Bis den Eltern die Ohren wackeln
Obszöne Schimpfwörter gehören auf dem Spielplatz zum Umgangston. Wie sollen Eltern reagieren, wenn Kinder sie nach Hause bringen?
Veröffentlicht am 15. August 2005 - 17:28 Uhr
Die vierjährige Zoë war ausser sich vor Wut. Die Mutter hatte sie mehrmals aufgefordert, mit dem Schaukeln aufzuhören, weil es Zeit war, heimzugehen. Nichts passierte. Da stoppte die Mutter selber die Seile. Und in diesem Moment schrie die Kleine sie an: «Du huere Figgerin!»
Natürlich hatte das Mädchen keine Ahnung, was sie da sagte. Konnte sie ja gar nicht in diesem Alter. Klar, ein Schimpfwort, und zwar ein ziemlich wüstes, eines mit Wirkung, das wusste sie. Und sie traf auch voll ins Ziel: Die Mutter – übrigens die Schreibende dieses Artikels – war für ein paar lange Sekunden sprachlos, während ihr Hirn nach der richtigen Reaktion suchte: Schimpfen? Erklären? Oder einfach ignorieren?
«Kinder gewinnen an Kraft und Stärke, indem sie solche Worte benutzen», schreibt die Pädagogin Gertrud Ennulat auf www.familienhandbuch.de/.... Ausserdem hatten sie schon immer Spass am «Schweinigeln»: In den siebziger Jahren trug die Autorin Susanne Stöcklin-Meier etliche Kinderverse aus der Analzone zusammen: «Was söll i mache? I d Händ schiisse und luege, wies dämpft!» ist da zu lesen oder: «Urs, Furz, Chuchischurz!» Heute mag das harmlos wirken gegenüber dem, was sich unsere Kinder und Jugendlichen so an den Kopf werfen: «Schwule Sau», «Wichser», «Schlampe», «Fick deine Mutter» sind nur einige der gängigsten Ausdrücke. Manch einem kommt es so vor, als ob da eine sexualisierte Verrohung um sich greife, die nicht spurlos an der jungen Psyche vorbeigehen könne.
Eine neue Sprachkultur
Lukas Geiser von der Zürcher Fachstelle für Sexualpädagogik «Lust und Frust» (www.lustundfrust.ch) relativiert jedoch: «Die Sprachkultur hat sich in den letzten 20 Jahren viel schneller gewandelt als früher, deshalb stört uns das mehr.» Für jugendliche Mädchen sei es zum Beispiel völlig normal, von «schönen Titten» zu reden, ergänzt Geisers Kollegin Lilo Gander: «Für meine Generation tönt das abwertend, für sie nicht.» Man solle da nicht zu stark eingreifen: «Jugendliche haben das Recht auf ihre Welt und ihre Szene.» Die Sprache also als Mittel, sich gegenüber der Erwachsenenwelt abzugrenzen und sie – natürlich – auch zu provozieren.
Ohne Erklären geht es trotzdem nicht. Wenn die beiden Sexualpädagogen eine Schulklasse besuchen, versuchen sie immer auch aufzuzeigen, wie die Macht der Sprache verletzen kann. Sie reden zum Beispiel darüber, was Schwulsein wirklich bedeutet, damit diese Bezeichnung nicht mehr gedankenlos als Schimpfwort gebraucht wird. Und was empfinden die Jugendlichen selber, wenn sie als Hurensohn oder Schlampe bezeichnet werden? Die Meinungen sind geteilt. Ein 15-jähriges Mädchen aus einer zweiten Sek in der Region Zürich sagt zum Beispiel: «Bei uns werden diese Begriffe eigentlich nicht mehr wahrgenommen. Ich ignoriere sie einfach.» Anderen aber geht es wie ihrer 14-jährigen Klassenkameradin: «In mir würde etwas zusammenbrechen. Schlampe ist ein schlimmes Fluchwort und sehr verletzend.»
Die Jugendlichen müssen auch lernen, anders mit Erwachsenen zu reden, als wenn sie unter sich sind. «Jemanden anficken» mag zwar im Jugendslang völlig normal geworden sein für «jemanden verbal angreifen». Aber wenn einem Lehrling gegenüber seinem Lehrmeister «Ficken Sie mich nicht an!» herausrutscht, bringt er seine berufliche Karriere nicht unbedingt vorwärts.
Imponiergehabe, sich stark fühlen wollen – das haben Jugendliche und Kindergartenkinder gemeinsam, wenn sie mit ihren sexuell aufgeladenen Kraftausdrücken um sich werfen. Jugendliche thematisieren damit auch die Sexualität. Kindergartenkinder dagegen probieren vor allem die Sprache aus. «Wenn kleine Kinder lernen, dass es verschiedene Wörter fürs Gleiche gibt, ist das in Ordnung», sagt Sexualpädagoge Lukas Geiser. Wie genau man ihnen dann auch erklären soll, was die Wörter bedeuten, ist Ermessenssache. Ein kleines Kind begreife zwar noch nicht ganz, was «Liebe machen» oder «miteinander schlafen» heisst, meint Lilo Gander von «Lust und Frust». Aber es könne doch verstehen, dass «huere Figgerin» ein sehr hässliches Wort dafür sei und damit etwas eigentlich Schönes schlecht gemacht wird. «Allerdings genügt es nicht, mit einem fünfjährigen Kind einmal darüber zu sprechen», ergänzt Geiser. Erst wenn man es immer wieder tue, lerne das Kind mit der Zeit, gut mit Worten umzugehen.
So verletzend wie Schläge
«Im Kindergarten erkläre ich diese Wörter nicht», sagt hingegen Zoës Kindergärtnerin Marianne Koradi. «Das wäre zu heikel, weil die Familien die Aufklärung sehr unterschiedlich handhaben.» Doch dass Worte so verletzend sein können wie Schläge, würden die Kinder sofort verstehen. «Sie spüren das ja auch an sich selber.» Damit die Aggressionen trotzdem ihr Ventil finden, suchte Koradi mit den Kindern nach weniger verletzenden Alternativwörtern: «Du Striitgüggel» zum Beispiel. «Ich möchte, dass die Kinder ein differenziertes Sprachbewusstsein entwickeln und lernen, etwas genau zu umschreiben.» Aber wenn die Vulgärsprache trotzdem immer wieder kommt – «die kindliche Entwicklung», so Koradi, «verläuft oft in einer Spirale» –, dann brauche es auch einmal ein Verbot: Es gebe Wörter, «die so wüst sind, dass man sie einfach nicht sagt».
Zoë ist heute sechseinhalb. Im Kindergarten und zu Hause sind all diese Wörter kein Thema mehr. Eigentlich. Nur zwischen ihr und ihrem Bruder fällt ab und zu noch eines, wenn die Wut allzu gross wird. Kürzlich im Treppenhaus hat der Vierjährige eines davon im friedlichsten Sendungsbewusstsein an den dreijährigen Nachbarsjungen weitergegeben. Und der hat es sofort und voller Freude wiederholt: «Figgi-Arschloch». Wahrscheinlich weiss er noch nicht einmal, was der zweite Teil dieses Wortes bedeutet. Aber sicher wird er gleich zu seinen Eltern laufen und ihnen stolz seine neue Errungenschaft präsentieren.