Damit nach Papas Tod noch etwas bleibt
Remo Rosenberger, 34, ist sterbenskrank. Mit einem speziellen Hörbuch will er für seine Kinder noch ein wenig da sein, wenn er nicht mehr ist.
Veröffentlicht am 24. Juni 2021 - 16:58 Uhr,
aktualisiert am 10. Februar 2022 - 17:49 Uhr
Seine Stimme klingt nach Sonne im Gesicht, nach Tau an den Füssen, nach Kaffee auf dem Gaskocher. «Lieber Janis, liebe Ronja, unsere Familienferien auf dem Camping in Avenches, so gern erinnere ich mich daran.»
Remo Rosenberger lächelt, als er die Aufnahme hört. Ein Häuflein Mensch ist er nur noch, wie er am Küchentisch der Wohnung in Köniz BE sitzt. Der Krebs hat den Wasserballer zu einem Männlein schrumpfen lassen. Seine Augen aber blicken wach. Wach und sanft.
Lange leben wird Remo Rosenberger nicht mehr, sagen die Ärzte. Ende Juli ist sein 35. Geburtstag. Vielleicht ist der Papa von Janis, 4, und Ronja, 6, dann bereits nicht mehr da.
Wenigstens seine Stimme soll ihnen erhalten bleiben. Er hat für sie ein Hörbuch aufgenommen. Ein Hörbuch über sein Leben, 40 Kapitel, sieben Stunden lang, Autobiografie und Liebeserklärung in einem. (Anm. d. Red.: Einen kurzen Ausschnitt davon können Sie am Ende dieses Artikels anhören.) Ein Hörschatz, der, wenn er fertig ist, in der Gestalt eines Memory-Sticks in Herzform daherkommt, eingepackt in eine kleine Schatztruhe.
«Meine Kinder sollen nicht nur Fotos von mir haben, sondern mich auch hören können. Sie sollen erfahren, wer ich war, was ich ihnen noch sagen wollte, wie ich als Mensch geklungen habe.»
Seine Frau war es, die das Angebot im Internet entdeckt hatte. Der Verein Hörschatz ermöglicht es sterbenskranken Eltern, für ihre Kinder kostenlos eine professionell aufgenommene Audiobiografie zu verfassen. Gründerinnen sind Gabriela Meissner vom Palliativ-Care-Verband Zürich und Schaffhausen und Radiomoderatorin Franziska von Grünigen. Finanziert wird das Projekt mit Spenden.
Die Idee haben sie vom Projekt Familienhörbuch aus Deutschland übernommen. «Ein Hörschatz soll ein Geschenk für die Kinder sein, eine Erinnerung an die Mama oder den Papa», sagt von Grünigen. Sich mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen, habe auch eine therapeutische Wirkung. «Der Blick zurück auf die Fülle des Lebens kann helfen, das eigene Schicksal zu akzeptieren.»
Der Hörschatz
Drei Tage lang ist Remo Rosenberger diesen März mit der Radiofrau zusammengesessen, ist eingetaucht in seine Kindheit, hat sich an Erlebnisse, Momente und Gefühle erinnert, seine Gedanken in ein Mikrofon gesprochen. Wie er als Bub sein Zimmer zur Räuberhöhle umgebaut hat, wie seine Frau und er sich zum ersten Mal geküsst haben, wie es war, als Ronja und Janis auf die Welt gekommen sind.
Viel haben sie mit Fotos gearbeitet, die er zusammengesucht oder die ihm Eltern und Freunde gegeben hatten. Oft kam erst mit ihnen die Erinnerung wieder hervor. An die Ämtli-Zettel etwa, die ihm seine Mutter jeweils hinterlegt hat, oder die Reise mit dem Nachtzug ins internationale Pfadilager in England.
Natürlich kommt bei den Aufnahmen auch der Kampf mit dem Krebs zur Sprache, der Schock und der Schrecken, das Hoffen und Bangen, die Wut und die Trauer. Tränen sind geflossen, aber weit mehr hätten sie gelacht, erzählt der 34-Jährige. «Mir ist bewusst geworden: Ich hatte ein volles Leben, auch wenn es kürzer ist als das der meisten anderen.»
Den ersten Schultag seiner Kinder aber wird er möglicherweise nicht mehr erleben, wird nie eine gute Note mit ihnen feiern, sie nie trösten können, wenn die Lehrerin gemein zu ihnen war. Auch für solche Momente ist der Hörschatz gedacht, den Radiofrau von Grünigen nun geschnitten, mit Musik unterlegt und fertiggestellt hat. Der Papa soll erlebbar bleiben. Vielleicht hat er einen Rat parat, vielleicht mal dasselbe durchgemacht.
Es ist eine Präsenz, die durchaus heikel sein kann. «In einer ersten Version habe ich gesagt: Ich werde vom Himmel alles sehen, was ihr macht», erzählt Remo Rosenberger. Von Grünigen habe ihn dann darauf hingewiesen, dass die Kinder das möglicherweise gar nicht wollen. Dass sie irgendwann Dinge tun würden, bei denen der Vater nicht von irgendwoher auf sie schauen soll. Rosenberger hat sein Versprechen darum abgeändert. «Jetzt sage ich: Wenn ihr mich braucht, werde ich für euch da sein. So habe ich es eigentlich von Anfang an gemeint.»
«Ein Hörschatz darf Ratschläge enthalten, den Kindern aber nicht in die Zukunft dreinreden.»
David Blum, Kompetenzzentrum für Palliative Care
Der Verein Hörschatz lässt sich von einer professionellen Trauerbegleiterin beraten. Die letzten Worte der Eltern sollen nicht ungewollt Druck auf die Kinder ausüben. Das kann bereits mit einem scheinbar harmlosen «Ich wünsche mir, dass ihr glücklich werdet» geschehen. Glücklich sein wird dann zum Auftrag.
