Um 34 Personen, so viele, wie in einem kleineren Reisebus Platz haben, wächst in der Schweiz die Zahl der Rentenbezüger der Invalidenversicherung – jeden Tag. 270'000 Menschen sind es laut neuster IV-Statistik, 4,8 Prozent mehr als im Vorjahr. In gleichem Mass laufen die Finanzen aus dem Ruder; bis Ende 2002 wuchs der Schuldenberg der IV auf 4,5 Milliarden Franken.

Dies ruft nach Erklärungen – oder Sündenböcken. Der SVP-Tribun Christoph Blocher hat sie in den «Scheininvaliden» gefunden: Die im Sommer geprägte Wortschöpfung ist zum Inbegriff für das Malaise der IV geworden.

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Als «Schlag ins Gesicht» empfindet Marie-Louise Reck den verbalen Frontalangriff Blochers, der eine ganze Bevölkerungsgruppe unter den Verdacht stellt, sich Renten zu erschleichen. Als Direktbetroffene und somit Mitgemeinte rückt die 41-Jährige aus dem Kanton Zürich Schein und Sein zurecht: «Ich bin bei der IV gelandet, weil ich sonst von allen fallen gelassen worden bin.»

Ein Teufelskreis ohne Ausweg
Marie-Louise Reck hat in rund anderthalb Jahren das durchlaufen, was auch schon als «helvetische Sozialabschiebungsmatrix» bezeichnet wurde. Am Anfang, im April 2002, steht ein Misstritt, der zu einer Knieverletzung führt. Reck kehrt zwar bald an ihren Arbeitsplatz in der Kabelproduktion einer Technologiefirma zurück, doch werden die Schmerzen derart stark, dass sie ihren Job nicht mehr ausführen kann. Eine interne Alternative gibt es für die ungelernte, aber seit 25 Jahren berufstätige Frau nicht. Und auch kein Zurück mehr: Ihre Stelle wird gestrichen.

Der Rundlauf durch die Medizin
Zwischen Juli 2002 und Mai 2003 wird Marie-Louise Reck durch den medizinischen Apparat geschleust. Der Hausarzt reicht sie weiter an einen Spezialisten, dieser ordnet einen Aufenthalt in einer Rehaklinik an. Dort stellt man eine chronische Arthrose fest, die sich nun auch im Rücken bemerkbar macht. Dennoch wird im Austrittsbericht unter gewissen Bedingungen «eine volle Arbeitsfähigkeit für mittelschwere Tätigkeiten» vermerkt. Aufgrund dessen stellt die Suva per Ende Juli ihre Taggelder ein und verweist auf das Arbeitsamt als nächste Station.

Dort nützt der Hilfesuchenden die medizinische Einschätzung wenig, denn andere Faktoren – der Stellenmarkt, ihr beruflicher Werdegang – sprechen gegen sie. «Es liegt eine typische Diskrepanz zwischen der von einer Institution festgelegten Arbeitsfähigkeit und den in Realität vorhandenen Arbeitsplätzen vor», steht in der Verfügung des Zürcher Amts für Arbeit und Wirtschaft. Dazu kommt, dass Recks gesundheitliche Einschränkungen jegliche Arbeitsbemühungen verunmöglichen. Urteil: nicht vermittelbar, kein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung – ein Fall für die Fürsorge und die IV.

Marie-Louise Reck lebt heute mittellos mit ihrem Partner in einem Wohnwagen. Sie hat permanent Schmerzen, und die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation schlägt ihr zusehends aufs Gemüt. Bis eine allfällige Invalidenrente ausgerichtet wird, kann es noch Jahre dauern. Bei der IV angemeldet ist die 41-Jährige erst seit Mitte August. Dass dieser Schritt zu lange hinausgezögert wurde, ist ihr bewusst: «Ich habe halt immer gehofft, dass es doch noch gut kommt und ich wieder arbeiten darf.»

