Sexualdelikte: Kinderseelen leiden im Kreuzverhör
Hat der Vater – oder hat er nicht? Der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs wird immer mehr zum Kampfmittel bei Scheidungen. Die Wahrheitssuche ist schwierig, und die Befrager sind oft überfordert: zum Nachteil der Väter – und der Kinder.
Veröffentlicht am 13. August 2001 - 00:00 Uhr
«Sarah?» Der Raum ist gross, die Stühle sind gestapelt. Am kleinen Tisch in der Mitte sitzt ein dreijähriges Mädchen. Die Psychologin beugt sich zu ihm. «Sarah, deine Mama hat mir gesagt, dass du Papas ‹Schwänzli› gestreichelt hast.» Die Mutter sitzt in der Ecke des Raums. In der andern Ecke steht die Videokamera. Sarah malt ruhig vor sich hin. «Sarah? Wie ist das mit Papas ‹Schwänzli?›»
Sarah interessiert die Frage nicht. Völlig versunken, beschäftigt sie sich mit ihrer Zeichnung und murmelt: «Alles anmalen.» Die Psychologin rückt näher, spricht leiser: «Streichst du das ‹Schwänzli› mit Joghurt ein? Kannst du mir zeigen, wie das geht?» Sarah: «Ein Pünktchen. Nochmal ein Pünktchen. Hier noch eins.» – «Zeigst du mir das mit den Puppen?» Sarah sucht nach einem Farbstift. «Hast du Papas ‹Schwänzli› schon einmal gesehen?» Sarah mustert ihren Farbstift und malt weiter.
Ein Städtchen in der Ostschweiz, jugendpsychiatrischer Dienst. Viermal ist das Kleinkind bereits zur Abklärung aufgeboten worden. Den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs hatte die Mutter mitten in einem langwierigen Scheidungsprozess erhoben. Die Videoaufnahmen der Befragung lagen dem Beobachter in der gesamten Länge vor.
Das Dokument wirft grundlegende Fragen auf. Soll ein Kind in Anwesenheit eines Elternteils befragt werden? Wie zielgerichtet dürfen die Fragen gestellt werden, zum Beispiel an ein dreijähriges Mädchen? Existieren gesamtschweizerische Richtlinien?
Das gutachterliche Urteil über Sarahs Abklärungsgespräch ist vernichtend: «Zahlreiche Beeinflussungsversuche» der Befragerin würden dessen Aussagekraft massiv beeinträchtigen; das Video sei für das Gericht «kaum verwertbar». Trotzdem: Die mütterliche Klage bewirkte, dass der Vater die Tochter nicht mehr besuchen darf. Er hat sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.
Der Vorwurf, das eigene Kind missbraucht zu haben, wiegt schwer. Innerhalb eines Scheidungsprozesses erhält er besonderes Gewicht. Juristen wissen: Ein solcher Verdacht kann das väterliche Besuchsrecht unterbinden. Eine Innerschweizer Staatsanwältin sagt sarkastisch: «Wer heute als Anwältin oder Anwalt diesen Vorwurf nicht ins Spiel bringt, handelt schon fast fahrlässig.»
Das Wohl des Kindes wird bei solchen Ehekriegen oft vergessen. Es ist durchaus möglich, dass das Kind sieben-, acht- oder neunmal zur Befragung aufgeboten wird. Auch wenn keine sexuelle Misshandlung stattgefunden hat: Spätestens jetzt wird das Kind zum Opfer.
Heinrich Nufer, Direktor des Marie-Meierhofer-Instituts für das Kind in Zürich, betont: «Es ist richtig, dass jedem Verdacht auf eine sexuelle Misshandlung nachgegangen wird. Es fragt sich nur: wie.» Vor allem wenig ausgebildetes Personal zielt sehr schnell auf ein verwertbares Resultat. Tritt ein solches nicht ein, wird dies als Niederlage empfunden. Der Druck des Gesetzes ist gross.
Kanton Nidwalden, Ende 1994. Während eines Scheidungsverfahrens taucht gegen den Vater der Vorwurf auf, er habe seine Töchter sexuell missbraucht. Eine Puppenspieltherapeutin, eine Naturärztin und ein Kinderarzt halten die Vorwürfe für bewiesen. Andere Untersuchungsorgane bezweifeln dies.