«Ein Hörschatz darf Ratschläge enthalten, den Kindern aber nicht in die Zukunft dreinreden», sagt David Blum vom Kompetenzzentrum für Palliative Care am Universitätsspital Zürich. Er begleitet den Verein als wissenschaftlicher Beirat und plant mit ihm ein Forschungsprojekt. Der «wertschätzenden Biografie-Arbeit» misst er eine wichtige Rolle bei der Sterbebegleitung zu. Weil sie das Positive ins Zentrum stellt. Und weil sie den Sterbenden ermöglicht, nochmals etwas zu erschaffen, das bleibt. «Ein Hörschatz kann sinnstiftend wirken für alle Betroffenen», sagt Blum.
Oliver Wiser und seine Kinder Zoë, 13, und Jendrik, 11, haben schon durchgemacht, was auf die Rosenbergers zukommen könnte. Mutter Wanda ist im letzten Dezember verstorben, auch bei ihr war es Krebs. Im Garten des Winterthurer Zweifamilienhauses stehen noch immer zwei Korbstühle, in denen die Eltern am Abend manchmal bei einem Glas Wein beisammengesessen sind, wenn die Kinder im Bett waren.
Jetzt sitzt Oliver Wiser allein am Wohnzimmertisch, in der Hand den Stick mit Wandas Hörschatz. «Sie hat selber ihren Vater früh verloren und es bedauert, dass sie sich immer weniger an seine Stimme erinnern konnte», sagt er.
An die Aufnahmen im Wohnzimmer erinnert er sich gut. Die Kinder waren bei seinem Bruder, er selbst verzog sich ins Homeoffice im Keller. Nach den drei Tagen sei Wanda völlig erschöpft gewesen. «Sie hat daraus aber auch unglaublich viel Energie gezogen.» Das war im April vor einem Jahr, und alle dachten, es dauere nur noch Wochen. Wanda aber lebte weiter bis im Dezember, blühte nochmals auf. «Wir konnten sogar ein letztes Mal zusammen in die Ferien fahren.»
Das erste Mal in den Hörschatz reingehört haben er und die Kinder erst, als die Mama nicht mehr da war. Wanda wollte das so. Zu dritt sind sie auf dem Sofa gesessen und haben ihrer Stimme gelauscht. Die Wirkung sei enorm gewesen, sagt Wiser. Es habe sie alle berührt und erschüttert.
Er selbst hört sich seither Stück für Stück durch die Erzählung durch, oft am Abend, wenn er allein noch wach ist und seine Frau ihm besonders fehlt. Starke Gefühle, schöne und traurige, ruft auch die Musik hervor, die Songs, mit denen jedes Kapitel anfängt und endet, alle mit Erinnerungen verbunden.
Zoë und Jendrik zögerten lange, bis sie sich ein zweites Mal an den Hörschatz wagten. (Anm. d. Red.: Einen kurzen Ausschnitt können Sie am Ende dieses Artikels anhören.) Sie taten es schliesslich ganz unterschiedlich. Bei Zoë war plötzlich der Wunsch da, mehr über das Leben ihrer Mutter zu erfahren. «Sie kam zu mir und sagte, sie wolle jenes Kapitel hören, in dem Wanda von ihren Eltern erzählt, die einst aus der Tschechoslowakei in die Schweiz geflüchtet sind».
Ihr jüngerer Bruder Jendrik fasste daraufhin Mut und bat seinen Papa, gemeinsam mit ihm ein zweites Mal der Mama zu lauschen. Während Zoë inzwischen ab und zu in den Hörschatz reinhört, lässt Jendrik ihn wieder ruhn.
Genau das sei die Idee, sagt Gabriela Meissner, Co-Gründerin des Vereins. Der Hörschatz als Erinnerungsstück, das man hervorholen und wieder versorgen kann. Eine Gebrauchsanweisung will sie aber nicht abgeben. «Wir empfehlen einzig, dass die Eltern die Schatzhüter sind, solange die Kinder jung sind.»
Remo Rosenberger, der junge Vater, hofft, dass er sein Hörbuch noch mit seiner Frau und den Kindern hören kann, bevor er gehen muss. Zumindest einen Teil. «Vielleicht haben sie Fragen, die ich ihnen noch beantworten kann», sagt er, und muss nun doch leer schlucken. Der Hörschatz soll auch ein Abschied sein, ein Loslassen – für sich und die Kinder.
«Ich will ihnen helfen, mich als Teil ihres Lebens zu begreifen. Einen Teil, den sie zwar bewahren sollen, den sie aber auch hinter sich lassen müssen, um sich für die Zukunft neu zu öffnen.»
2 Kommentare
Hier stellt sich die Frage, ob mit visuellen oder gar audiovisuellen Hinterlassenschaften die Trauerarbeit nicht verzögert, vielleicht sogar verunmöglicht wird. Loslassen ist nicht nur ein Thema, für den, der geht, sondern auch für die, die zurückbleiben. Es ist sowieso nicht möglich, das Leben einer bestimmten Person "aufzubewahren" oder nachzuerleben, auch nicht in Bruckstücken, da jede Person ein gleiches Ereignis anders erlebt. Vielleicht ist "Aus den Augen (und Ohren), aus dem Sinn" der richtige Weg, zumindest mittel- und sicher langfristig.
"Der Krebs hat den Wasserballer zu einem Männlein schrumpfen lassen. " Sorry, aber ist dieser Satz irgendwie nötig? Ich denke nicht...