Die absurde Autismus-Regel der IV
Ein autistisches Kind erhält nur Hilfe von der IV, wenn die Diagnose vor dem fünften Geburtstag gestellt wird. Fachleute und Eltern kritisieren das.
Veröffentlicht am 20. Januar 2020 - 09:24 Uhr
Moritz* ist zehn und ein stiller Bub. Seit er gehen kann, bewegt er sich nur auf Zehenspitzen. Wenn er sich aber überfordert fühlt – und das passiert oft –, wird er wütend, schreit herum und reisst sich an den Haaren.
Sprechen gelernt hat Moritz erst spät. In seiner Sprachentwicklung hinkt er den Gleichaltrigen weit hinterher, obwohl er seit Jahren heilpädagogisch und logopädisch betreut wird. Er hat oft Mühe, die richtigen Wörter zu finden. Er sagt «Loch» statt «Lavabo» und wiederholt Sätze mehrmals, bis er sie versteht. Die Schule macht ihn so müde, dass er noch als Achtjähriger einen Mittagsschlaf brauchte. Sie überfordert ihn, immer öfter weigert er sich, hinzugehen. Seit den Herbstferien war er kaum mehr da. Seine Eltern sind verzweifelt.
Die Mutter hat im Januar vor einem Jahr ihren Job als Pflegefachfrau aufgegeben, um mehr Zeit für ihn zu haben. Seit damals hat Moritz die Diagnose frühkindlicher Autismus. Das erklärt, warum er in seiner Entwicklung zurückbleibt, auch seine Probleme mit Sprache und Kommunikation.
Die meisten Kinder erhalten die Diagnose im Alter zwischen zwei und drei, weil sie sich auffällig verhalten . Moritz bekam sie erst mit neun, obwohl er schon als Kleinkind verschiedenste Therapien machen musste. Aber niemand kam auf die Idee, dass er Autist sein könnte. Das ist Pech, denn die IV anerkennt Autismus als Geburtsgebrechen nur, wenn die Störung vor dem fünften Altersjahr diagnostiziert wird.
Der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst hat Moritz trotzdem bei der IV angemeldet, damit seinen Eltern alle medizinischen Leistungen vergütet werden. Die IV lehnte das Gesuch ab. Die Behandlung des Leidens werde «nur übernommen, wenn eindeutige Symptome schon vor dem vollendeten 5. Lebensjahr erkennbar und ärztlich dokumentiert waren». So steht es auch in der Verordnung über Geburtsgebrechen zu Autismus-Spektrum-Störungen im IV-Gesetz.
Allerdings: Um die Krankheit als Geburtsgebrechen anzuerkennen, reicht es eigentlich, wenn sich nachträglich nachweisen lässt, dass die Symptome bereits vor dem fünften Geburtstag bestanden. Der Verein Autismus deutsche Schweiz und die Behindertenorganisation Procap kritisieren, dass sich die IV nicht immer an diese Regelung hält. Sie kennen zahlreiche Fälle von Kindern, deren Eltern dafür kämpfen müssen, dass die Krankheit als Geburtsgebrechen anerkannt wird, nur weil die Diagnose zu spät gestellt wurde.
Moritz’ Eltern erhoben Einsprache gegen den Entscheid. Vergeblich. Die IV lehnte die Kostengutsprache für medizinische Massnahmen erneut ab. Die Familie hätte den Entscheid vor Gericht anfechten können, verzichtete aber. «Ich kann nicht mehr. Immer muss ich für Moritz kämpfen. Nun hilft uns nicht einmal die IV», sagt seine Mutter. «Es ist total unfair, dass wir mit den Kosten alleingelassen werden. Wie hätten wir denn schon früher wissen sollen, dass Moritz Autist ist? Auch die Fachleute sind damals nicht auf diese Idee gekommen.»
So bleibt es dabei. Die Familie muss den Selbstbehalt für Medikamente und Therapien selber tragen. Das sind mindestens 300 Franken pro Jahr. Sollte später eine spezielle Therapie für Moritz nötig werden, die die Kasse nicht anerkennt, wird die Familie alle Kosten dafür selber tragen müssen. Irritierend sei, dass selbst die IV die Diagnose nicht anzweifle – und trotzdem nicht bezahle.
Die Altersgrenze bei Geburtsgebrechen dient dazu, angeborene von nicht angeborenen Gebrechen und geringfügige von schweren Leiden abzugrenzen. Die IV zahlt nur bei angeborenen und schwerwiegenden Leiden. Bei Moritz sei das nicht der Fall, so die IV. Aus Sicht der Mutter ist das blanker Hohn.
Das für die IV zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen erklärt: «Es ist unbestritten, dass die in der Verordnung vorgesehenen Altersgrenzen aus medizinischer Perspektive keine abschliessenden Kriterien für die geforderten Abgrenzungen darstellen.» Mangels besserer Alternativen seien sie dennoch als juristische Kriterien gewählt worden. Sie ermöglichten eine gute Annäherung.
