Christoph Ettlin spricht Klartext. «Die IV-Stellen betrachten die Gutachter als Weisungsempfänger, denen sie nach Belieben Vorgaben machen können.» Das habe er wiederholt erlebt. Ettlin ist Psychiater, er arbeitet seit 30 Jahren als medizinischer Gutachter. Die Unabhängigkeit gegenüber der IV zu verteidigen sei «eine Daueraufgabe», sagt der ehemalige Leiter des Basler Zentrums für Medizinische Begutachtung (ZMB).

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Das ZMB ist eine von 31 medizinischen Abklärungsstellen (Medas) in der Schweiz. Sie begutachten im Auftrag der IV Patienten. An solchen polydisziplinären Gutachten sind jeweils drei Fachärzte beteiligt, zum Beispiel ein Rheumatologe, ein Neurologe und ein Psychiater. Am Schluss müssen sie in einer Prozentzahl angeben, wie arbeitsunfähig der Patient ist. Dieses Gutachten ist mitentscheidend dafür, wie hoch die Rente dann ausfällt.

Rückfragen, die gar keine sind

Entscheide der IV anzufechten ist sehr schwierig. Daher müssen Gutachter sehr sorgfältig vorgehen. Und sie müssen völlig unabhängig urteilen, rein aus ärztlicher Sicht, hält das Gesetz fest.

Doch Christoph Ettlin machte immer wieder die Erfahrung, dass IV-Stellen versuchten, Gutachter zu beeinflussen. Meist in subtiler Form: etwa durch Rückfragen, die keine Verständnisfragen seien, sondern einen Versuch darstellten, ein Gutachten zu «biegen».

Die IV wolle sparen, sagen Patientenanwälte, daher habe sie bei der Rentenvergabe die Schrauben angezogen. Wer nicht offensichtlich unheilbar krank sei, erhalte höchstens einen kleinen Beitrag. Damit das nicht auffalle, müssten willfährige Gutachter die Kranken gesundschreiben.

Mediziner als Gefälligkeitsgutachter? Über solche Pauschalverurteilungen ärgert sich Jörg Jeger, Leiter der Medas Zentralschweiz. «Man soll die Probleme auf Sachebene benennen und versuchen, sie zu lösen.» Jeger, Rheumatologe und Autor zahlreicher Fachartikel, sagt aber: «Es gibt auch unseriöse Gutachter.» Publik wurde etwa der Fall eines Medas-Leiters, der die Einschätzungen von Fachärzten ohne deren Wissen korrigierte und Patienten «gesunder» schrieb.

Zweitklassmediziner und Profitdenken

Jeger und Ettlin wissen um das schlechte Image ihres Berufsstands. Gute Ärzte würden zu selten Gutachter. Die Branche sei zu bürokratisch und wenig attraktiv. Oft landeten Zweitklassmediziner bei den Medas. Wegen Personalmangel werden auch mal temporär deutsche Ärzte eingeflogen, die die hiesigen Gepflogenheiten nicht kennen, so ihr Vorwurf.

Auch Unternehmer mischen im Geschäft mit den Gutachten mit. Die meisten Medas sind private Firmen, die Gewinn machen müssen. Da kann Effizienz schon mal vor Gründlichkeit gehen und das gute Verhältnis zum Auftraggeber wichtiger sein als das Wohl des Patienten. Bis zu 90 Prozent der Aufträge stammen von der IV. Das macht die Medas abhängig. Daraus ergebe sich ein «systeminhärentes Spannungsverhältnis», hielt das Bundesgericht fest.

«Die IV-Stellen sind kleine Königreiche, die die gesetzlichen Vorgaben nach Lust und Laune umsetzen.»

 

Christoph Ettlin, Psychiater

Das Basler ZMB und die Medas Zentralschweiz dagegen sind gemeinnützige Institutionen. Das mindere den Druck auf die Gutachter, sagt Jörg Jeger. Er ist ein Fan von Statistiken und wollte wissen, wie scharf er und sein Team begutachten. Dabei zeigte sich: Bei mittlerer Arbeitsunfähigkeit schätzen sie die Patienten heute als weniger krank ein als vor zehn Jahren. Volle Arbeitsunfähigkeit attestieren sie hingegen gleich häufig. Das sei «beruhigend», findet Jeger.

