Als die zweijährige Lara ein Fürzchen von sich gibt, sagt sie freudig strahlend: «Papa!» Was Papa peinlich berührt. Bislang hat er sich nichts dabei gedacht, wenn er in Laras Anwesenheit pupste. Doch jetzt weiss er: Das ist Vorbildwirkung.

Eltern sind Vorbild, ob sie wollen oder nicht. Oder umgekehrt: Kinder sind Kopisten, im Guten wie im Schlechten. Gnadenlos. Und zwar schon viel früher, als die Erwachsenen gemeinhin ahnen. «Das Kind ist biologisch darauf angelegt, sein Verhalten nach Vorbildern auszurichten», schreibt der Zürcher Kinderarzt und Buchautor Remo Largo.

Die Fachwelt ist sich heute einig, dass die Eltern zumindest für Babys und Kleinkinder die wichtigsten Vorbilder sind. In den ersten Jahren wird mehr oder weniger alles kopiert, was dem Kind nachahmenswert erscheint. Dies geschieht jedoch unbewusst, denn schliesslich muss alles erst einmal ausprobiert sein, bevor man weiss, ob es später nützlich ist oder nicht.

Neuste Erkenntnisse aus der Hirnforschung liefern auch Erklärungen: Im menschlichen Gehirn gibt es spezielle Nervenzellen, so genannte Spiegelneuronen, die eine Doppelfunktion ausüben: Sie nehmen Bewegungen und Geräusche wahr und stimulieren die Nachahmung dieser Bewegungen und Geräusche. Deshalb imitieren Kinder oft die Gestik und Mimik ihres Gegenübers; sie blinzeln zurück, schneiden die gleichen Grimassen, strecken ebenfalls die Zunge raus - das Verhalten des Kindes spiegelt das Verhalten von Mutter und Vater.

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Auch Erwachsene kopieren - etwa den Chef

Was für Kinder gilt, gilt auch für Erwachsene. Über Spiegelneuronen ahmen wir die Menschen nach, auf die wir fokussiert sind: Kratzt sich der Chef während einer Besprechung am Kopf oder verschränkt die Arme, tun einige Anwesende das Gleiche - und unterdrücken es, sobald sie es bemerken. Ebenso bedeutend sind die Spiegelneuronen beim Erlernen von Fertigkeiten. So steigen manche Kinder aufs Rad und fahren los, ohne jemals geübt zu haben; sie haben ihren Altersgenossen einfach nur zugesehen und die Bewegungsmuster gespeichert.

Doch nicht nur Bewegungen werden abgeschaut und imitiert. Auch das ganze Sozialverhalten richten Kinder nach Personen aus, die ihnen vertraut sind. «Meine Mutter ist mir Vorbild beim Umgang mit Menschen», sagt die zwölfjährige Nicole, «sie kann auch gut mit Tieren umgehen.» Und die gleichaltrige Kerstin schätzt es sehr, wie ihre Mutter aufs Geld schaut: «Obwohl wir nicht viel haben, schafft sie es immer, dass ich ins Lager mitgehen kann.»

Man vergisst oft, dass man Vorbild ist

Kinder lernen in der Regel am Modell der Familie: Wie gehen die Eltern miteinander um? Hören sie aufeinander? Wer bestimmt? Was haben sie für Essmanieren? Wie kleiden sie sich? Wie wichtig sind Beruf und Leistung für sie? Was ist ihnen lästig? Was freut sie? Wie oft lachen sie? Treiben sie Sport? Interessieren sie sich für die Natur? Lesen sie Bücher und Zeitungen? Welche Fernsehsendungen schauen sie sich gern an?

Der Winterthurer Erziehungsberater Peter Angst glaubt, dass sich Eltern ihrer Vorbildwirkung grundsätzlich bewusst sind. Jedoch: «Die ersten Jahre der Erziehung fallen heute in eine Phase, in der die Eltern beruflich stark belastet sind. Da geht häufig vergessen, dass man zu Hause Vorbild ist.» Zudem werde oft übersehen, «dass Erziehung viel mit Selbsterziehung zu tun hat: Wer die eigenen ‹Möödeli› im Griff hat, wird den Kindern leichter verständlich machen können, weshalb sie nicht rauchen sollten oder vor dem Fernseher nicht gegessen wird».

Wissenschaftlich belegt ist, dass Kinder aus Raucherfamilien eher zu rauchen beginnen als Kinder aus Nichtraucherfamilien. Immerhin besteht der Nachahmereffekt auch, wenn Eltern mit dem Rauchen aufhören: Ihre Kinder fangen seltener damit an, und Jugendliche, die bereits qualmen, hören eher damit auf. Ähnlich bei der Ernährung: Dicke Kinder haben meist dicke Eltern - weil sie genau jenes Essen vorgesetzt bekommen, das zur Fettleibigkeit der Eltern geführt hat. Und wenn die Eltern hektisch essen, werden auch die Kinder keine Ruhe finden.

So gesehen ist es ganz schön anstrengend, ständig Vorbild zu sein. Da kommt der US-Psychologe und Verhaltensgenetiker David C. Rowe vielen gelegen. In seinem Buch «Genetik und Sozialisation», das die Macht der Erziehung radikal anzweifelt, schreibt er: «Was heisst es wirklich, wenn aggressive Eltern ihrerseits jugendliche Schläger grossziehen? Ist dies tatsächlich ein Beleg für den fatalen Einfluss ihres ‹Verhaltensmodells›? Ebenso gut könnten es die von den Eltern vererbten Gene gewesen sein, die das Kind zum Rowdy gemacht haben.»

Der Einfluss der Gene aufs menschliche Verhalten wird auf einen Drittel bis die Hälfte veranschlagt. Damit bleiben aber mindestens 50 Prozent, die man als Eltern beeinflussen kann. Oder wie es Remo Largo ausdrückt: «Ein Kind erwartet zu Recht von den Eltern, dass sie als Vorbilder zur Verfügung stehen.»

Allerdings: Es ist gar nicht nötig, Kindern ständig ein perfektes Vorbild zu sein. Die Kleinen haben ein Gespür für die Echtheit von Personen - sie würden das Theater schnell durchschauen. Zudem besteht die Welt aus Widersprüchen und Ungereimtheiten. Das zu begreifen ist wichtig für die kindliche Entwicklung. Wer zeigt, dass er eigene Fehler wahrnimmt und zu korrigieren versucht, ist das beste Vorbild dafür, dass Menschen immer dazulernen können.

Quelle: Anna Luchs