Als sich Ulrike und Hans Peter Sager aus Uster vor eineinhalb Jahren entschlossen, nie mehr einen Fuss über die Schwelle des Sozialamts zu setzen (siehe «Kränkende Stellungnahme», Seite 34), konnte die Mutter aufatmen: «Ich musste die Meerschweinchen nicht länger verstecken.» Sie fürchtete, die Fürsorgebehörde könnte ihr vorwerfen, zu viel Geld für das Futter aufzuwenden. Auch der Vater kann wieder gelegentlich eine Zigarette rauchen, ohne sich umschauen zu müssen. Und die 700 Franken Praktikantinnenlohn der 17-jährigen Tochter Nadine werden nicht in die Topfkollekte des Sozialamts umgeleitet. Die Familie verzichtete zwar auf Unterstützung, doch die demütigende Zeit hatte endlich ein Ende.

Bedürftige fürchten Sanktionen


Die sechsköpfige Familie kann jetzt frei über ihr Geld verfügen. Als Monteur bringt der Vater monatlich 5400 Franken nach Hause – inklusive Kinderzulagen. Die Beraterin der Zürcher Frauenzentrale budgetiert die Ausgaben auf 6625 Franken im Monat. «Wir hätten Anspruch auf Unterstützung», sagt Mutter Ulrike. Aus gesundheitlichen Gründen kann sie zum Unterhalt der Familie kaum etwas beitragen. Wie es mit dem Wenigen reicht? «Wir würgen uns durch», zieht Hans Peter Sager Bilanz.

Etwas ist faul im Sozialstaat Schweiz, wenn Menschen in materieller Not die Fachstelle meiden, die von Gesetzes wegen verpflichtet ist, ihnen Hilfe anzubieten, oder wenn Bedürftige Sanktionen fürchten. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) stellt mit der neuen Leistungsbilanz der Schweiz ein Armutszeugnis aus: 300000 Menschen sind von der Sozialhilfe abhängig, 25000 mehr als im Vorjahr. Die Offenlegung ihrer persönlichen und finanziellen Situation vor einer Amtsperson ist für viele eine Demütigung und mit «Schuld- und Schamgefühlen verbunden», erklärt die Direktorin der Sozialen Dienste Zürich, Rosann Waldvogel. Viele fühlen sich als Versager oder werden als «Schmarotzer» abgestempelt.

Mit den so genannten Intake bieten die neu geschaffenen Sozialzentren in Zürich einfache und niederschwellige Anlaufstellen für erste Abklärungsgespräche an. Denn je früher die Problemstellung erkannt wird, desto schneller können konkrete Schritte eingeleitet werden. Der Ansatz scheint vielversprechend. «30 Prozent der Neuanmeldungen können in den ersten drei Monaten abschliessend behandelt werden», sagt Matthias Stampfli, Intake-Stellenleiter beim Zürcher Sozialzentrum Selnau. Allerdings melden sich 40 bis 50 Prozent kein zweites Mal, und das bei grosser Anonymität und geringer Sozialkontrolle.

Experten wie Beat Däppeler gehen davon aus, dass weit mehr als 300000 Menschen Anspruch auf Unterstützung haben. Der Geschäftsleiter der Städteinitiative Sozialpolitik und Stabschef der Sozialdirektion Luzern rechnet mit steigenden Zahlen und sieht die Kosten ausufern. Als Gegensteuer fordert er die Schaffung eines Bundesrahmengesetzes zur Existenzsicherung, ein nationales Programm zur Armutsbekämpfung und eine eidgenössische Sozialhilfestatistik. Konsenspolitik tue Not: «Man darf die Armen nicht noch ärmer werden lassen.»

Eine düstere Prognose stellt SKOS-Präsident Walter Schmid: «Wenn wir nichts unternehmen, steigt die Zahl in drei Jahren auf 400000.» Klartext spricht auch der Sozial-Almanach der Caritas: «Mehr als 850000 Menschen leben in einer finanziell prekären Situation.» Die Wirtschaft habe sich vom «Modell des Ernährerlohns» verabschiedet, resümiert Carlo Knöpfel, Leiter des Bereichs Grundlagen bei der Caritas Schweiz.

Weil sich die Sparschraube weiter dreht, geraten die Mitarbeitenden auf den Ämtern immer mehr unter Druck. «Die Belastung war noch nie so gross», stellt Urs Wüthrich, Leiter des Zürcher Sozialzentrums Selnau, fest. «Für den einzelnen Fall bleibt immer weniger Zeit.»

