«Zwang gegenüber Eltern bringt manchmal sehr viel»
Der Scheidungskinder-Experte Max Peter findet, man müsse zerstrittene Eltern auch mal mit gezielten Massnahmen zur Vernunft bringen – im Interesse der Kinder.
Veröffentlicht am 14. Februar 2012 - 10:01 Uhr
Beobachter: Gibt es glückliche Scheidungskinder?
Max Peter: Eine heikle Frage… Ich bin keiner, der sagt, jedes Scheidungskind ist ein armes Huscheli. Aber wir machen schon die Erfahrung, dass die Kinder, die wir erleben, zutiefst darüber erschrocken sind, was in ihrer Familie passiert ist. Sie sind verunsichert und trauen ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr. Weil sie doch gemerkt haben, dass etwas nicht mehr stimmt, dass Mami und Papi sich keinen Abschiedskuss mehr geben oder Papi plötzlich viel weniger daheim ist. Und alle taten so, als sei alles beim Alten…
Beobachter: Die meisten Eltern versuchen wahrscheinlich, die Kinder bei Trennung und Scheidung so wenig wie möglich zu belasten.
Peter: Ja, natürlich. Dass die Kinder aussen vor bleiben, geschieht nicht aus Bosheit. Die meisten Eltern sind während der Trennungszeit so stark mit sich selber beschäftigt, dass die Kinder schnell mal vergessen gehen. Das passiert übrigens auch sehr engagierten Eltern. Scheidungskriege nehmen keine Rücksicht auf Gesellschafts- oder Bildungsschichten.
Beobachter: Sie beklagen sich darüber, dass auch viele Experten die Bedürfnisse der Kinder einfach übergehen.
Peter: Das stimmt. Ich will mich da gar nicht ausnehmen. Ich habe mich am Anfang meiner Tätigkeit als Familientherapeut auch oft in die Streitereien der Eltern reinziehen lassen. Ich habe auf der Paarebene mitagiert. Insgeheim waren wir dann alle froh, dass die Kinder nicht auch noch Ansprüche stellten. Nie brauchen Eltern so anpassungsfähige und selbständige Kinder wie während der Scheidung.
Beobachter: Immerhin gibt es Eltern, die ihre Kinder in Ihre Therapiegruppen schicken…
Peter: Ja, zum Glück. Allerdings tun das nicht alle freiwillig. Manchen Eltern machen die Behörden die Auflage, dass sie die Kinder schicken müssen. Ich weiss, es gibt viele Leute, die sagen: Zwang bringt in solchen Situationen gar nichts. Da bin ich aus Erfahrung anderer Meinung. Zwang bringt manchmal sehr viel. Wir müssen den Mut haben, Mütter und Väter in die Verantwortung zu nehmen, notfalls halt auch unter Androhung von Sanktionen durch die zuständigen Behörden.
Beobachter: In Frankreich werden Elternteile, die das Besuchsrecht verweigern oder nicht einhalten, mit happigen Bussen belegt oder sogar ins Gefängnis gesteckt. Das müsste ganz auf Ihrer Linie sein.
Peter: Ganz ehrlich: Ich halte viel davon. Weil es die gesellschaftliche Wahrnehmung verändert. In Frankreich sind sowohl Mütter, die ihre Kinder dem Vater entfremden, als auch Väter, die ihre Pflichten nicht wahrnehmen, gesellschaftlich geächtet. Bei uns ist das Unrechtsbewusstsein in diesen Angelegenheiten viel zu klein.
Beobachter: Vor kurzem wurde in der Schweiz eine Mutter gebüsst, weil sie ihr Kind aus der Schule nahm, um in die Ferien zu fliegen.
Peter: Ich fand diesen Entscheid mutig.
Beobachter: Andere fanden ihn kleinlich. Die Schulbehörde musste zurückbuchstabieren.
Peter: Ja, schade. Nicht dieses Einzelfalles wegen. Sondern weil ich gehofft hatte, dass es salonfähiger werden würde, Eltern Grenzen zu setzen. Ich habe so oft erlebt, dass Mütter und Väter wiederholt das Besuchsrecht verweigerten oder nicht einhielten und jegliche Abmachung übergingen. Es passierte einfach nichts. Auch wenn es dem Kind dabei hundsmiserabel ging. Bis in die höchsten Richtergremien heisst es: Wenn die Mutter oder der Vater nicht will, kann man halt nichts machen. Diese Haltung bringt mich auf die Barrikaden!
Beobachter: Was kann man denn tun?
Peter: Ein Patentrezept habe auch ich nicht. Aber es geht nicht um die Eltern, sondern um die Kinder. Wenn die Eltern das nicht mehr realisieren, muss man halt mitunter sagen: «Stopp! Es geht um eure Kinder, die ihre eigenen Bedürfnisse und Rechte haben.»
Beobachter: Zwangstherapie für Mütter und Väter?
Peter: Warum nicht? Ich habe es öfter erlebt, dass Eltern, die man in die Pflicht genommen hat, später froh waren, dass jemand reagiert hat. Ich habe kaum Eltern getroffen, die ihren Kindern bewusst Leid zufügen wollten. Trotzdem muss man sie manchmal davor schützen, es zu tun.
Beobachter: Wird das gemeinsame Sorgerecht für mehr Frieden sorgen?
Peter: Das wird sich zeigen. Ich bin grundsätzlich ein Befürworter des gemeinsamen Sorgerechts. Jetzt kommt das grosse Aber: Wer glaubt, der Anteil derjenigen, die nicht fähig sind, gemeinsam zum Wohle der Kinder zu handeln, werde sich deswegen verkleinern, täuscht sich. Ich hoffe aber, dass es weniger Mütter und Väter geben wird, die sagen können: «Du siehst die Kinder nie mehr!»
