Mein geliebtes «Risikobaby»
Eine Schwangerschaft gilt als risikoreich, sobald die werdende Mutter älter als 35 Jahre ist. Das heisst aber noch lange nicht, dass man in Panik alle verfügbaren Tests machen muss.
Veröffentlicht am 21. Januar 2008 - 16:01 Uhr
Mit 43 Jahren nochmals ein Kind bekommen - Ruth Siegrist war sich im Klaren darüber, dass eine solch späte Schwangerschaft mit gewissen Risiken verbunden ist. «Gesundheitliche Probleme hatte ich zwar keine, ich war sogar noch bis kurz vor der Geburt mit dem Velo unterwegs», erzählt die zweifache Mutter. Doch sie wusste, dass in ihrem Alter die Wahrscheinlichkeit höher ist, ein behindertes Kind zu bekommen. Deshalb entschieden sich Ruth Siegrist und ihr Partner für eine Chorionbiopsie - eine Analyse, bei der Zellmaterial aus der Plazenta entnommen wird (siehe unten: «Pränatale Untersuchungen - das Wichtigste auf einen Blick»).
Wenn die heute 45-Jährige von der Untersuchung erzählt, läuft ihr immer noch ein Schauer über den Rücken. «Wir hatten darüber gelesen, dass der Test Missbildungen und Fehlgeburten verursachen kann.» Obwohl man ihr bei einem Besprechungstermin versicherte, dass der behandelnde Arzt 20 Jahre Erfahrung mit dieser Technik habe und noch nie etwas passiert sei, stand die werdende Mutter beim Test grosse Angst aus. «Ich konnte auf dem Bildschirm beobachten, wie sich die Nadel dem Fötus nähert, und ich dachte: Wenn meinem Kind jetzt etwas passiert, bin ich schuld daran.» Aber die Untersuchung verlief tatsächlich problemlos, und als dann auch noch bestätigt wurde, dass mit dem Kind alles in Ordnung sei, habe sie Luftsprünge gemacht. «Von diesem Zeitpunkt an war meine Schwangerschaft unbelasteter.»
Über Leben und Tod entscheiden?
Dolmetscherin Siegrist ist heute Mutter von zwei gesunden Kindern im Alter von einem und sechs Jahren. Vorgeburtlichen Untersuchungen steht sie nach wie vor zwiespältig gegenüber. Sie könnten zwar eine gewisse Sicherheit geben - die künftigen Eltern aber vor schwerwiegende Konflikte stellen: «Man muss sich damit auseinandersetzen, ob man auch ein behindertes Kind akzeptieren würde.» Nagende Fragen, die sie manchmal fast zur Verzweiflung brachten: Muss ich über Leben und Tod entscheiden? Würde ich es mir zutrauen, ein behindertes Kind aufzuziehen und zu umsorgen? Würde ich damit fertig werden, einem Kind die Chance aufs Leben genommen zu haben, nur weil es nicht der Norm entspricht?
Ihre Frauenärztin habe es pragmatisch betrachtet und gesagt: «Wenn ihr sicher seid, auch ein behindertes Kind zu akzeptieren, dann braucht ihr keine Tests zu machen.» Ruth Siegrists Mann jedoch war anderer Ansicht: Er wollte vorbereitet sein, nicht erst bei der Geburt erfahren, ob sein Kind behindert ist. Bei ihrer ersten Schwangerschaft mit 38 Jahren hatte sich Siegrist noch mehr auf ihre innere Stimme verlassen, auf ihr «Urvertrauen». Damals hatte sie mit Ultraschall die Nackenfalte ihres Kindes messen lassen. Sonst nichts. Die Methode gibt Hinweise auf das Down-Syndrom. Man hatte ihr gute Chancen ausgerechnet, ein gesundes Kind zu bekommen. Da sagte sie sich: Weitere Untersuchungen mache ich nicht, es wird schon alles gutgehen.