Weniger beruhigend: Medizinische Gründe, die eine Verschärfung rechtfertigten, sind nicht auszumachen. Jeger spricht von einer unbewussten Reaktion auf die zunehmend restriktive Rechtsprechung. Widerstand komme auch von anderer Seite: Patientenanwälte kämpfen teilweise hart gegen die Gutachter. «Wir sind von allen Seiten unter Druck», sagt Jeger.

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Für ein polydisziplinäres Gutachten zahlt die IV im Schnitt gut 10'000 Franken. Das ist bei seriöser Arbeit nur knapp kostendeckend, denn der Aufwand steigt stetig. Seit 2003 ist das Durchschnittsgewicht der Akten pro Patient von 0,6 auf 2,2 Kilo gestiegen, Jeger hat es gewogen. Manche Akten umfassen 3000 Seiten, jede einzelne muss gelesen werden. Die Papiere kommen von der IV aber oft in chaotischem Zustand. «Nur schon das Ordnen der Akten ist ein Riesenaufwand», sagt Ettlin. Er habe die IV mehrfach auf das Problem aufmerksam gemacht. «Doch sie foutiert sich darum. Die IV-Stellen sind kleine Königreiche, die die gesetzlichen Vorgaben nach Lust und Laune umsetzen.»

Der Kostendruck begünstigt laut diversen Experten auch Schnellschüsse. In manchen Medas fällt wohl einfach der Chef den Entscheid über die Arbeitsfähigkeit der Patienten. In anderen wird er schriftlich auf dem Zirkularweg gefällt. Im Basler ZMB dagegen setzen sich die Mediziner zusammen und diskutieren, bis sie sich einig sind. Der Aufwand für dieses Vorgehen ist immens. Vielleicht muss auch das ZMB aus finanziellen Gründen schon bald darauf verzichten.

«Den Bock zum Gärtner gemacht»

Die Mängel im Gutachterwesen seien seit Jahren bekannt, sagt Jörg Jeger. Dennoch gebe es nur kleine Fortschritte. «Es harzt.» Auf höchster politischer Ebene fehle der Wille, das Problem anzugehen. Lediglich das Bundesgericht habe die Lage verbessert – etwa mit jenem Leiturteil, wonach polydisziplinäre Gutachten nach Zufallsprinzip vergeben werden müssen.

Mehr Transparenz würde die Qualität der Entscheide erhöhen, glaubt Jeger. Doch das Bundesamt für Sozialversicherungen scheue sich, mehr Daten über die Medas herauszugeben. «Wir wissen in diesem Land, wie viele Hasen gejagt werden. Aber zu den Gutachtern gibt es kaum Zahlen», beklagt Jeger. Er versteht nicht, weshalb die Entscheidestatistik der Medas nicht veröffentlicht wird und gewisse kantonale IV-Stellen überhaupt keine Daten zu Gutachtern preisgeben. So werde Misstrauen gesät.

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Christoph Ettlin sieht ein weiteres Grundsatzproblem. Das Bundesamt für Sozialversicherungen, bei dem die IV angesiedelt ist, sei gleichzeitig Auftraggeber und Kontrollinstanz der Medas. «Da hat man den Bock zum Gärtner gemacht.»

Die Gutachterstellen sollten aus der Marktwirtschaft herausgelöst und zu unabhängigen staatlichen Instanzen werden – wie Gerichte, fordert Jeger. «Stellen Sie sich vor, die Richter müssten von der Anzahl Urteile leben, die sie auf dem freien Markt verkaufen.» Statt der IV sollte eine unabhängige Stelle die Aufträge an die Gutachter zuweisen.

Das schlechte Image beschert den Medas ein weiteres Problem: Es fehlt an Nachwuchs. Das spürt auch das Basler ZMB. Wie es dort weitergeht, ist unklar. Der 70-jährige Christoph Ettlin wollte eigentlich in den Ruhestand treten. Nun macht er doch weiter. Zunächst einmal bis Ende Jahr.

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