Das Tuch der Tücher
Das geschichtsträchtige Palästinensertuch ist wieder en vogue. Landauf, landab tragen es Jugendliche um den Hals. Ist das politisch motiviert?
Veröffentlicht am 4. Juli 2008 - 13:50 Uhr
Kevin trägt das Tuch ab und zu. Linda bezeichnet sich als «Hardcore-Trägerin» und schlingt es auch im Freibad in der Sommerhitze um den Hals. Moritz hat es in den Varianten Schwarzweiss, Rot, Grün und Braun. Drei Jugendliche, die zwei Dinge verbindet: Sie alle tragen das gleiche Stück Stoff und wissen nicht genau, was es damit auf sich hat. Das Stück Stoff heisst Kufija, umgangssprachlich Arafat-Tuch, Palästinenser- oder Palituch genannt. Böse Zungen sprechen auch mal abschätzig vom «Wüstenlappen». All diesen Bezeichnungen ist gemein, dass sie die geographische Einordnung ins Morgenland ermöglichen. Genauer: In der irakischen Stadt Kufa am Euphrat war die Kufija seit jeher fester Bestandteil der Männerkleidung. Ihre Funktion: den Kopf vor gleissender Wüstensonne schützen.
Politische Signalkraft erlangte die Kufija erstmals beim arabischen Aufstand der Palästinenser 1936, als sich Bauern bewaffnet gegen die britische Kolonialherrschaft und die jüdischen Einwanderer erhoben. Ins Rampenlicht der Weltpolitik kam sie durch Jassir Arafat. Erst nutzte er das Tuch als identitätsstiftendes Symbol im Kampf gegen Israel, später staatsmännischer als Präsident der palästinensischen Autonomiegebiete (siehe nachfolgende Box «Jassir Arafat: Sein Markenzeichen»). In den späten sechziger Jahren gelangte das Tuch als Widerstandssymbol in linke westliche Jugendkulturen. Es war die Zeit, als junge Menschen lautstark gegen Kriege, die Atomkraft und ganz allgemein für eine bessere Welt auf die Strasse gingen.
«Die Kufija in dieser ideologisierten Zeit zu tragen war eine starke politische Aussage des Widerstands und erzeugte unter den jugendlichen Trägerinnen und Trägern ein Zusammengehörigkeitsgefühl», erklärt Gisela Unterweger, Kulturwissenschaftlerin am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich. Die Solidarität der Jugendlichen mit dem palästinensischen Freiheitskampf und dem damit verbundenen Terrorismus gegen Israel stiess aber auch auf Kritik. So erinnert sich Unterweger an ihre eigene Teenagerzeit in den Achtzigern, als sie selbst das Arafat-Tuch trug: «Eine Freundin von mir, die das Tuch ebenfalls tragen wollte, bekam seine Brisanz von ihrer jüdischen Mutter zu spüren: Sie verbot ihr das Tragen.»
Jugendliche, die das Tuch aus rein politischer Motivation tragen, sind heute selten zu finden. Stefanie gehört zu ihnen. Sie verkehrt in der linksautonomen Szene im Grossraum von Zürich und möchte weder mit echtem Namen noch mit Bild erscheinen. «All diese Modefuzzis nerven mich, die haben keine Ahnung, was das Tuch bedeutet», echauffiert sie sich. Und warum trägt sie die Kufija? «Mit dem Tuch zeige ich meine Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Ich trage es aber auch als eine Message gegen die Politik von Israel und den USA.»
Zum Ärger von Stefanie tragen seit Mitte der neunziger Jahre auch Rechtsextreme die Kufija. Thomas Gabriel, Leiter der sozialpädagogischen Forschungsstelle der Universität Zürich, erklärt: «In der massiven Kritik an Israel und Amerika treffen sich Links- und Rechtsextreme. Rechtsextreme sind getrieben von Antisemitismus, Linksextreme kritisieren die von Amerika unterstützte Politik Israels gegenüber den Palästinensern. Es ist heute nicht einfach, anhand von politischen Symbolen auf die Gesinnung einer Person zu schliessen.»
Linda, Moritz und Kevin tragen die Kufija unisono hauptsächlich aus modischen Gründen, schätzen aber unterschiedliche Eigenschaften an ihr. Linda gefällt, dass sie mit dem Tuch auch ein wenig «verhängt» wirkt. Und sie nervt sich wie Stefanie, dass es nun alle tragen: «Als ich vor drei Jahren begann, das Arafat-Tuch zu tragen, hatte es noch fast niemand. Kollegen fragten mich damals, was für ein gruusiges Tuch ich da trage. Und heute haben genau diese Kollegen das Tuch auch an.»
Kevin und Moritz finden die Kufija «einfach schön» und die wärmende Eigenschaft in kalten Wintermonaten praktisch, die Geschichte ihres Accessoires kennen sie aber nicht. Sie erahnen sie höchstens: «Ich weiss, dass es die Araber in der Wüste trugen als Schutz vor dem Sand», meint Kevin. Linda erinnert sich: «Da gab es doch diesen Arafat-Typen. Der kämpfte für irgendwas, aber ich weiss nicht mehr genau, für was.» Kulturwissenschaftlerin Unterweger glaubt, dass bei politischen Symbolen aus der linken Szene auch heute noch positiver Idealismus mitschwingt, selbst wenn die Jugendlichen die genaue Geschichte nicht kennen. «Auch wenn die politische Botschaft eines Symbols mit der Zeit verblasst, bleibt vielleicht doch etwas übrig von dessen ursprünglicher Idee.»
