Auf direktem Weg in die Armut
Eltern, die schon in guten Zeiten wenig Geld haben, finden sich nach einer Trennung sehr schnell auf dem Sozialamt wieder. Besonders gefährdet sind die Frauen.
Veröffentlicht am 17. Dezember 2007 - 16:46 Uhr
Sie war noch jung, und sie war verliebt. Und als sie heirateten, sah sie eine Zukunft, die war hell und warm und unendlich. Sie brachte einen Sohn zur Welt, und drei Jahre später war sie ein zweites Mal schwanger, diesmal mit Zwillingen. Jolanda Sieber (alle Namen geändert) hätte nie gedacht, dass sie später einmal sagen würde: «Plötzlich blieb nur noch das Sozialamt.» Das «plötzlich» trat keine fünf Jahre nach der Geburt der Zwillinge ein. Ihre Ehe brach auseinander. Sie erhielt bei der Scheidung das Sorgerecht zugesprochen und Unterhalt für die Kinder, nicht aber für sich selbst. Doch der Vater konnte die Alimente für die Kinder nicht bezahlen. Sie musste zur Fürsorge und dort um Bevorschussung bitten. Bis die erste Zahlung von der Stadtkasse kam, vergingen Monate.
Zu der wenig romantischen Erkenntnis, dass Kinder teuer sind, gibt es noch eine Steigerung. Sie lautet: Bei einer Trennung (von Ehe oder Konkubinat) laufen Väter und Mütter mit tiefen Einkommen direkten Weges in die Armutsfalle. Betroffen von dieser gesellschaftlichen Misere sind beide, Männer und Frauen - aber bei den geschiedenen Frauen ist die Quote mit 10,3 Prozent doppelt so hoch wie bei den Männern. Woran das liegt, zeigen gleich zwei aktuelle Studien: die eine von der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen, die andere von der Caritas (siehe Artikel zum Thema «Die Familienpolitik hält mit der Realität nicht Schritt»). Die Frauenkommission hat analysiert, wie die Gerichte in der Frage der Alimente entscheiden. Das Resultat: Dort, wo das Einkommen beider Parteien nicht für zwei Haushalte reicht (sogenannte Mankofälle), wird das Defizit nur einer Partei aufgebürdet - derjenigen, bei der die Kinder leben, in der Regel also der Frau.
Siebers Situation ist exemplarisch. Während ihrer Ehe war die Rollenverteilung klassisch: Er ging arbeiten, sie kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt. Umso schwieriger war es für sie, nach der Trennung wieder ins Berufsleben einzusteigen, vor allem mit einem Teilzeitpensum. Das Gesetz anerkennt diese Problematik und den Aufwand, den die Betreuung der Kinder bedeutet; deshalb hätte der Exmann von Jolanda Sieber ihr zusätzlich zu den Alimenten für die Kinder auch den Unterhaltsbeitrag von 800 Franken zahlen müssen. Aber das hätte bedeutet, dass auch er zum Sozialfall geworden wäre, weil er nach Abzug von Alimenten und Fixkosten weniger als das Existenzminimum zur Verfügung gehabt hätte. Wie in den meisten Fällen hiess es deshalb, dem Mann sei nicht zuzumuten, der Exfrau existenzsicherndes Unterhaltsgeld zu zahlen. Sie muss selber schauen.
Für viele Frauen bedeutet diese Rechtsprechung und die Tatsache, dass es weder Ergänzungsleistungen noch auf Alleinerziehende zugeschnittene Integrationsangebote gibt: einmal arm, immer arm. Denn neben der nun folgenden jahrelangen Abhängigkeit von der Sozialhilfe und der immer grösseren Schwierigkeit, wieder im Berufsleben Fuss zu fassen, wird sie kaum eine Chance haben, eine ausreichende Vorsorge aufzubauen: Kaum verdient sie einmal genug, um für sich und ihre Kinder zu sorgen, muss sie damit rechnen, dass die Sozialhilfe bei ihr anklopft und verlangt, dass sie das von dort erhaltene Geld zurückerstattet.
