Philosophie: In sich zu gehen ist wieder «in»
Früher traf man sich zum Gedankenaustausch in Literatencafés, heute debattiert man in Philosophiezirkeln. Die alte Sinnfrage hat nach dem 11. September zu neuer Popularität gefunden.
Veröffentlicht am 30. April 2002 - 00:00 Uhr
«Ist Macht etwas Böses?» und «Warum ist etwas schön?» fallen aus dem Rennen. Sieger des Abends wird das Thema «Sind die Gedanken wirklich frei?». Im Winterthurer «Café Philo» schlägt das Publikum erst Themen vor. Dann wird abgestimmt, und das philosophische Gespräch kann beginnen. Der Philosoph und Moderator Detlev Staude ist zunächst nicht begeistert. Die Frage nach der Freiheit sei etwas abgegriffen, findet er. «Aber Freiheit ist halt das Topthema. Wenn das jemand vorschlägt, hat anderes kaum eine Chance.»
Also diskutieren rund 40 Frauen und Männer über Gedanken, Freiheit und Sprache. Was ist eigentlich ein Gedanke? Eine Idee? Eine formulierte Behauptung oder nur eine Art gehobene, in Worte gefasste Wahrnehmung? Es geht lebhaft zu und her. Der Philosoph ordnet die Beiträge des Publikums, stellt selbst Fragen und fasst zusammen. «Philosophie ist zunächst Arbeit am Begriff. Damit kann man dann den Dingen auf den Grund gehen.»
Einmal pro Monat lädt das Winterthurer Zentrum Obertor zum «Café Philo» ein. «Unser Renner», sagt Zentrumsleiterin Therese van Laere. Im Juni veranstaltet sie ein Symposium zur Philosophie als Lebenshilfe. Auch in Bern, Luzern oder Basel haben sich philosophische Gesprächskreise etabliert.
Kein Zweifel: Philosophie hat Hochkonjunktur. TV-Sendungen wie die «Sternstunde Philosophie» (SF DRS) und Zeitungskolumnen in der «NZZ am Sonntag» oder im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» zeugen vom Trend zum Nachdenken über sich und das Leben. Im Gefolge von Jostein Gaarders Bestseller «Sofies Welt» gibt es inzwischen eine Reihe populärphilosophischer Bücher, die sich wie Krimis verkaufen und auch so lesen, wie zum Beispiel Alain de Bottons «Trost der Philosophie».
Während die Universität Luzern Managern mit dem Kurs «Philosophie und Management» zum «Helikopterblick auf das eigene Tun» verhelfen will, belegen Angebote am Zürcher Pestalozzianum, in Solothurn, Kiental BE oder Frauenfeld, dass selbst Kinder gern und geistreich philosophieren können. Mittlerweile arbeiten in Schweizer Städten freischaffende Philosophen in Kursen oder in Einzelstunden zentrale Lebensfragen auf. Als überraschendste Form des Philosophiebooms leistet sich das Bezirksspital Affoltern am Albis ZH mit Wilhelm Schmid 14 Tage im Jahr einen Spitalphilosophen.
«Ein zeitgemässes Angebot»
Was tut der Philosoph im Krankenhaus? «In erster Linie Gespräche führen», sagt Schmid. Auf besonderen Wunsch mit Patienten, in der Hauptsache jedoch mit dem Personal. «Ein zeitgemässes Angebot, das dem Bedürfnis nach Fragen und Antworten folgt», sagt Mechthild Willi Studer, Leiterin des Pflegedienstes. In Affoltern scheint man sich über den Menschen Gedanken zu machen, sei er Patient oder Therapeut. Der Philosoph kümmert sich um diese Gedanken, bildet daraus Fragen und formt ein Gespräch. Damit ermöglicht er seinem Gegenüber, mehr Aufmerksamkeit für die eigene Person zu entwickeln. «Das scheint eine entscheidende Quelle für die Genesung zu sein», so Wilhelm Schmid.
Das ist «Alltagsphilosophie», wie sie einst Immanuel Kant beschrieb; längst hat sie die akademische Philosophie links überholt. Dass die Philosophie der Universitäten «mit dem Befinden der Menschen häufig nichts zu tun hat», wie der Berner Uniprofessor Andreas Graeser einräumt, hat auch der Schriftsteller Alain de Botton erkannt. Seine Bücher sind alltagstauglich und verständlich geschrieben: «Wir nehmen oft an, ein hochgeistiges Buch vor uns zu haben, wenn wir beim Lesen immer weniger verstehen.» De Botton schreibt deshalb lieber populär. Damit erreiche er zumindest die Probleme des realen Lebens, meint der Zürcher Philosoph Harry Wolf.
Heilsame Aha-Erlebnisse
Warum suchen die Menschen Rat bei der Philosophie? Wolf glaubt, dass der zunehmende Verlust an Orientierung und religiösen Bindungen immer mehr Leute ernsthaft über ihr Sein nachdenken lässt. «Die grossen Fragen der Menschen sind uralt», sagt die Philosophin und Psychotherapeutin Maja Wicki. «Es geht um Leben, Gestalten und Tod und um den Sinn von allem.» Möglich, dass Ereignisse wie die Anschläge vom 11. September Ängste schüren und Fragen dringender machen. Dennoch sagt der deutsche Denker Peter Sloterdijk: «Wer Philosoph ist, für den ist die Welt vor oder nach dem 11. September dieselbe.»
Vielleicht ist auch die Entwicklung unserer westlichen Kultur ein wichtiger Grund für die Renaissance der Philosophie. Der Glaube an Geld und Technik hat für die Sinnfrage nichts gebracht. Indessen rückt die Gentechnik den Menschen in ein neues Licht. Wohin entwickelt er sich? Die Philosophie bietet zwar keine fertigen Rezepte, kann aber helfen, das eigene Denken zu verfeinern.
Philosophie als Lebenshilfe kann also bedeuten: Zusammenhänge sehen und darin einen Sinn oder Unsinn erkennen. Das philosophische Gespräch, das Innehalten und Nachdenken im Austausch mit anderen, kann auch heilsame Aha-Erlebnisse auslösen. «Ich gehe nach jedem Café Philo wie beflügelt nach Hause», sagt der Winterthurer Hansjörg Klapper. «Das macht mich nachdenklich im positiven Sinn, und ich fühle mich ein Stück gestärkt für die raue Wirklichkeit.» Viele Denkanstösse hätten ihm für das Zusammenleben im Alltag geholfen. Für ihn steht das «Café Philo» stellvertretend für das Leben: Man weiss nie, wie es ausgeht.