Der Kufija-Trend geht bald zu Ende
Wann startete eigentlich das Comeback der Kufija in diesem Jahrzehnt? «Vor rund fünf Jahren», sagt der Experte Yannick Aellen, Kenner der internationalen Modeszene. Allerdings entstand der Trend nicht in den Haute-Couture-Hochburgen Paris oder Mailand: «Die Kufija startete ihr Comeback in London, Berlin, New York oder Antwerpen. In Städten, wo sich die Mode näher an den Menschen auf der Strasse und in den Vororten orientiert.» Dann ging die Kufija laut Aellen den Weg aller angesagten Modeaccessoires: «Nachdem Designer und die Modeszene einen Trend produzieren, wird er von prominenten Trägerinnen und Trägern aufgenommen. Kurze Zeit später laufen bereits Jugendliche in Scharen damit herum. Das funktioniert übrigens auch bei den Erwachsenen.»
Moritz und Kevin müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich der Kufija-Trend bald seinem Ende zuneigt. Zumindest prophezeit das Modespezialist Aellen: «In ein paar Monaten wird der Massentrend abflauen. Und für die Modemacher ist das Arafat-Tuch bereits längst vorbei.»
Linda kümmert das wenig: «Das Laufstegzeugs find ich eh gruusig. Ich lasse mich nicht beeinflussen von dem und laufe so herum, wie es mir gefällt.» Als bekennende Dauerträgerin der Kufija will sie ihr auch über den Trend hinaus treu bleiben.
Und Moritz und Kevin? Sie können sich bereits auf künftige Modeaccessoires freuen. Vielleicht folgt ja pünktlich zu den olympischen Spielen in China das modische Revival des von Mao getragenen Zhongshan-Anzugs? Oder doch eher etwas tibetisch Angehauchtes?
Jassir Arafat: Sein Markenzeichen
Jassir Arafat ist Student, als am 14. Mai 1948 der Staat Israel im Nahen Osten gegründet wird. Mit der Staatsgründung Israels werden auch die von den Palästinensern bewohnten Gebiete besetzt. Arafat wird zur wichtigsten und gleichzeitig umstrittensten Figur im Kampf um die Befreiung Palästinas. Sein Ziel: Die Gründung eines eigenen Staates. 1956 trägt er das erste Mal in Prag an einem internationalen Studentenkongress die Kufija. Sie wird zeitlebens zur Begleiterin bei all seinen Auftritten in der Weltöffentlichkeit. Er drapierte sie jeweils so, dass sie die Umrisse Palästinas auf seiner Stirn zeigte.
Von der Provokation zum Massenphänomen
Ikonen, Symbole und Accessoires - was Jugendliche heute unbekümmert als Mode tragen, galt vor nicht allzu langer Zeit als Provokation und Bekenntnis. Selbst die heute von Krethi und Plethi getragene Jeans sorgte vor 40 Jahren schon mal für Familienkrach.
Che Guevara
Der kubanische Revolutionsführer muss heute für alle möglichen Zwecke herhalten. Auf T-Shirts und Umhängetaschen prangt Schwarz auf Rot die Ikone der 68er Generation: der heroisch-traurige Che, fotografiert von Alberto Korda. In den siebziger Jahren verlangten Mütter ultimativ die Entfernung des Che-Posters aus der Jugendbude, heute kennt selbst die kapitalistische Wirtschaft keine Berührungsängste mit ihm. So wirbt zurzeit ein bekannter Telekommunikationsanbieter mit dem Konterfei des kommunistischen Revolutionärs. Die Kampagne suggeriert eine politische Aktion für ein «freies Internet», sprich: kostenlosen Internetzugang. Tatsächlich gilt das Angebot nur im Paket mit anderen kostenpflichtigen Angeboten.
Buttons
Die Ansteckplaketten aus Blech und Kunststoff sind auch heute noch am Revers oder an Umhängetaschen bei Jugendlichen zu finden. Besonders beliebt waren die Buttons bei den Punks und in linksalternativen Kreisen, um die Botschaften an die Frau oder den Mann zu bringen. Eines der bekanntesten Motive war die rote Sonne auf gelbem Hintergrund mit dem Slogan «Atomkraft? Nein danke» in den Achtzigern. Heute kommt kaum eine Kleiderkette mit jugendlichem Publikum ohne Buttons im Angebot aus. Verschwunden sind allerdings die politischen Slogans.
Jeans
Was heute in der Freizeit jeder trägt, galt in den Fünfzigern als die Provokation schlechthin: die Jeans, ein Importschlager amerikanischer Soldaten der Nachkriegszeit. Jugendliche und Halbstarke trugen sie als Zeichen des Protests gegen das spiessig-verkorkste Bürgertum und dessen Moralvorstellungen. In den Sechzigern folgte der endgültige Durchbruch der Nietenhosen bei der Jugend, als sie von Schauspielern wie James Dean und Marlon Brando auf der Leinwand getragen wurden. Auch wenn heute die amerikanische Arbeiterhose in allen Gesellschaftsschichten etabliert ist: Wer damit an formellen Anlässen auftaucht, riskiert noch immer kritische Blicke.
Rosenkranz
Gross war die Entrüstung der katholischen Kirche, als die Sängerin Madonna in einem sexuell aufgeladenen Musikvideo ein grosses Kreuz im tiefen Dekolleté trug. Auch Fussballer David Beckham musste sich einiges an Kritik katholischer Würdenträger anhören, als er sich beim Modeshooting mit einem Rosenkranz schmückte. Es dauerte nicht lange, bis die Gebetskette im Modefundus der Jugend landete. Heute trifft man in fast jedem Klub auf männliche Jugendliche, die den Rosenkranz tragen. Kaum einer will dabei Katholiken provozieren - er wird einfach als angesagtes Accessoire umgehängt.