Krankenkassen, die ihren Versicherten eine kostengünstige Behandlung verunmöglichen, für eine vielfach teurere Behandlungsmethode aber anstandslos aufkommen – das klingt absurd. Besonders in Zeiten, in denen die Gesundheitskosten drauf und dran sind, vollends aus dem Ruder zu laufen. Und dennoch: Diese Fälle gibts. Der Sparwillen der Versicherten, so scheint es, kommt bei den Krankenkassen schlecht an.

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Diese Erfahrung machte Rudolf Schär. Schär leidet an einer Polyneuropathie, ihm fehlt – salopp ausgedrückt – in den Füssen das Gefühl, er zieht sich so immer wieder schmerzhafte Wunden zu. Eine Behandlung im Zürcher Universitätsspital 2008 kostete 7000 Franken. Die Krankenkasse Provita bezahlte. Als er dieses Jahr wegen eines offenen Zehs erneut einen Arzt aufsuchte, empfahl ihm dieser eine Podologin. Schär konsultierte sie zweimal, dann war die Wunde geschlossen – zu einem Preis von 125 Franken. Der Arzt riet ihm, die Podologin regelmässig aufzusuchen, doch die Provita machte Schär klar, dass sie für diese verhältnismässig günstige Behandlung nicht aufkommt. «Die Fussbehandlung durch Podologen ist keine gesetzliche Pflichtleistung der Krankenversicherer», beschied sie ihm. Ein Rekurs blieb erfolglos. Schär ist irritiert: «Eine stationäre Behandlung im Unispital wird anstandslos bezahlt, eine kostengünstige Podologin dagegen nicht? Das macht doch keinen Sinn.»

Billiger, aber nicht auf der Liste

Ähnlich liegt der Fall von Peter Stutz (Name geändert). Nach einem Burn-out und einem völligen Zusammenbruch war er auf psychologische Betreuung angewiesen. Seine Ärztin empfahl die Reha-Klinik in Gais AR. Die Krankenkasse, bei der der im Aargau wohnhafte Stutz halbprivat versichert ist, winkte jedoch ab: Gais stehe nicht auf der kantonalen Spitalliste, Stutz könne zur Therapie aber nach Rheinfelden. Dort kostet die Behandlung am Tag 810 Franken – in Gais jedoch nur 353 Franken. «Die Kasse wählt die teurere Behandlung, das ist doch stumpfsinnig», sagt Stutz’ Frau.

Besonders häufig reiben sich jene Menschen die Augen, die erkrankte Angehörige bei sich zu Hause pflegen. Zum Beispiel Hedy Müller (Name geändert). Ihr Mann ist 75 Jahre alt und seit über sieben Jahren im Rollstuhl, sie pflegt ihn seither, gibt ihn einen Tag in der Woche aber in ein Pflegeheim, um Zeit für eigene Bedürfnisse zu haben. Diesen März weigerte sich die CSS plötzlich, für den einen Tag im Pflegeheim aufzukommen. Begründung: Für die Finanzierung einer tageweisen Betreuung im Heim fehle die vertragliche Grundlage.

«Als wir nachfragten, erfuhren wir, dass eine tageweise Betreuung vertraglich tatsächlich nicht möglich ist, eine stationäre Betreuung dagegen sehr wohl», sagt Hedy Müller. Will heissen: Wäre ihr Mann sieben Tage in der Woche im Pflegeheim, käme die CSS dafür auf – für einen Tag in der Woche dagegen nicht. Hedy Müller konsterniert: «Da pflegt man seine Angehörigen und wird dafür bestraft.»

Diesen Eindruck wird auch Alfred Walker (Name geändert) nicht los. Seine Frau ist nach einer missglückten Operation schwer pflegebedürftig, braucht Betreuung rund um die Uhr. Die Pflege in einem Heim käme auf fast 500 Franken täglich zu stehen, Walker jedoch pflegt sie zu Hause, unterstützt von der Spitex und einer Schwägerin. Einmal im Jahr fahren sie seine Frau, eine gebürtige Italienerin, für ein paar Monate in ihre alte Heimat, wo Walker auf eigene Rechnung eine Wohnung entsprechend ihren Bedürfnissen umgebaut hat. Die Zusammenarbeit mit seiner Krankenkasse, der Helsana, klappte gut. Bis sie sich diesen Frühling entgegen früheren Vereinbarungen nur noch in geringem Umfang an den in Italien anfallenden Pflegekosten beteiligte.

«Die menschliche Vernunft geht vergessen»

Walker ist irritiert. «Die Kosten für eine Krankenschwester, für ärztliche Betreuung und Physiotherapie sind dort wesentlich geringer als in der Schweiz. Die Kasse kann so doch Geld einsparen. Warum sträubt sie sich dagegen?» Nach seinen Berechnungen lassen sich jährlich rund 30'000 Franken einsparen, wenn sich seine Frau die Hälfte des Jahres in Italien betreuen lässt. Die Helsana zeigt sich davon unbeeindruckt, beantwortet weder Walkers Nachfragen noch seine Sparvorschläge. Auch in zahlreichen anderen Fällen blieb sie stur: So war Walker zum Beispiel der Ansicht, ein Badelift für 4500 Franken sei nicht notwendig, ein Badeeinstiegsbrett für 230 Franken reiche aus. Den Badelift hätte die Helsana übernommen – das Badebrett dagegen musste Walker selber berappen. «Die Kassen gehen stur nach Tabellen und Katalogen vor», empört sich Walker. «Die menschliche Vernunft geht dabei völlig vergessen.»