«Ob man die Vorsorgetests machen will oder nicht, diese Entscheidung kann man nur selber treffen», erklärt die 40-jährige Rebecca Schneider (Name geändert). Sie hat vor einigen Wochen ihr erstes Kind, ein gesundes Mädchen, zur Welt gebracht. Als Spätgebärende hatte sie sich für eine Fruchtwasseruntersuchung entschieden - um sich wenigstens ein Stück Sicherheit zu verschaffen. «Der Test gilt als zuverlässig, aber es war mir klar, dass auch damit nicht alle Krankheiten entdeckt werden können.» Bei schweren Behinderungen, sagt sie, hätte sie sich höchstwahrscheinlich gegen das Kind entschieden. Eine schlimme Vorstellung, denn das wäre im fünften Monat nur mit einem Spätabbruch möglich gewesen. Glücklicherweise jedoch habe man nichts Aussergewöhnliches festgestellt. Mehrere Wochen auf das Untersuchungsergebnis zu warten, empfand sie als sehr belastend. «Das sollte man nicht unterschätzen.»
Sich auf keinen Fall drängen lassen
Ärztinnen und Ärzte müssen Schwangere ab 35 Jahren auf die Pränataldiagnostik, die vorgeburtlichen Untersuchungen, hinweisen. Diese sind jedoch freiwillig. Monika Rothacher vom Beratungsteam des unabhängigen und konfessionell neutralen Vereins Appella empfiehlt, das Für und Wider dieser Tests sorgfältig abzuwägen und sich auf keinen Fall drängen zu lassen. Von Beratungsgesprächen weiss sie, dass viele Frauen verunsichert sind und sich - aus Angst um das Kind - nicht immer trauen, den Empfehlungen der Ärzte zu widersprechen. Im Zweifelsfall sollten sich die Schwangeren eine zweite Meinung einholen: von einem anderen Gynäkologen, einer Hebamme oder einer unabhängigen Beratungsstelle.
Pränatale Untersuchungen
Jede vierte Schwangere ist heute 35 Jahre oder älter. Die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen, steigt mit dem Alter langsam an - bei einer 35-jährigen Frau liegt das durchschnittliche Risiko bei 1 zu 360. Ab diesem Alter spricht man von einer Risikoschwangerschaft. Wie hoch das individuelle Risiko ist, kann vor der Geburt mit Tests berechnet werden. Diese pränatalen Untersuchungen geben aber keine hundertprozentige Sicherheit. Bei Risikoschwangeren muss die Krankenkasse die Tests bezahlen.
Bei der Untersuchung überprüfen Ärzte den Gesundheitszustand des Kindes im Mutterleib. Dabei wird meist nach genetisch bedingten Behinderungen gesucht. Zu den Untersuchungsmethoden gehört Ultraschall, mit dem der Fötus auf dem Bildschirm sichtbar wird. Die Bilder zeigen einerseits den Stand der körperlichen Entwicklung. Anderseits können mit der Nackentransparenzmessung Abweichungen festgestellt werden. Eine verdickte Nackenfalte kann auf das Down-Syndrom (Trisomie 21) hinweisen.
Im Zweifelsfall wird diese Untersuchung mit dem Ersttrimester-Test kombiniert, bei dem zusätzlich das Blut der Mutter analysiert wird. Diese beiden Untersuchungen können der erste Schritt für weitergehende Tests sein: Bei der Chorionbiopsie oder Chorionzottenbiopsie wird Zellmaterial aus der Plazenta (Mutterkuchen) entnommen. Im Labor können so genetische Defekte festgestellt werden. Auch die Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) gibt Hinweise auf Behinderungen. Bei beiden Untersuchungen wird mit einer Nadel durch die Bauchdecke gestochen. Diese Tests bergen ein geringes Risiko einer Fehlgeburt.
Wichtig: Ärztinnen und Ärzte dürfen die Untersuchungen nur dann durchführen, wenn die ausführlich informierten Frauen ihr Einverständnis gegeben haben. Hat eine Frau einen Test gemacht, bekommt dann aber Zweifel, ob sie das Ergebnis erfahren möchte, kann sie darauf bestehen, nicht informiert zu werden. Sie kann auch auf einen Teil der Resultate verzichten, vor allem beim Ultraschall.
Bei einer Reihe weiterer Kriterien gelten Schwangerschaften als risikoreich. Dazu zählen unter anderem:
- Alter der Schwangeren unter 18 Jahren
- Erbkrankheiten in der Familie
- zwei oder mehr Fehlgeburten
- Mehrlingsschwangerschaften
- Komplikationen bei früheren Geburten
- chronische Erkrankungen (Asthma, Diabetes)