Wiedereingliederung wird verpasst 
Ein derartiger Verlauf ist leider üblich: Vom Ausscheiden einer leistungsbeeinträchtigten Person aus dem Arbeitsprozess bis zur ersten Kontaktnahme mit der IV vergehen im Schnitt 18 Monate. In dieser Phase, meist finanziert durch Lohnfortzahlungen der Firma und die Krankentaggeldversicherung, gibt es im heutigen System keine Vernetzung zwischen Ärzten, Arbeitgebern, Versicherern, Arbeitsämtern und der IV.

Ein schwerwiegender Mangel, der dazu führt, dass sich niemand für die berufliche Wiedereingliederung der Betroffenen verantwortlich fühlt. Das ist Gift für die IV-Maxime, Beschäftigung statt Rente zu ermöglichen. Experten gehen davon aus, dass schon nach einer sechsmonatigen Absenz von der Arbeitswelt die Chance auf eine erfolgreiche Reintegration auf die Hälfte gesunken ist.

Faktisch bedeutet das: Wer in der auf Effizienz getrimmten Wirtschaft den Anschluss verliert, ist stark gefährdet, auf die Einbahnstrasse Richtung IV-Rente zu geraten. «Die IV ist zur reinen Rentenversicherung pervertiert», ärgert sich Erwin Murer, Sozialrechtler an der Universität Freiburg. Er schätzt, dass jährlich bis zu zwei Milliarden Franken an IV-Ausgaben eingespart werden könnten, wenn kritische Fälle früher erfasst und von Beginn weg umfassende Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung ergriffen würden, statt «so absurd einseitig nur medizinische Abklärungen zu treffen». Umfassend heisst für Murer auch: unter Einbezug der Arbeitgeber. Heute sei es für diese zu bequem, Probleme mit Leuten, die auf der Kippe stehen, über die IV zu lösen.

Plötzlich gehörte sie nicht mehr dazu
Wie «bequem», hat Brigitte Eigenmann (Name geändert) erfahren müssen. Die Ostschweizerin, seit Geburt halbseitig gelähmt und an Epilepsie erkrankt, war 30 Jahre lang mit einer halben IV-Rente als Büroangestellte bei einer Versicherung tätig. Ein verständnisvoller Vorgesetzter und engagierte Kollegen halfen ihr, gelegentliche Absenzen zu kompensieren. Die Gewissheit, trotz wachsendem Leistungsdruck als ein vollwertiges Teammitglied anerkannt zu werden, dankte sie mit totalem Einsatz.

Diesen Sommer drehte der Wind aber unvermittelt. Ein neuer Chef gab Brigitte Eigenmann zu verstehen, sie genüge den Anforderungen nicht mehr, sei vom neuen Computersystem überfordert. Für die Betroffene war dies nur ein Vorwand: «Es hatte ganz einfach keinen Platz mehr für mich», sagt die 52-Jährige desillusioniert. Seit Ende August ist sie arbeitslos.

Ihr Ex-Arbeitgeber wählte für den Abbau ihres Nischenarbeitsplatzes den «blauen Weg» und erwirkte, dass Eigenmann nun eine volle IV-Rente von rund 1400 Franken erhält. Zusammen mit den 800 Franken aus der Pensionskasse reicht das der allein stehenden Frau zum Leben. Doch materielle Werte können das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören, nicht aufwiegen. Deshalb setzt Brigitte Eigenmann alles daran, wieder eine Beschäftigung zu finden. Bislang gab es aber nur Absagen, selbst für freiwillige Tätigkeiten. Ihre bange Frage: «Wenn nicht einmal das geht – wo soll jemand wie ich denn eine richtige Aufgabe finden?»

Unternehmen, die nach diesem Muster leistungsschwächere Mitarbeitende in die IV abschieben, belasten die Volkswirtschaft erheblich. Das Institut für Arbeitsmedizin in Baden hat am Beispiel eines 55-jährigen Mannes mit 70'000 Franken Jahresgehalt ermittelt, dass die Krankentaggeldversicherung, die Pensionskasse und die IV insgesamt 540000 Franken aufwenden müssen.