In der anstehenden IV-Revision sind die Geburtsgebrechen bisher nicht traktandiert. Sie könnten dennoch Thema werden. Martin Boltshauser, Leiter des Procap-Rechtsdiensts, fordert, dass die Alterskriterien gestrichen und die medizinischen Kosten ab der klaren Diagnose übernommen werden, sofern das Leiden eindeutig angeboren und nicht erworben ist. Diese Lösung brächte auch Kindern mit psychischen Störungen Verbesserungen, zum Beispiel bei ADHS, wo die Altersgrenze heute bei neun Jahren liegt. Auch hier führt die aktuelle Regelung dazu, dass viele Kinder wegen des engen Altersrasters keine Hilfe erhalten.
Hoffen lässt ein anderer Fall: Im Frühling 2016 wurde die Chromosomenstörung Trisomie 21 in die Liste der Geburtsgebrechen aufgenommen, nachdem SP-Ständerat Roberto Zanetti 2013 eine Motion eingereicht hatte. Nun muss die IV die Behandlungen bezahlen.
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3 Kommentare
Das war hier beschrieben wird ist typisch für Autismus und wenn das nicht früher gemerkt wurde, ist da einiges schief gelaufen, von seiten der Kinder Ärzte usw. Vielleicht würde es auch nützen, wenn Eltern ihre Kinder selbst betreuen statt beide voll schaffen zu gehen, es tut mir leid das sagen zu müssrn, aber so etwas merkt man spätestens mit drei Jahren und dann klappert man alle Therapeuten und Psychologen ab, bis man weiss was mit dem Kind los ist. Ich kann über diesen Fall nicht urteilen, aber die Ärzte hierzulande klären sowas ab und es ist die Verantwortung der Eltern das in die Wege zu leiten. Wenn halt beide voll schaffen, merkt man viel auch nicht so und man hat keine Zeit alke Ärzte abzuklappern. Dann merken es erst die Lehrer in der Schule. Das will keiner hören, aber Eltern sind für ihre Kinder verantwortlich, keine Fremden die dafür bezahlt werden.
Bei allem Respekt - wie können Sie so verallgemeinernd etwas behaupten? Wir haben zwei Söhne. Beide mit ASS Diagnose (Asperger), beide von uns Eltern höchstpersönlich Tag und Nacht selbst betreut und beide hatten erst zur Schulzeit Schwierigkeiten. Denn: im vertrauten Umfeld treten bei unseren Jungs (und im übrigen auch bei vielen Autisten im Spektrum) massiv weniger Situationen auf, die die Kinder an ihre Grenzen bringen. Und weil wir unsere Kinder nur so kennen, wie sie halt eben sind, ist das für uns so halt auch normal. Aus unserer Sicht waren eher die anderen Kinder „anstrengend“, da wir unsere zum Teil sehr „erwachsen“ denkenden Söhne genau so schätzen, wie sie eben sind. Nie im Leben wären wir da auf die Idee gekommen, nach einer Diagnose zu suchen! Umso größer war dann die Belastung, die in der Schule auf die Kinder zukam. Bislang waren sie gewohnt, in ihrer eigenen Herangehensweise viel, schnell und selbstbestimmt lernen zu können. Und dann waren da plötzlich soviele für sie unverständliche Hindernisse und soziale Stolpersteine, die ihnen das Leben zur Hölle machten. Und glauben Sie mir: DAS, was da los war, konnten auch wir als selbst-betreuende Eltern nicht mehr abfangen! Bei der IV sind unsere Anmeldungen noch nicht durch. Aber wir hoffen sehr auf die Zusage, da gerade bei Asperger-Kindern mit der entsprechenden Unterstützung soviel bewirkt werden kann. Aber bitte: als Familie mit autistischem Kind wird man schon schräg genug angeschaut - weil man die „Behinderung“ eben nicht sieht. Da braucht es doch nicht auch noch ungerechtfertigte Vorwürfe von wegen „merkt man doch vor dreijährig“ - nein, merkt man meist eben gerade als fürsorgliche Eltern nicht...
Wie die Schweiz zur Unterstützung von Autismus vorbereitet ist, zeigt das politische Postulat von Ständerat Claude Hêche. 2002 wurde es eingereicht, in der Folge hat man die Lage analysiert und schwarz auf weiss niedergeschrieben, dass die Lage ungenügend sei. Es existieren Handlungsempfehlungen, die daraus entstanden sind (immerhin hat man 15 Jahre lang daran geforscht). Jetzt liegt der Ball bei den Kantonen und beim Bundesamt für Sozialversicherung. Da man Geld sparen will, wird sich die Situation wohl nicht verbessern. Ich finde das ein Armutszeugnis für die Schweiz.