«Tökterle» darf sein
Viele Eltern sind verunsichert im Umgang mit kindlicher Sexualität. Was ist normal – und wo muss eingegriffen werden? Die Pädagogin Corina Elmer weiss Rat.
Veröffentlicht am 10. Oktober 2005 - 15:30 Uhr
Beobachter: Die vierjährige Rea tollt mit den Kindern einer befreundeten Familie herum. Sie spielt einen Hund, der alles ableckt – auch das Glied des achtjährigen Bruno. Die Eltern sind schockiert. Wie kommen die Kinder plötzlich auf solche Spiele?
Corina Elmer: Eigentlich ist es normal, dass Kinder sexuell neugierig sind und ihren Körper erforschen möchten, auch die Genitalien. Normalerweise wird diese Neugier nur gegenüber Kindern mit gleichem Entwicklungsstand ausgelebt. Bei Rea und Bruno ist das nicht der Fall; die Eltern sollten deshalb genau nachfragen und Rea in Zukunft vor weiteren sexuellen Aktivitäten mit Bruno schützen.
Beobachter: Zweiter Fall: Die siebenjährige Lea spielt im Kinderhort mit Gleichaltrigen in einem Zelt. Plötzlich legt sich Ivan auf sie und steckt ihr die Zunge in den Mund. Sein Freund hält draussen Wache, Lea kann nicht mehr weg.
Elmer: Auch hier müssen die Erwachsenen aktiv werden, denn es handelt sich klar um einen Übergriff. So genannte Doktorspiele, das «Tökterle», bei denen sich die Kinder mit dem Körper beschäftigen, müssen immer für beide Seiten freiwillig sein – es darf kein Zwang ausgeübt werden.
Beobachter: Wie sollen Erwachsene eingreifen?
Elmer: Viele Eltern haben keine Mühe, klare Grenzen zu setzen bei aggressivem Verhalten der Kinder. Wenn es um Sexualität geht, sind sie verunsichert. Wichtig ist, das Opfer vor weiteren Übergriffen zu schützen. Dann muss man dem «tätlichen» Kind klar machen, dass seine sexuelle Neugier nicht falsch ist, es aber mit seinem Handeln die Grenzen eines anderen verletzt hat und dass Grenzverletzungen prinzipiell nicht toleriert werden.
Beobachter: Soll ein solcher Vorfall gegenüber den Kindern eher aufgebauscht oder verharmlost werden?
Elmer: Eltern sollen nicht hysterisch reagieren, sondern bei den Kindern ruhig nachfragen, was geschehen ist. Oft sind die Handlungen für die Kinder nicht so schlimm wie für die Erwachsenen. Vielleicht wussten die Kleinen gar nicht, was sie taten – dann schadet das Aufbauschen. Handelt es sich aber wirklich um einen sexuellen Übergriff, darf er nicht verharmlost werden: Kinder müssen lernen, sich in andere Menschen einzufühlen und Grenzen zu respektieren.
Beobachter: Wann müssen Fachleute beigezogen werden?
Elmer: Weitere Abklärungen sind nötig, wenn sich Übergriffe wiederholen. Oder wenn Mädchen oder Jungen immer wieder Sexualität von Erwachsenen wie Oral- oder Analverkehr nachspielen. Derart sexualisiertes Verhalten kann ein Indiz sein, dass das Kind selber etwas erlebt hat, was es auf diese Weise zu verarbeiten sucht.
Beobachter: Was ist denn tolerierbares «Tökterle»?
Elmer: Durch Doktorspiele experimentieren Kinder auf spielerische Art mit Sexualität. Wenn folgende Regeln befolgt werden, sollten Eltern nicht eingreifen:
- Jedes Kind bestimmt selbst, mit wem es Doktor spielen will.
- Die Kinder streicheln und untersuchen sich nur so viel, wie es für sie selber und für andere schön ist.
- Kein Kind darf einem anderen wehtun.
- Wesentlich ältere Kinder und Erwachsene haben beim «Tökterle» nichts zu suchen.
Beobachter: Können Eltern also achtjährige Mädchen und Knaben getrost unbeaufsichtigt nackt miteinander spielen oder Zehnjährige im gleichen Zimmer schlafen lassen?
Elmer: Daheim ja – solange das für die Kinder kein Problem ist. Oft haben die Eltern aber selber ein schlechtes Gefühl dabei; dann müssen sie dies den Kindern auch genau so sagen und ihnen nicht das Gefühl geben, dass Sexualität etwas Schlechtes sei. In der Schule oder im Hort gelten andere Regeln: Ab der Mittelstufe schlafen Mädchen und Jungen in Lagern üblicherweise nicht mehr im gleichen Raum.
Beobachter: Wie können Eltern eine gesunde sexuelle Entwicklung ihrer Kinder fördern?
Elmer: Kinder sind von Natur aus neugierig und wollen ihren Körper wie auch jenen von anderen Kindern erforschen. Aufgabe von Erwachsenen ist es, Kindern einen Raum zu lassen, in dem sie geschützt vor sexuellen Übergriffen ihre Sexualität entdecken und selbstbestimmt leben können. So erleben Kinder Sexualität als positive Lebensenergie und können eine bejahende und lustvolle Einstellung zum eigenen Körper behalten. Wer seinen Körper kennt und lieb hat, dem wird es auch eher möglich sein, Nein zu sagen, wenn eine Grenze überschritten wird. So wirkt «Tökterle» zusammen mit einer altersgerechten Sexualaufklärung auch präventiv gegenüber sexuellem Missbrauch.
Adressen
- Limita Zürich, Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung von Mädchen und Jungen, www.limita-zh.ch
- «Lust und Frust», Fachstelle für Sexualpädagogik, www.lustundfrust.ch
- Infoseite für Jugendliche, unter anderem zu Fragen rund um Sexualität: www.tschau.ch