Über sieben Jahre ziehen sich die Befragungen, die Abklärungen, die Tests der Töchter hin. Im Februar dieses Jahres erfolgt schliesslich der Freispruch. In seiner Begründung hält der Oberrichter fest, dass heute verwertbare Aussagen vorliegen könnten – wenn die Kinder vor sieben Jahren sorgfältig befragt worden wären.
«Eine fachgerechte Erstbefragung fordert vor allem eines: Geduld», sagt Heinrich Nufer. Unbestritten ist auch, dass das Gespräch in einem kinderfreundlichen Raum stattfinden sollte. Eine Videoaufnahme ermöglicht die genaue Rekonstruktion des Ablaufs; bestimmte Antworten können unter Umständen besser gewertet werden, wenn die Fragestellung in Wortlaut und Tonfall vorliegt.
Bis vor kurzem wurden im Kanton Bern die Kinder hauptsächlich in den Polizeibüros befragt. Die Polizistinnen wussten nichts über das familiäre Umfeld des Opfers. Dafür hatten sie hochsensible Fragen zu stellen und die Antworten gleichzeitig zu protokollieren. Ein Videogerät gab es nur in Ausnahmefällen. Und: Die meisten Beamtinnen hatten keinerlei psychologische Ausbildung.
Die Situation in der restlichen Schweiz unterscheidet sich nicht wesentlich. In fast einem Drittel der Kantone fehlen Kinderschutzspezialistinnen und -spezialisten. Das gilt für Freiburg, Glarus, Jura, Nidwalden, Obwalden, Solothurn, St. Gallen, Uri und Wallis – es handelt sich also keineswegs nur um kleinere Kantone.
«Der Gesprächsstil zwischen einem Erwachsenen und einem Kind hat unter normalen Umständen zwei Merkmale», sagt die Berner Kinderpsychiaterin Madeleine Eggler: «Entweder belehrt der Erwachsene das Kind – oder aber er fragt nach Dingen, die er schon weiss. Die Kinder sind es nicht gewohnt, dass Erwachsene sich für Details in ihrem Leben interessieren. Genau dies aber entspricht einer Befragungssituation. Sie ist für beide Seiten ungewohnt.»
Ungewohnt ist die Situation auch rechtlich. In einem «normalen» Verfahren, das sich unter Erwachsenen abspielt, sind Anzeigeerstatter und Opfer meist identisch. Den erlittenen Schaden können sie in der Regel beziffern: Sie sind selbst betroffen und haben ein Interesse daran, dass der Täter überführt und verurteilt wird.
Kinder werden rasch beeinflusst
Bei der Befragung von Kindern bietet sich eine ganz andere Situation. Anzeigeerstatter ist in den seltensten Fällen das Kind. Es weiss oft gar nicht, was die Fragen, die von einer fremden Person gestellt werden, bedeuten sollen; auch realisiert es kaum die Tragweite seiner Antworten. Zudem fehlen meist Zeugen: Die Spuren des Verbrechens sind oft nur in der Seele zu finden. Die kindliche Seele aber ist kein leicht zugängliches Feld.
«Je kleiner ein Kind ist, desto weniger kann es die Fragerei einordnen», sagt Heinrich Nufer. «Es ist in einem Loyalitätskonflikt: egal, ob eine Misshandlung stattgefunden hat oder nicht.» Es muss Stellung für einen Elternteil beziehen – zwangsläufig zum Nachteil des andern. Es ist abhängig vom Elternteil, der es betreut, und setzt kaum etwas aufs Spiel, was es braucht. Andererseits liebt es auch den Menschen, den es beschuldigen soll. Wie soll es sich verhalten?
«Kinder sind sehr loyale, solidarische Wesen», sagt Madeleine Eggler, «sie spüren rasch, was man von ihnen erwartet, sie möchten die Erwachsenen zufriedenstellen. Fragen, in denen die Antworten bereits enthalten sind, werden meistens in diesem Sinn beantwortet.» Und doch: «Die perfekte Befragung gibt es nicht», sagt die Psychiaterin: «Es ist unheimlich schwierig, ein Kind nicht zu beeinflussen.»
