Als die 40-jährige Franziska Muheim mit dem Kinderwagen durchs Quartier schlenderte, wurde sie von einer Nachbarin gefragt, ob sie denn nun die Mutter oder die Grossmutter des Babys sei. Überhaupt ist sie etlichen schrägen Blicken begegnet – wohl auch deshalb, weil ihr ältester Sohn fast schon erwachsen ist. Zur selben Zeit aber riefen haufenweise gleichaltrige Kolleginnen an und bestürmten sie mit Fragen: «Wie ist es? Hattest du eine gute Schwangerschaft? Meinst du, ich sollte auch...?»

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Überraschend viele Frauen mit Erfolg im Beruf werden mittlerweile zu begeisterten Müttern. «Besser eine freudestrahlende Mutterschaft», so die Pariser Bestseller-Autorin Benoîte Groult, «als das höllische, einsame Leben jener Frauen, die ihrer Karriere den Vorzug geben.» Die späte Mutterschaft kann fast schon als Boom bezeichnet werden. Bald jedes vierte Kind wird von einer über 35-Jährigen geboren – Tendenz steigend. Die Prominenten machen es vor: Popsirene Madonna wurde Mutter mit 42, Cherie Blair, die Frau des britischen Premierministers, mit 46, die Schauspielerin Jane Seymour mit 44 und die amerikanische Starfotografin Annie Leibovitz sogar mit 51 Jahren.

Das Kind kommt vor der Karriere
Der Wertewandel ist radikal: Noch in den Siebzigern galten Kinder als schwerste Kette des weiblichen Geschlechts. Oberstes Ziel jeder modernen Frau waren Selbstständigkeit und berufliche Entwicklung. In den Neunzigern wurde dann das Superweib neue Leitfigur, die Mutter- und Berufsrolle unter einen Hut brachte.

Doch nun hat auch dieses Bild Kratzer bekommen: Das Doppelglück entpuppte sich bei den meisten als Doppelstress. Auch bei Franziska. Sie raste wenige Monate nach der Geburt ihrer ersten beiden Kinder bereits wieder als Reporterin umher, weil sie nicht wollte, dass ihr Mann allein den Familienunterhalt bestritt. Zwischen Windelnwechseln, Schreiben, Kochen, Redaktionssitzung und Einkauf versuchte sie auch noch, ihr Studium fortzusetzen. Bis sie erschöpft zusammenklappte.

Zwar sind sich die meisten Frauen einig, dass es ideal wäre, die Betreuungs- und Hausarbeit mit dem Partner zu teilen, ja dass es eigentlich so sein müsste. Aber falls sich dies nicht arrangieren lässt, sind sie überraschend schnell bereit, die eigene Karriere zurückzustellen. Auch für Franziska lautet die Frage heute nicht mehr: «Wie kann ich meinen Job mit der Mutterschaft vereinbaren?» Sondern umgekehrt: «Wie lässt sich meine Mutterschaft mit dem Beruf vereinbaren?»

Wie vollzog sich dieser Wertewandel? Franziska Muheim zögert, nutzt die Pause, um ihr Baby an die andere Brust zu setzen. Doch, da habe es ein einschneidendes Erlebnis gegeben, sagt sie: den Tod ihres Vaters. Ein Arbeitstier, so lange sie ihn kannte, als Wissenschaftler gerühmt und zitiert, bis er mit 64 plötzlich tot umfiel – Herzinfarkt. Zu sehen, wie von einem Tag auf den anderen alles vorbei sein kann, das habe ihr vor Augen geführt, «dass es im Leben Wichtigeres gibt als die Karriere».

«Immer mehr Frauen mit guten Ausbildungen sind nicht mehr bereit, eingleisig auf den Beruf zu setzen» , bestätigt der Zürcher Sozialwissenschaftler François Höpflinger. «Man will verschiedene Aspekte des Lebens erfahren.» Ein Wertewandel, der sich auch bei den jungen Männern abzeichnet: «Das Bedürfnis nach Teilzeitstellen wächst», so Höpflinger, «und in Umfragen werden Familie, Beruf und Freizeit als etwa gleich wichtig bewertet.»

In der Theorie zumindest, denn sobald es an die Umsetzung geht, sind es doch wieder die Frauen, die vorwiegend für Kinderbetreuung und Haushalt zuständig sind. Schuld sind die familienunfreundlichen Strukturen: Was die Höhe der Kinderzulagen und das Angebot an Kinderbetreuung betrifft, liegt die Schweiz im europäischen Vergleich durchwegs auf den hinteren Rängen.

Das Revival der Mutterrolle ist aber nur ein Grund für späte Schwangerschaften. Ein anderer liegt darin, dass sich die Lebenszyklen nach hinten verschoben haben: Aufgrund von längeren und besseren Ausbildungen ist die Familiengründung immer später ein Thema. Wegen besserer Ernährung sind die Frauen länger fruchtbar. Dank medizinischen Fortschritten bleiben Männer und Frauen länger gesund. «Wer heute mit 45 Mutter wird», so der Pillenerfinder Carl Djerassi, «kann ein Kind länger begleiten als eine Frau vor 100 Jahren, die mit 20 Mutter wurde und eine Lebenserwartung von 45 hatte.»

Dass Schwangere ab 36 in der Medizin als «Altgebärende» bezeichnet werden, empfindet Susann Mäusle deshalb als Frechheit. Die 44-jährige Geschäftsführerin des Schweizer Grafikerverbands hat sich Ende 30 relativ spontan zu einem Kind entschlossen, «und zwar ganz und gar nicht aus einer Torschlusspanik heraus». Sie habe vorher einfach nie das Bedürfnis verspürt. «Wahrscheinlich bin ich zu gern ausgegangen, als dass ich mich wegen eines Kindes hätte einschränken wollen.»

Doch dann, mit 37, 38, hatte sie mehr und mehr das Gefühl, dass da eigentlich genug Platz für ein Kind wäre. Auch die Psychologinnen Berryman, Thorpe und Windridge kommen in ihrem Buch «Mut zur späten Schwangerschaft» zum Schluss, «dass die Beziehung der Eltern zum Kind umso besser, die Zufriedenheit mit dem Elternsein umso grösser und der Grad des Wohlbefindens umso höher ist, je älter die Eltern sind».

40 Jahre und kein bisschen alt
Trotzdem lässt sich eines nicht verleugnen: Die Chance, schwanger zu werden, nimmt mit zunehmendem Alter ab, das Risiko, ein behindertes Kind zu kriegen, hingegen zu. Doch dank Pränataldiagnostik ist es möglich, bestimmte Erkrankungen des Kindes, darunter auch das Down-Syndrom, zu erkennen. Was die Eltern dann allerdings vor das Dilemma stellen kann, sich für oder gegen ein behindertes Kind entscheiden zu müssen.

Susann hatte Glück: Ihr Töchterchen Selma ist gesund und munter. Und wenn das Mädchen ein Einzelkind ist, dann nicht deshalb, weil seine Mutter für eine weitere Schwangerschaft zu alt gewesen wäre, sondern weil sich zwei Kinder weniger gut mit dem Berufsleben vereinbaren liessen. «Aber wenn mich plötzlich die Lust auf ein weiteres Kind überfallen sollte, würde ich keinen Moment lang zögern», sagt Susann Mäusle, «denn alt fühle ich mich noch lange nicht!»