Situation wird sich nicht entschärfen


Grund für die Überlastung der Fachkräfte sei nicht mangelhafte Ausbildung, sagt Markus Brändle-Ströh, Konrektor der Hochschule für Soziale Arbeit Zürich. «Das Thema Existenzsicherung ist seit Beginn des letzten Jahrhunderts Bestandteil unserer Lehrpläne.» Nicht bildungspolitische Massnahmen seien ausschlaggebend, sondern sozialpolitische.
Brändle-Ströh zeigt zwei Szenarien auf: Entweder wird in den sozialen Frieden investiert, oder man nimmt die kumulierten Probleme von Betroffenen in Kauf. Langfristig werde sich die Situation nicht entschärfen, zumal Ersatzmodelle für die heutige Lohnarbeit fehlen. Das setze einen langen Entwicklungsprozess in den Köpfen und Herzen voraus.

Das Klima auf den Fürsorgeämtern hängt auch von der jeweiligen politischen und persönlichen Besetzung ab, wie das Beratungszentrum des Beobachters immer wieder feststellt. In Richterswil beispielsweise bekommen die Mitarbeitenden des Sozialdienstes das rigide Regime von Sozialvorstand Roger Ruggli, SVP-Gemeinderat, ebenso zu spüren wie die Bittsteller. «Die Bezugspersonen wechseln laufend, die Informationen sind widersprüchlich», kritisiert eine allein erziehende Mutter. Aus Angst vor Repressalien will sie ihren Namen nicht öffentlich machen. Eine Exmitarbeiterin, die sich jetzt auf einem Jugendsekretariat engagiert, empfand den Umgang als «unerträglich». Auch sie will zum Schutz früherer Klientinnen anonym bleiben. Die Besprechungen mit «Hardliner» Ruggli habe sie als «Inquisition» erlebt, bei jedem Antrag habe sie mit Bauchweh den Beschluss abgewartet.

Die Personalfluktuation in Richterswil sei nicht höher als in anderen Sozialdiensten im Kanton, erklärt Sozialsekretärin Léonie Kaiser im Namen ihres Chefs Ruggli. Dass die «Kann-Vorschriften» je nach Zusammensetzung der jeweiligen Gemeindebehörde liberaler oder restriktiver gehandhabt würden, könne nicht als willkürliches Vorgehen bezeichnet werden.

Beim Wort Willkür scheiden und streiten sich die Geister. Walter Noser, Berater für Sozialfragen beim Beobachter, schliesst bei der steigenden Zahl von Hilfesuchenden bei jedem dritten Anruf auf willkürliches Verhalten von Behörden – sei es, dass sie die Klienten mangelhaft bis gar nicht auf ihre rechtlichen Ansprüche hinweisen, sei es, dass man sie ohne schriftlichen Beschluss und somit ohne Rekursmöglichkeit abwimmelt. «Die Antragstellenden haben nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte», betont Noser.

Mangelndes Fingerspitzengefühl


Walten wie in kleinen Gemeinden Laien ihres Amtes, lassen Fachwissen und Fingerspitzengefühl häufig zu wünschen übrig. Ein Beispiel: Der Fürsorgeverantwortliche einer Zürcher Landgemeinde bot einen jungen Mann auf, sich an den Wohnungskosten seiner Freundin, die vom Sozialamt unterstützt wird, zu beteiligen, wenn er schon die Nacht gelegentlich dort verbringe. Als Beweis führte er das vor dem Haus der Freundin parkierte Auto ins Feld. Nur: Der Beschuldigte hat eine eigene Wohnung und bezahlt auch dafür.

Auf eine Begegnung der unliebsamen Art blickt Monica Mancuso zurück. Im November zog sie mit ihrer vierköpfigen Familie aus dem thurgauischen Langrickenbach, wo nur eine Notwohnung zur Verfügung stand, ins 1160-Seelen-Dorf Ganterschwil im Kanton St. Gallen. Bis Vater Matteo die ihm zugesprochene Invalidenrente mit Ergänzungsleistungen ausbezahlt bekommt, ist er zur Überbrückung auf Sozialhilfe angewiesen. Die Bevorschussung von 3655 Franken durch die Gemeinde entspricht den SKOS-Richtlinien, doch die Familie kommt mit dem Betrag nicht über die Runden. Aufs Auto verzichten wollen die Eltern nicht: «Wir wohnen abgelegen und haben kein Einkaufszentrum in der Nähe.»

