Zirkusschule fürs Leben
Der Zirkus Chnopf ist kein Zirkus, wie man ihn sich vorstellt – und er nimmt Jugendliche mit auf Tournee. Ganz ohne Schule verläuft deren Sommer aber nicht.
Veröffentlicht am 31. August 2009 - 21:11 Uhr
Was gehört zu einem richtigen Zirkus? Sägemehl und Zelt? Wilde Tiere und Dompteure? Clowns und ein Zirkusdirektor? Der Zirkus Chnopf ist ein Freilichtspektakel – er hat weder Zelt noch Manege und schon gar keine wilden Tiere. Und trotzdem: Das ist Zirkus pur. Artistik, Theater, Musik und Tanz verschmelzen zu einer Einheit und lassen das Publikum abheben. Emotional.
Wie kommt das? Das Stück zum 20-Jahr-Jubiläum des «Chnopf» heisst «En Mémoire – Im Andenken an unsere Eltern François und Deborah Delon» und beginnt düster. Die Eltern einer Zirkusfamilie sind verstorben, nun streiten sich ihre Kinder, wie die Eltern bestattet werden sollen und wie es weitergehen soll mit dem Familienzirkus. Da fliegen die Fetzen, es wird gestritten, musiziert, getanzt, geturnt und geweint. Die Geschichte ist nicht ganz einfach, manchmal derb, oft aber auch sanft und poetisch – und etwas verworren. Und immer wieder lockern akrobatische Einlagen am Boden, auf dem Seil, am Tuch oder am hoch in der Luft hängenden Ring die Szenen auf. Und ganz am Schluss, das sei hier verraten, wird der Zirkus natürlich weitergeführt, und die Geschwister finden sich wieder. Herzerwärmend; phantastische Zirkuswelt.
Das Stück hat bei aller Phantasie durchaus Bezüge zur Realität: Ein Neuanfang steht auch dem Zirkus Chnopf bevor. Die beiden Co-Direktoren Nadja Breitenstein, 28, und Michael Finger, 34, sind sich einig: «Der ‹Chnopf› muss sich weiterentwickeln, neue Formen sind gefragt.» Weg vom herzigen Kinderzirkus, hin zu Themen und Stücken, die alle bewegen. Und ganz wichtig: «Zirkus als Lebens- und Arbeitsgemeinschaft soll noch stärker gewichtet werden», so Autor und Schauspieler Michael Finger. Finger hat zwei Kinder, neun und zwölf Jahre alt, die gerade die Sommerferien im Zirkus verbracht haben. Nächste Saison werden sie die ganze Tournee dabei sein. «Wir wollen noch mehr generationenübergreifend arbeiten», so Breitenstein und Finger einstimmig.
Weiterhin wichtig ist ihnen die Jugendförderung. Jede Saison arbeiten fünf bis sechs Jugendliche im 18-köpfigen Zirkusensemble mit. Sie fehlen zwar ein halbes Jahr in der Schule, doch eine Lehrerin reist mit und unterrichtet sie im Zirkuswagen. Die Jugendlichen spielen in der Show mit und müssen auch sonst überall mit anpacken. Beim Auf- und Abbau, sie fahren Traktor – so sie denn schon die Autoprüfung haben –, sie schminken, waschen ab, verlegen Leitungen und streichen Wagen. Am liebsten würden Breitenstein und Finger baldmöglichst eine dreijährige Artistenausbildung für die Jungen anbieten – in Zusammenarbeit mit anderen Schauspiel- und Zirkusschulen. Das ist aber noch Zukunftsmusik.
Elia aus Laufen BL würde liebend gern eine solche Ausbildung absolvieren. Der hübsche Lockenkopf ist mit einer Begeisterung bei der Sache, die ansteckt. Der 17-Jährige jongliert, spielt Diabolo, Schlagzeug und Klavier und schauspielert. Schon als Zehnjähriger hat er sich bei einem Kinderzirkus engagiert und war dort sieben Jahre aktiv. Sein Einsatz beim Zirkus Chnopf sei «nur eine logische Fortsetzung», erklärt er.
Auch Naëmi, 16, und Christa, 19, sammelten bereits Erfahrungen in Kinder- und Jugendzirkussen, bevor sie beim «Chnopf» anfingen. Die beiden jungen Frauen absolvieren hier bereits ihre zweite Saison. «Das ist schon eine spezielle Welt hier», so Naëmi aus Fällanden ZH. Die Gymnasiastin streicht sich die langen Haare aus dem Gesicht und lächelt gedankenverloren. «Als ich letzten Herbst wieder nach Hause zurückkam, da fand ich es richtig langweilig, immer nur in meinem Zimmer zu sein mit der ewig gleichen Aussicht.» Sie liebe das Umherziehen, die ständig wechselnden Aufführungsorte. «Wir leben hier in einer grossen Familie, das ist genial.»