Worauf wäre bei einer professionellen Befragung zu achten? Heinrich Nufer, der als Gutachter schon zahlreiche Kinder befragt hat, legt grössten Wert darauf, dem Kind das ihm eigene Tempo, die ihm eigene Ausdrucksart zu belassen: «Bohren bringt nichts.» Das Kind müsse Zeit haben, um seine Worte zu finden; viele wesentliche Antworten kämen erst, wenn das Gespräch längst bei einem andern Thema angelangt sei.
In der Regel lässt Heinrich Nufer die Kleineren mit verschiedenen Holzfiguren eine Szenerie aufbauen. Die Anordnungen können «unter Umständen» Anhaltspunkte für bestimmte Fragen ergeben. Nufer: «Das Vertrauen ist zentral. Das Kind muss für seine Gedanken eine Bühne entwickeln können.» Aus diesem Grund sitzen die Befragerinnen und Befrager den «Opfern» auch nie direkt gegenüber. Die Kinder müssen die Möglichkeit haben, dem Blick der Experten auszuweichen.
Dezember 1999. Daniela Erpf verlässt Heinz, ihren Ehemann, und zieht wenig später mit den drei gemeinsamen Kindern zu ihrem neuen Freund (alle Namen geändert). Heinz Erpf, Landwirt und Hausmann, hatte Anna, Bruno und Christine grösstenteils betreut. Die gelernte Psychiatrieschwester verweigert dem Vater jeglichen Kontakt zu den Kindern. Diese sind ein, zwei und sechs Jahre alt.
Knapp eine Woche, nachdem die Behörde Heinz Erpf ein Besuchsrecht zugestanden hatte, äussert Daniela Erpf den Verdacht, er könnte seine Kinder sexuell missbraucht haben. Die Vormundschaftsbehörde Freiburg hebt das Besuchsrecht sofort auf. Eine «Abklärung» wird angeordnet. Vorsorglich wird ein begleitetes Besuchsrecht eingeführt. Einen Tag nach dieser Verfügung erhebt die Mutter Strafanzeige. Sie sei sich jetzt absolut sicher, dass ihre Kinder missbraucht worden seien.
Mutter zieht alle Register
Die Kinder werden zuerst von der Polizei, dann von einer Gutachterin mehrmals einvernommen. Das Gutachten bestätigt den Verdacht nicht. Die Kontaktsperre wird aufgehoben. Daniela Erpf reagiert sofort. Eine Woche später verklagt sie auch Erpfs Bruder und den Grossvater der Kinder: Sie alle hätten die Kleinen aufs Schändlichste missbraucht. Träfen die Vorwürfe nicht zu, erklärt die Anwältin der Kinder, müsste die Mutter psychiatrisch untersucht werden. Die Kinder werden erneut befragt. Die Mutter ist bis heute nicht untersucht worden. Eine Klage wegen übler Nachrede ist noch hängig.
Viele Fachleute erklären, dass bei Scheidungsverfahren heute deutlich mehr Verdachtsabklärungen auftreten; gleichzeitig würden auch mehr Verfahren wegen methodischer Fehler eingestellt. Genaue Zahlen fehlen: Die kantonalen Erhebungsschlüssel sind sehr unterschiedlich. Statistisch werden einzig die rechtsgültigen Verurteilungen erfasst: Es sind seit 20 Jahren gleich viel – rund 300 jährlich. Man muss davon ausgehen, dass es sich grösstenteils um Delikte zwischen Vater und Tochter handelt. Die Dunkelziffer ist gross.
«Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch löst vielerorts Hektik aus», sagt Madeleine Eggler. «Die Verantwortung der erstbefragenden Person wird generell unterschätzt. Kinderschutzmassnahmen sind erst dann effektiv, wenn die Gesamtsituation erfasst wird – im Austausch unter Ärzten, Juristen, Sozialarbeitern, der Polizei, der Vormundschaftsbehörde und der Opferhilfe. Isolierte Bemühungen, die Wahrheit zu finden, bringen nichts.»
Zeichnet sich ein Lichtblick ab? Die parlamentarische Initiative von Christine Goll aus dem Jahr 1994 wird demnächst gesetzlich verankert. Danach sollen Kinder während eines Verfahrens nicht mehr als zweimal einvernommen werden. Videoaufzeichnungen werden obligatorisch. Verlangt wird überdies eine Abklärung durch «speziell ausgebildetes Personal» sowie das «Beisein einer weiteren Fachperson».