt das ehemalige Hortkind Fritz Tischhauser. Und auch Hans Georg Bodmer, von 1947 bis 1979 Zürcher Schularzt, betrachtete die Entwicklung mit Sorge: «Bei vielen Müttern geht das Gefühl dafür verloren, dass das Aufziehen der Kinder einen Menschen voll erfüllen kann, wenn er sich ganz hingibt», schreibt er im Abschiedsbericht zu seiner Pensionierung. Und: «Die Mütter reagieren mit Nervenzusammenbrüchen, weil sie die antiautoritären Sprösslinge nicht mehr ertragen.»
Weder Tischhauser noch Bodmer konnten die Entwicklung aufhalten. Ein Blick in die Statistik der Stadt Zürich zeigt es: Während es zum Beispiel 1965 insgesamt 51 Horte gab, waren es 1980 bereits 92, also fast doppelt so viele. 2005 verpflichtete sich die Stadt, die Zahl der Hortplätze der Nachfrage anzupassen und jedem Kind einen Platz zur Verfügung zu stellen. Heute werden 9839 Kindergarten- und Schulkinder in städtischen Horten betreut. Das sind 37 Prozent der Schülerinnen und Schüler. Glaubt man der Prognose des Schul- und Sportdepartements, werden es in naher Zukunft rund 70 Prozent der Kinder sein.
Doch allein der Emanzipation lässt sich diese Entwicklung nicht zuschreiben: 20 Millionen Arbeitskräfte fehlen Europa laut Analysten bis 2030. Abhilfe sollen einmal mehr die Frauen schaffen: «Zu lösen ist das Problem nur, wenn in Zukunft mehr Frauen einer bezahlten Arbeit nachgehen und trotzdem nicht auf Kinder verzichten», so Joakim Palme, Leiter des Instituts für Zukunftsforschung in Stockholm, in seinem Bericht zuhanden der EU-Kommission.
Die über 100-jährige Geschichte des Horts wird also so schnell nicht zu Ende gehen. Vieles hat sich verändert, einiges wiederum blieb gleich: So heisst es 1891 im Bericht zur Eröffnung des ersten Mädchenhorts: «Am besten wird der Mädchenhort seiner Aufgabe nachkommen, wenn man seine Insassen bei Sonnenschein und trockenem Wetter selten bei Hause findet; denn für Bleichsucht und Nervosität wird namentlich in den Städten anderweitig genügend gesorgt.»