Das, kommt die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen zum Schluss, widerspricht dem Gleichbehandlungsgebot des revidierten Scheidungsrechts. Die Kommission verlangt von den Richtern, dass sie ihre Praxis ändern und dass das Existenzminimum zugunsten einer gerechten Lastenverteilung nicht mehr sakrosankt ist. Diese Forderung ist bei den Männern gar nicht gut angekommen. Viele haben heute schon das Gefühl, nur noch zahlen zu müssen, zumal ihnen das Sorgerecht nur selten zugesprochen wird. Scheidungen tun weh - auch wirtschaftlich. Deshalb nehmen sich nicht wenige einen Anwalt und hoffen, so das Beste fürs eigene Portemonnaie herauszuholen. Aber das führt nicht selten zu einem harten Gefecht, und nacheheliche Beziehung und Kinderbetreuung werden noch schwieriger.
«Das Verhältnis geht dort weiter, wo man vorher aufgehört hat», sagt Roman Tanner: «Wenn ein Paar gut über Geld sprechen konnte, gehts auch nachher.» Er ist Vater von drei Kindern, und zwei davon leben seit der Trennung bei ihm. Er hatte nie viel Geld, aber als die Familie noch im gleichen Haushalt wohnte, gings immer irgendwie. Beide arbeiteten Teilzeit, beide kümmerten sich um die Kinder und den Haushalt. Jetzt war er plötzlich in der Situation, in der sich sonst meistens die geschiedenen Frauen wiederfinden: Er hätte arbeiten und gleichzeitig die Kinder - beide in der Primarschule - betreuen sollen. Er und seine Exfrau hatten im Voraus alles abgemacht, man konnte auch nach der Trennung miteinander reden, aber die veränderte Situation schlug Roman Tanner schwer auf die Psyche. Arbeiten ging gar nicht mehr, und vom Sozialamt abhängig zu sein drückte ihn noch mehr nach unten. «Das Einzige, was mich diese Zeit durchstehen liess, waren die Kinder, für die ich da sein musste.»
Heute ist das Schlimmste überstanden. Aber die Frage, wie es sein kann, dass es in diesem reichen Land nicht für alle reicht, lässt ihn nicht los: «Beim Einkaufen merkst du, wie viele Leute in derselben Situation sind.» Und noch etwas beschäftigt den 40-Jährigen: «Die Männer in unserer Gesellschaft haben nie gelernt zu diskutieren. Vermutlich weil sie immer arbeiten. Wenn die Beziehung dann ‹plötzlich› scheitert, ist das Einzige, was bleibt, das Bezahlen der Alimente. Das ist eigentlich irr.»
Auch der Expartner von Luzia Weibel tat sich schwer mit dem Bezahlen. Sie und ihr Partner lebten im Konkubinat und hatten einen sechsjährigen Sohn, als die Beziehung in die Brüche ging. Weil sie nicht verheiratet waren, steht der Mutter nur der Unterhaltsbeitrag fürs Kind zu, aber auch diese Alimente bezahlte der Vater nur unregelmässig oder gar nicht. Weibel versuchte dennoch, ihr Studium abzuschliessen, dem Kind eine gute Mutter zu sein - und Geld zu verdienen. Und dann war ihr wichtig, dass Friede ist zwischen ihr und dem Ex, auch zum Wohl des Sohnes. Sie biss die Zähne zusammen. Bis der Vater eines Tages sagte, sein Therapeut habe ihm empfohlen, das Kind eine Weile nicht mehr zu sehen. «Da musste ich ihm klarmachen, dass Vatersein eine Verantwortung ist.» Diese Krise konnten sie meistern, aber die Zahlungen kamen immer noch nicht, und Weibel zögerte, aufs Amt zu gehen, der Harmonie zuliebe. Als sie die Miete nicht mehr bezahlen konnte, brach sie mit Erschöpfungsdepression zusammen, musste Medikamente nehmen und ihr Studium abbrechen. Seither wird ihr der Unterhaltsbeitrag bevorschusst, und wenn er nicht bezahlt, sind es die Behörden, die ihn mahnen.
Heute kommen alle drei Betroffenen so knapp über die Runden: Jolanda Sieber kann von zu Hause aus arbeiten, Roman Tanner hat einen Teilzeitjob gefunden, der mit dem Stundenplan der Kinder harmoniert, und Luzia Weibels neuer Freund unterstützt sie im Haushalt. Aber ihre Verhältnisse und die von Tausenden anderen Alleinerziehenden bleiben prekär. Um die Situation von armen Alleinerziehenden zu verbessern, müssen Politik und Arbeitgeber handeln. Dass heute jede zweite Ehe geschieden wird, ist Realität.