Eigentlich klingt es sozial: Wer einen Verschleissjob hat, sollte notfalls vor 65 in Rente gehen können. Doch weil viele dieser Arbeiten, etwa im Gastgewerbe, in der Reinigungsbranche oder im Verkauf, schlecht bezahlt sind, kann sich kaum jemand eine Frühpensionierung leisten. Das will der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) mit seiner aktuellen Initiative für eine ungekürzte AHV-Rente ab Alter 62 ändern.

Doch kann ein Kleinverdiener mit 3500 Franken pro Monat tatsächlich mit einer «würdigen Frührente» ab 62 in Pension gehen, wie die Initianten versprechen? Der Beobachter wollte es genauer wissen: Nimmt man die Rentenskala der AHV für 44 Beitragsjahre, ergibt sich bei einem Jahreseinkommen von 45'000 Franken eine AHV-Rente von 1700 Franken. Die Initiative will dort eine Kürzung verhindern – die 2. Säule betrifft sie nicht. Bei dieser aber macht die Reduktion bei Rücktritt mit 62 nach einer Berechnung des VZ Vermögenszentrums fast einen Viertel aus. In unserem Beispiel bleiben von der Pensionskassenrente noch rund 800 Franken übrig. Der Rentner hat also knapp 2500 Franken pro Monat – das reicht nirgends hin.

Selbst bei ungekürzter AHV-Rente bleibt so eine Frühpensionierung für viele ein schier unerfüllbarer Wunschtraum. Laut AHV-Statistik 2004 liegt die Durchschnittsrente bei 1673 Franken, und gut ein Drittel der Frauen und Männer ohne einen Partner mit Rente erhalten weniger als 1800 Franken AHV pro Monat.

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Die Sache mit dem zweiten Standbein
Das wissen auch die Initianten. SGB-Sekretärin Colette Nova bezeichnet die ungekürzte AHV-Rente als die «erste Voraussetzung für Kleinverdiener, damit eine Frühpensionierung überhaupt möglich wird». Dann lässt sie die Katze aus dem Sack: Häufig brauche es noch ein «zweites Standbein», entweder eine Rente der Pensionskasse oder eine Überbrückungsrente, wie sie im Bauhauptgewerbe existiere.

Die Initiative legt die Latte auf 116'000 Franken: Wer mehr verdient, muss mit einer gekürzten AHV-Rente rechnen. Um wie viel, lassen die Initianten offen – das sei Sache des Gesetzgebers.

Wie wirkt sich die Initiative für Besserverdiener mit 110'000 Franken Jahreslohn aus? Wer so viel verdient, hat meist eine gut ausgebaute 2. Säule. Ab 62 gibt es je nach Pensionskasse monatliche BVG-Renten zwischen 3000 und 5000 Franken. Und bis die AHV fliesst, wird meist eine Zusatzleistung in Höhe einer maximalen AHV-Rente gezahlt – ganz oder teilweise durch den Arbeitgeber finanziert. Macht total rund 5100 bis über 7000 Franken Rente. «Die Gewährung einer Überbrückungsrente der 2. Säule ist eine gängige Praxis», bestätigt PK-Experte Werner Nussbaum. Dies gilt vor allem für viele autonome und staatliche Pensionskassen.

Hier rennt die Initiative also offene Türen ein. Die Gewerkschaften argumentieren dagegen, bei einer tieferen Einkommenslimite hätte man Leute mit mittlerem Einkommen ausgeschlossen. In dieser Gruppe gebe es aber viele, die auf eine ungekürzte AHV angewiesen seien.

Zurzeit ist der vorzeitige Ruhestand meist ein Privileg der Gutverdienenden. Nach einer Studie des Bundesamts für Sozialversicherung gehen Leute mit einem Pensionskassenguthaben von bis zu 617'000 Franken sechsmal häufiger in Frührente als Versicherte mit bis zu 140'000 Franken. Zudem ist die Lebenserwartung der Besserverdienenden um fünf bis zehn Jahre höher.

«Nie mehr so günstig wie heute»
Bei den Vertretern des «zweiten Standbeins» stossen die Begehrlichkeiten der Gewerkschaften nicht auf Gegenliebe. Hanspeter Konrad, Geschäftsführer des Pensionskassenverbands ASIP, spricht von einer «Zwängerei, die nicht im Interesse der Versicherten ist». Man sei nicht gegen eine Flexibilisierung beim Ruhestandsalter, aber wer früher in Pension wolle, erhalte entsprechend weniger Rente. Und tendenziell müsse man in Zukunft aus demografischen Gründen eher länger arbeiten, sonst komme es zu einer Lastenverteilung auf die nächsten Generationen.

Auch für Christoph Oeschger, Geschäftsführer der Sammelstiftung Avadis, liegt die SGB-Initiative quer in der Rentenlandschaft: «Viele Pensionskassen können sich ihre grosszügigen Modelle zur Frühpensionierung nicht länger leisten und fahren sie nun zurück.» In diesem Umfeld höhere Leistungen zu verlangen sei verantwortungslos.

Das sehen die Gewerkschaften anders. Ein flexibles Rentenalter sei nie mehr günstiger zu haben als heute. Auf 720 Millionen bis eine Milliarde Franken schätzt der SGB die Kosten der Rente ab 62. In erster Linie soll diese entweder über Lohnprozente – hälftig durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber –, über eine höhere Mehrwertsteuer oder eine neue eidgenössische Erbschaftssteuer finanziert werden. Die Unbekannte in der SGB-Rechnung ist die Bezugsquote. Sind es 30 Prozent der Berechtigten oder mehr? Vorsorgeexperte Werner C. Hug geht davon aus, dass die Kosten für eine Frührente ab 62 bei über zwei Milliarden Franken liegen. Wie teuer es tatsächlich wird, weiss niemand.

Bei Fachleuten ist die Kritik am Gewerkschaftsmodell heftig. Könnte es sein, dass die Initiative vor allem dazu dient, die alternde Klientel bei der Stange zu halten? Das bringt SGB-Sekretärin Nova in Rage: «Wer mit einem guten Lohn, einem sicheren und interessanten Job in der warmen Stube hockt, kann sich offenbar nicht vorstellen, wie schwierig und penibel es für ältere Männer und Frauen ist, die gesundheitlich nicht mehr ‹zwääg› sind und Angst vor einer Entlassung haben.» Das Ziel des SGB sei es, diesen Leuten eine «würdige Möglichkeit eines abgesicherten Rücktritts zu bieten». Und sicher nicht, mit der Initiative absprungwillige Mitglieder zurückzuhalten.