Beobachter: Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung sind es laut Studien aus Deutschland sehr oft die Väter, die den Kontakt zu den Kindern abbrechen. Remo Largo schreibt im Buch «Glückliche Scheidungskinder», dass fast 50 Prozent der geschiedenen Väter ein Jahr nach der Scheidung das Besuchsrecht nicht mehr wahrnehmen. Wird sich daran etwas ändern?
Peter: Ich hoffe es! Ich habe es leider sehr oft erlebt, dass ich Vätern, die eine neue Partnerschaft eingegangen sind, sagen musste: «Sie haben im Fall noch Kinder aus Ihrer früheren Beziehung. Sie haben eine Verantwortung. Die Kinder brauchen Sie!» Wenn diese Botschaft angekommen ist, geht es darum, herauszufinden, was die Beteiligten brauchen, um sich wieder annähern zu können.
Beobachter: Sind Sie eigentlich verheiratet?
Peter: Ja, seit sehr langer Zeit. Und immer mit derselben Frau.
Beobachter: Sie können sich also auch freuen, wenn ein befreundetes Paar Sie zur Hochzeit einlädt?
Peter: Ja, sicher! Ich sage dann im Scherz, ich bringe schon mal meine Visitenkarten mit, aber ich habe den Glauben an die Menschheit nicht verloren, falls Sie das meinen. Ich bin übrigens auch kein Scheidungskind.
Beobachter: Eine glückliche Kindheit im Schosse einer intakten Familie?
Peter: Nein, das nicht. Meine Eltern haben sehr viel gestritten. Ich habe mich als Kind immer wieder einmal gefragt, warum sie eigentlich zusammenbleiben. Ich stand oft zwischen Mutter und Vater und war gezwungen, viel mehr Verantwortung zu übernehmen, als mir gut tat. So gesehen lebte ich doch fast wie ein Scheidungskind.
Beobachter: Wie kommt es, dass vernünftige Menschen sich in Partnerschaftskrisen wie von Sinnen benehmen?
Peter: Die meisten Menschen sind, vor allem wenn sie verlassen werden, erst einmal gekränkt und zutiefst verletzt. Sie zürnen dem Partner, und das überdeckt erst einmal alles, auch das Wohl der gemeinsamen Kinder. Viele Väter und Mütter sind in dieser Phase nicht in der Lage, ihr Verhalten zu reflektieren.
Beobachter: Die Phase scheint bei vielen Eltern recht lange zu dauern. Nur jedes dritte Kind kann nach der Scheidung daheim offen über den abwesenden Elternteil sprechen.
Peter: Das stimmt. Wenn die Eltern auch nach der Scheidung gegeneinander Krieg führen, empfinden die Kinder es als Verrat, wenn sie sagen, ich gehe gern zu Papi oder zu Mami. Oder noch schlimmer, wenn sie den neuen Partner oder die neue Partnerin des anderen Elternteils nett finden. Ich erinnere mich gut an ein kleines Mädchen in einer unserer Gruppen. Es fluchte immer wahnsinnig über die neue Freundin des Vaters. Sie sei eine blöde Kuh. Eine Zwetschge. Gegen Ende des Kurses zeigte es uns allen stolz seine frisch lackierten Fingernägel. Es strahlte und sagte, die Freundin des Papis habe sie ihr angemalt. Das ist ein kleiner Erfolg. Verstehen Sie?
Beobachter: Durchaus. Aber was passiert ausserhalb des Kurses?
Peter: Wir sprechen an den Elternabenden jene Themen an, die die Kinder beschäftigen. Wir versuchen, Ideen zu liefern, die helfen könnten, die Situation für die Kinder zu verbessern. Wichtig ist uns, den Eltern deren Bedürfnisse wieder nahezubringen.
Beobachter: Wenn Ihnen das nicht gelingt, ist man wieder so weit, dass man sagt: Wenn Mutter oder Vater nicht wollen, kann man nichts machen…
Peter: Genau. Die heutigen vormundschaftlichen Massnahmen wie Besuchsbeistandschaften taugen oft nicht, wenn die Eltern nicht mitmachen. Denn Verbindlichkeiten fehlen, und in den behördlichen Beschlüssen werden vor allem die Beistände in die Pflicht genommen und nicht die Eltern. Zudem richten sich Anordnungen meistens nur an einen Elternteil, als ob dieser für den Missstand allein verantwortlich wäre. Da wäre er dann wieder, der Punkt, an dem die Eltern gezwungen werden müssten, sich miteinander auseinanderzusetzen und die Interessen der Kinder in den Mittelpunkt zu rücken. Heute werden die Kinder nicht selten einfach gezwungen, zum Vater oder zur Mutter zu gehen. Grad kürzlich hat uns ein Junge erzählt, dass er sich jeweils versteckt, wenn er zum Vater müsse. Die Beiständin komme dann zusammen mit ihrem Mann und zwinge ihn, ins Auto zu steigen. Niemand interessiert sich dafür, wie es dem Jungen dabei geht.
Beobachter: Das klingt wie eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert.
Peter: Das passiert hier und heute. Und keiner denkt daran, erst einmal den Ursachen des Missstandes auf den Grund zu gehen und zu fragen, was diese Kinder wirklich brauchen würden.
Max Peter, 71, ist freischaffender Mediator, Paar- und Familientherapeut, Psychodramaleiter und Co-Leiter der Scheidungskindergruppen «Im Chreis». Er ist Autor des Scheidungs-Kinderbuchs «Das Geheimnis des Regenbogens» und der Broschüre «Eltern bleiben. Informationen und Tipps für Eltern in Trennung», die beim Marie-Meierhofer-Institut erhältlich ist. Peter ist verheiratet und Vater dreier erwachsener Kinder.