Die Stiftung SPO Patientenschutz sieht sich beinahe täglich mit ähnlichen Fällen konfrontiert. «Häufig kommt es zu völlig absurden Konstellationen, die vor allem für Menschen, die jemanden bei sich zu Hause pflegen, kaum nachvollziehbar sind», sagt SPO-Geschäftsführerin Margrit Kessler. Doch so gross das Unverständnis bei den Betroffenen auch ist – die Krankenkassen reagieren hilflos auf die Vorwürfe von mangelhafter Flexibilität und fehlender Vernunft. «Die Krankenversicherer haben keinen Spielraum in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung», sagt Paul Rhyn, Sprecher des Krankenkassenverbands Santésuisse. «Sie müssen sich an die zugelassenen Leistungserbringer halten.» Will heissen: Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) legt den Versicherern ein enges Korsett um, es definiert genau, welche Leistungen bezahlt werden und welche nicht. «Frei sind die Versicherer lediglich im Bereich der Zusatzversicherungen», so Rhyn.

«Irgendwo muss man den Strich machen»

Auch Margrit Kessler nimmt die Kassen in Schutz. «Dass es solche Fälle gibt, liegt nicht an den Kassen, sondern am System», sagt sie. «Das KVG lässt Abweichungen vom definierten Leistungskatalog nicht zu.» Das führe mitunter zum «unhaltbaren Zustand», dass die Kasse nichts an die Palliativpflege für Sterbende zahle – aber sehr wohl an die Behandlung von Krebskranken, die zwar den Tod hinauszögere, den Gesundheitszustand aber nicht verbessere. Dennoch sagt Kessler: «Irgendwo muss man den Strich machen. Wir müssen mit dem jetzigen System nun mal leben.»

Doch wenn das Problem beim System liegt, wenn es zu Fällen führt, die das Gesundheitswesen entgegen allen Sparbemühungen weiter verteuern – warum ändert man das System nicht? «Man muss die Grundidee des Gesundheitssystems verstehen, und die ist nicht schlecht», sagt der Berner Gesundheitsökonom Heinz Locher. Sie bestehe nämlich darin, allen Bewohnern – unabhängig von der Finanzkraft des Einzelnen – eine medizinische Grundversorgung zugänglich zu machen. Dazu müsse der Gesetzgeber genau definieren, wer medizinische Leistungen erbringen dürfe und welche Medikamente und Hilfsmittel Teil dieser Grundversorgung seien. Locher weiter: «Daraus ergibt sich ein geordnetes System, das übers Ganze gesehen eine sinnvolle medizinische Versorgung der Bevölkerung ermöglicht.» Doch räumt er ein: «Dabei kann es zu sehr stossenden Einzelfällen kommen. Gewisse Pflege- oder Behandlungsmethoden mögen bei einzelnen Patienten sinnvoll erscheinen, doch weil sie nicht in den Leistungskatalog aufgenommen wurden, müssen oder können sich die Kassen in der Grundversicherung nicht an den Kosten beteiligen.»

Wäre es dann nicht sinnvoll, den Krankenkassen mehr Spielraum zu lassen, damit sie sich in gewissen Fällen flexibler zeigen können? Heinz Locher warnt davor. «Die Konsequenz wäre eine endlose Reihe von Ausnahmen. Dies würde das System schwächen und letztlich gar verteuern.»

In den vier oben erwähnten Fällen könnten die Kassen zwar wohl tatsächlich Geld sparen, würden sie von der konsequenten Befolgung des Krankenversicherungsgesetzes abrücken. Aber, so Locher: «Ausnahmen wecken Begehrlichkeiten.» Rücke man von der gesetzlichen Grundlage ab, verliere man jedes Instrument, um die Kostenentwicklung im Griff zu haben.

Manchmal ginge es eben doch

Doch so eng der gesetzliche Rahmen auch abgesteckt ist: In einzelnen Fällen liessen sich absurd anmutende Situationen wohl vermeiden. Etwa in solchen wie dem von Hedy Müller, die ihren 75-jährigen Mann einen Tag pro Woche in ein Pflegeheim gibt – woran sich die Krankenkasse nicht mehr beteiligt. «Krankenkassen können mit anerkannten Heimen Tarifverträge abschliessen, da diese gemäss Gesetz als Leistungserbringer zugelassen sind», sagt Heinz Locher. Voraussetzung ist, dass die Person im Heim medizinische oder pflegerische Leistungen beansprucht, die kassenpflichtig sind. Konkret: Statt Müllers Heimaufenthalt von einem Tag pro Woche abzulehnen und stattdessen für einen siebentägigen Aufenthalt aufzukommen, kann die Krankenkasse selbständig dafür sorgen, dass ein eintägiger Heimaufenthalt möglich wird.