Verständlich, dass mit den steigenden Fallzahlen der Ruf laut wird, die Arbeitgeber stärker in die Pflicht zu nehmen. So ist ein Bonus-Malus-Konzept, das die Stiftung Pro Mente Sana bereits vor einigen Jahren entworfen hat, wieder ins Gespräch gekommen. Das Modell sieht vor, dass Betriebe, die keine Behinderten beschäftigen, Abgaben in einen Fonds leisten müssen. Aus diesem werden die Boni entnommen, die Firmen für die Wahrnehmung ihrer sozialen Verantwortung belohnen. «Für die Erhaltung von Nischenarbeitsplätzen müssen gesetzliche Anreize geschaffen werden», sagt Pro-Mente-Sana-Zentralsekretär Jürg Gassmann, «es reicht nicht, sich allein auf den Goodwill der Arbeitgeber zu verlassen.»

Bewährte Modelle werden erst getestet
Von neuen Vorschriften, zu denen auch eine fixe Behindertenquote nach Vorbildern aus dem EU-Raum gehören könnte, will die hiesige Wirtschaft jedoch nichts wissen (siehe Interview mit Peter Spuhler, Seite 28). Andere, im Ausland bewährte Integrationsmodelle wie die «unterstützte Beschäftigung», bei der ein vom Staat finanzierter Job-Coach Leistungsbeeinträchtigte im Unternehmen begleitet, werden in der Schweiz erst in Pilotprojekten getestet. Und ein innerbetriebliches Gesundheitsmanagement, das invaliditätsgefährdete Angestellte gar nicht erst ausgliedern würde, hat sich noch nicht auf breiter Ebene durchgesetzt.

Der fatale, weil häufig nicht geschlossene Kreislauf wird deshalb vorderhand die Norm bleiben: Menschen mit einem Handicap werden vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt und müssen später mühselig wieder eingegliedert werden.

Der entsprechende Auftrag zur «aktiven Stellenvermittlung» wird mit der 4. IV-Revision, die ab 1. Januar 2004 in Kraft tritt, explizit den kantonalen IV-Stellen übertragen – der richtige Ansatz, so die einhellige Meinung.

In Luzern tun sie was
Doch dem Schritt nach vorn folgte sogleich einer zurück: Statt der 200 beantragten Posten für diese Aufgabe wurden schweizweit nur deren 30 bewilligt. Mit so knappen Ressourcen verkomme der Vermittlungsauftrag zur «leeren Normhülse», kritisiert Andreas Dummermuth, Präsident der schweizerischen IV-Stellen-Konferenz.

Das Treten an Ort ist umso bedauerlicher, als die IV-Stelle Luzern bewiesen hat, was mit aktiver Stellenvermittlung zu erreichen ist. In einem Pilotversuch beschäftigt die IV-Stelle Vermittler, die durch direkten Kontakt zu lokalen Unternehmern versuchen, Behinderten Jobs in der freien Wirtschaft zu verschaffen. Zwischen Herbst 2002 und Herbst 2003 wurden pro Vermittlungsperson rund 50 Platzierungen erreicht, was die IV allein in dieser Periode um mindestens 625'000 Franken entlastete. Ein hart erarbeiteter Spareffekt, wie Werner Durrer, Direktor der Luzerner IV-Stelle, betont: «Stellenvermittlung für Behinderte heisst Türklinkenputzen.»

Wer solches tut, bekommt mitunter schwer Verdauliches zu hören. «Wir nehmen nur Erstklassware», erhielt Theres Muralha kürzlich zur Antwort, als sie in einem Unternehmen nach Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitssuchende mit psychischen Problemen fragte.