«Mega cool», «toll», «super», so bezeichnen alle Jugendlichen ihre Zeit im Zirkus. Und trotz teils mühsamen Diskussionen mit ihren Schulen zu Hause möchten alle unbedingt ihre Schulausbildung beenden, bevor sie sich – wahrscheinlich – für eine künstlerische Karriere entscheiden werden.
Pech gehabt hat diese Saison Christa aus Villarsel-sur-Marly FR. Die 19-Jährige stürzte nach der dritten oder vierten Aufführung bei den Proben schwer: «Ich flog aus der Luft mit dem ganzen Gewicht auf meinen Arm.» Ergebnis: ausgerenkter Ellbogen. Eine schmerzhafte und langwierige Sache. Christa kann nur mit eingebundenem Arm schauspielern, Akrobatik liegt gar nicht drin. Wie viel Energie in der kleinen blonden Person steckt, sieht man aber, wenn sie in der Show die Zirkusdirektorin gibt. Sie brüllt und schreit herum, als ob sie noch nie etwas anderes getan hätte.
«Unsere fünf Jugendlichen sind toll. Ich würde sie alle auf der Stelle fest engagieren, wenn sie denn wollten», so Co-Direktor Michael Finger anerkennend. So viel Energie, «Unverkopftheit» und Einsatz, wie die fünf mitbrächten, das sei schon sehr speziell und würde ihnen allen guttun.
Eine Glocke klingelt. Mittagszeit. Alle 18 Zirkusleute versammeln sich vor dem Küchenwagen und essen zusammen. 13 Ensemble-Mitglieder sowie Techniker, Lehrerin, Köchin und die Produktionsleiterin. Die Küche ist so etwas wie das Herz des «Chnopf». Hier hängt man rum, isst, trinkt und redet und redet.
Lehrerin Angelika Steiner, 24, erzählt von ihren anderthalb Jahren in der Mongolei. An der Universität von Khovd, 1500 Kilometer westlich der Hauptstadt Ulan-Bator, unterrichtete sie Studenten in Deutsch. Die ausgebildete Primarlehrerin lacht: «Nach solchen Erfahrungen erschüttert dich nichts mehr.»
Auch sie ist begeistert von «ihren» Schülern und staunt vor allem über deren Selbstdisziplin und darüber, wie gut sie sich selber organisieren können. Der Unterricht im roten Schulwagen ist speziell: Christa will das Wort «Katechismus» erklärt haben, Nina hat Probleme mit französischen Vokabeln, und Paula versteht etwas Mathematisches nicht. «Ich bin schon ziemlich gefordert», so Steiner, «aber das macht Spass.» Nur bei Naëmis Lateinaufgaben kann sie gar nicht helfen. Naëmi nimmts sportlich: «Latein hole ich dann daheim in den Herbstferien nach. Hier lerne ich jetzt anderes.» Sagts und vertieft sich wieder ins Buch «Anna Göldin».
Am frühen Nachmittag beginnt das Team mit Einrichten, Einsingen und Einspielen. Sie verlegen Kabel, trällern Tonleitern und üben verschiedene Szenen des Stücks. Bald schon strömt das Publikum herbei. Zuvorderst nehmen die Kleinen Platz, hinten die Eltern und andere Zirkusbegeisterte. Programmhefte und Popcorn werden verkauft. «Manchmal kriegen wir krasse Reaktionen», erzählt Co-Direktorin Nadja Breitenstein. Viele Leute hätten den klassischen Zirkus im Kopf und könnten zuerst nichts anfangen mit ihrer Art von Zirkus. «Oder sie finden die Geschichte zu schwierig; das sei nichts für Kinder, wegen Tod und Urnen und so.» Breitenstein nimmts gelassen. «Hauptsache, es passiert etwas mit den Leuten.» Sie geht sich schminken. Gleich beginnt die Show, und die Emotionen werden wieder hochgehen.
So kommt man zum Zirkus
Interessierte Jugendliche stellen sich bis spätestens 30. September in einem Brief vor und begründen, warum sie zum Zirkus wollen. Im Oktober oder November findet ein Vorstellungs- und Informationstag statt (Audition), auch für die Eltern. Fünf bis sechs Jugendliche werden ausgewählt. Je nach Kanton müssen sie sich 14 bis 16 Wochen von der Schule beurlauben lassen. Der Elternbeitrag pro Jugendlichen beträgt 3800 Franken pro Saison. Inbegriffen sind Training, Betreuung, Schulunterricht, Kost und Logis. Das Mindestalter für die Teilnahme beträgt 13 Jahre.
Kontakt:
Zirkus Chnopf
Postfach 1101
8021 Zürich
Telefon 079 449 63 00
E-Mail: chnopf@chnopf.ch
www.chnopf.ch
Tournee: Mitte Juni bis Anfang Oktober (Orte und Daten auf der Homepage)