Als die Mutter bei der Gemeinde vorsprach und um einen Beitrag für Winterschuhe bat, beschied ihr Othmar Gerschwiler, Leiter der Fürsorgekommission und Gemeindepräsident, sie solle einen schriftlichen Antrag stellen oder beim Pfarrer anfragen. «Meine Kinder brauchen die Schuhe jetzt», empörte sich die Mutter.

Dass bei der Sozialhilfe unterschiedliche Massstäbe angesetzt werden, erstaunt nicht. Die SKOS-Richtlinien sind nicht verbindlich. Die rechtliche Regelung liegt bei den 26 Kantonen und der Vollzug mit Ausnahmen bei den Gemeinden. Mit gutem Beispiel voran gehen Genf, Wallis und Tessin: Sie verfügen über zusätzliche bedarfsabhängige Sozialleistungen, die zur Existenzsicherung beitragen.

«Sozialhilfe ist kein Hobby»


In St. Gallen wiederum verzichtete die Regierung auf eine Verbindlicherklärung der SKOS-Richtlinien und damit auf einen Eingriff in die Gemeindeautonomie. SP-Regierungsrätin Kathrin Hilber, Vorsteherin des Departements für Inneres und Militär, hofft auf Erkenntnisse aus der Sozialhilfestatistik, die erstmals schweizweit durchgeführt wird und deren erste Ergebnisse 2005 publiziert werden sollen. Die effizienteste Entwicklung sieht sie aber in der Professionalisierung und in einem Bundesrahmengesetz: «Es darf nicht sein, dass die Sozialhilfe von politischen Launen abhängt oder als Hobby betrieben wird.»

Eine entsprechende parlamentarische Initiative lancierte SP-Nationalrätin Christine Goll bereits 1991. Mitte der neunziger Jahre legte die jetzige Präsidentin der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) mit einer Arbeitsgruppe ein Rahmengesetz vor, das dann auf Eis gelegt wurde. Es stützte sich auf den 18 Artikel umfassenden, auf knapp 30 Seiten kommentierten «Diskussionsentwurf für ein eidgenössisches Sozialhilferahmengesetz» von Pascal Coullery. Der Jurist wollte mit seiner Arbeit – «eine Art Fortsetzung meiner Dissertation» – das Thema fassbar machen und zeigen, dass eine «schlanke Lösung» möglich ist.

«Glück oder Pech» spielen Schicksal


Goll ist entschlossen, das Thema jetzt wieder voranzutreiben: «Um die Willkür zu bekämpfen, müssen wir verbindliche Richtlinien schaffen.» Sie fordert auch eine Professionalisierung der immateriellen Sozialhilfe bei der Beratung, damit nicht weiterhin «Glück oder Pech» Schicksal spielen. Die Veröffentlichung der SKOS-Leistungsbilanz habe mitgeholfen, «die Anonymität zu durchbrechen».

Gegen die Armut anzukämpfen und ihr ein Gesicht zu geben, heisst für Branka Goldstein, Gründerin und Präsidentin der IG Sozialhilfe, die menschenunwürdigen Lebensumstände aufzuzeigen. Seit zehn Jahren bietet sie mit ihrem Team den Randständigsten der Randständigen, «Menschen, die es eigentlich gar nicht gibt», Begleitung und Betreuung an. Der Einsatz sei oft eine «harte kriegsmässige Triage», weil es an finanziellen und personellen Ressourcen mangelt. Längst wundert sie sich nicht mehr, wenn jemand unbemerkt tagelang tot in seiner Wohnung liegt.

Bedürftige bescheiden sich mit den Brosamen der Wohlgenährten: Das Bild gehört für Samuel Sägesser zur Tagesordnung. Der einstige Kadermann hat lange mit angesehen, wie der Handel in der Schweiz jährlich bis zu 250000 Tonnen einwandfreie Lebensmittel vernichtet (Quelle: McKinsey). «Um der Gesellschaft wieder etwas zurückzugeben», gründete er die Non-Profit-Organisation «Tischlein deck dich». An 14 Ausgabestellen, von der Markuskirche in Luzern bis zur Zürcher Stadtmission, werden wöchentlich an über 2500 Mittellose für den symbolischen Betrag von einem Franken Lebensmittel abgegeben, die nicht mehr verkauft werden können. Soziale Fach- und Beratungsstellen geben Bezugsscheine ab. «Es geht nach der echten Bedürftigkeit und nicht nach SKOS-Richtlinien», sagt Sägesser.

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