Muralha ist zuständig für den Bereich berufliche Integration der Stiftung Espas in Zürich, deren Zweck die wirtschaftliche und soziale Eingliederung von Erwerbsbeeinträchtigten ist. An dieser Schnittstelle zwischen Arbeit und Behinderung erlebt sie täglich, wie hoch die Hürden – eingebildete und tatsächliche – in der Praxis sind. Die höchste: «Es gibt schlicht zu wenig Arbeitsplätze mit reduzierten Leistungsanforderungen.» Darin und nicht in den «Scheininvaliden» sieht auch Espas-Geschäftsführer Marcel Fluri die Ursache für die steigenden IV-Zahlen. «Grundsätzlich will niemand eine Rente», sagt er mit der Erfahrung von bald zwanzig Jahren Behindertenarbeit, «doch Zehntausende geraten auf diese Schiene, weil sie arbeiten möchten, aber nicht können.»

Alles auf dem Buckel der Kleinen
Imer Rusiti ist einer von ihnen. Der Mazedonier, der in seiner Heimat als Primarlehrer tätig war, kam 1987 in die Schweiz, wo er eine Hilfsstelle als Dachdecker fand.

13 Jahre arbeitete Rusiti im gleichen Betrieb, bis der Rücken nicht mehr mitmachte: Bandscheibenschaden. Die IV-Stelle seines Wohnkantons St. Gallen bestätigte Rusiti, er sei als Dachdecker arbeitsunfähig, könne körperlich leichte Tätigkeiten hingegen ausführen. Mit der festgestellten Invaliditätsrate von elf Prozent steht ihm keine IV-Rente zu. Eine solche Rente ist für den Vater von vier Kindern auch keine Option: «Ich brauche eine Arbeitsstelle, um meine Familie versorgen zu können.»

Doch Rusiti ist gefangen im System: Weil er als Hilfsarbeiter einen Beruf ausübte, in dem er keine Ausbildung absolviert hatte, bezahlt ihm die IV keine Umschulung in ein anderes Tätigkeitsfeld – sein mazedonisches Lehrerpatent ist nutzlos. Der 43-Jährige bezieht seit Juni 2002 Arbeitslosenunterstützung. Zusammen mit dem Teilzeitlohn seiner Frau reicht das gerade, um durchzukommen. Was werden soll, wenn die Taggelder aufgebraucht sind, weiss er nicht.

Es gibt doch noch Firmen mit Gehör
Für Menschen in solchen Situationen ruht die Hoffnung auf Firmen, deren Personalverantwortliche für die Thematik sensibilisiert sind. Silvia Joller von IBM Schweiz zum Beispiel hat diesen Frühling damit begonnen, Handicapierten «eine Möglichkeit zu geben, sich zu bewähren». Bisher absolvierten vier Personen ein halbjähriges Praktikum, eine wurde gar weiterbeschäftigt. Die Erfahrungen sind gut – beidseits: «Behinderte sind oft so motiviert für die Arbeit, dass sie einer Firma mehr bringen können als gesunde Angestellte, die in Routine erstarrt sind», sagt Joller.

Zu denen, die in der freien Wirtschaft eine Chance erhalten haben, gehört Boris Jung aus Wattwil. Der 22-Jährige, der an zerebralen Bewegungsstörungen leidet, ist seit zwei Jahren als kaufmännischer Angestellter beim Verband der Raiffeisenbanken in der Stiftungsadministration tätig – am Computer, wie er sich das immer gewünscht hat: «Da bin ich schneller als die anderen.»

Während seiner mehrmonatigen Arbeitslosigkeit hat er erfahren müssen, dass Behinderte bei der Stellensuche üblicherweise chancenlos sind, wenn sie in direkter Konkurrenz zu einem gesunden Mitbewerber stehen.

Lieber arbeiten als Rente bekommen
Doch Jung liess sich nicht unterkriegen und schrieb unermüdlich Bewerbungen. Hinter dieser letztlich belohnten Beharrlichkeit des Mannes, der als Jugendlicher eine kleine IV-Rente erhielt, steht sein unbedingter Wille, ein selbstbestimmtes Leben zu führen: «Auf die IV angewiesen zu sein kommt für mich nicht in Frage.»

Weitere Infos

Berufliche Integration von Behinderten:
www.espas.ch
www.proinfirmis.ch (Stiftung Profil)

Kantonale IV-Stellen:
www.iv-stelle.ch