Das Trio, das am 30. Juni 2003 bei der Bezirksanwaltschaft an der Hermann-Götz-Strasse 24 in Winterthur vorsprach, hatte nur eine Mission: den Kopf aus einer immer enger werdenden Schlinge zu ziehen. Angeführt wurde die Delegation der Krankenkasse KBV Winterthur von deren Chef Jürgen Hafen, mit von der Partie waren ausserdem der KBV-Finanzchef Dimitri Fortin und der bekannte Zürcher Anwalt und KBV-Verwaltungsrat Valentin Landmann.

Die drei kamen, um einen Diebstahl anzuzeigen: Aus dem Archiv der KBV seien rund 2000 Dossiers von Versicherten verschwunden, gaben sie zu Protokoll. Die Täterschaft sei wohl am ehesten unter den Mitarbeitern der Kasse zu suchen.

Wie wahr. Zweieinhalb Monate später sassen vier Verdächtige in Untersuchungshaft: neben Hafen und Fortin auch Marketingdirektor Marcel Häuselmann und Schadenschef M. G., kurz: die gesamte Teppichetage der Krankenkasse. Und es ging nicht um einen simplen Diebstahl, wie die KBV-Bosse dem Bezirksanwalt hatten weismachen wollen. In der Anklageschrift, die dem Beobachter vorliegt, sind ganz andere Delikte aufgelistet: mehrfache Veruntreuung, Betrug, mehrfache Urkundenfälschung und Geldwäscherei, bei Hafen und Fortin zusätzlich noch Irreführung der Rechtspflege.

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Millionen vom Risikofonds

Die vier KBV-Bosse hatten die Dossiers laut Anklageschrift nämlich nicht bloss verschwinden lassen, sondern sie zuvor höchstpersönlich erschaffen: Um das Geschäftsergebnis der KBV aufzupolieren, hatten sie in den Jahren 2000 und 2001 insgesamt 2040 fiktive Versicherte in die KBV aufgenommen - viele Frauen, alle über 66 Jahre alt und entsprechend aus versicherungstechnischer Sicht «schlechte Risiken». Für die KBV-Bosse waren diese jedoch bares Geld wert: Dank den erfundenen Kunden erhielt die KBV in den Jahren 2000 bis 2002 aus dem Risikoausgleichsfonds der Gemeinsamen Einrichtungen KVG der Schweizer Krankenversicherer insgesamt über 27 Millionen Franken. 18 Millionen davon flossen in die Kasse der KBV, rund 9,5 Millionen sollen in den privaten Taschen der Geschäftsleitungsmitglieder gelandet sein, exakt brüderlich durch vier geteilt.

Die vier Angeklagten, für die bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung gilt, wussten laut Anklageschrift mit dem Geld etwas anzufangen: Hafen finanzierte aus seinen illegalen Einkünften unter anderem den Umbau seines Einfamilienhauses und einen Mercedes, Häuselmann leistete sich eine protzige Yacht, möblierte eine Ferienwohnung und kaufte Kunst. Fortin und G. wiederum investieren primär an der Börse. Gemeinsam legten die vier insgesamt eine Million bei der Realto Invest Ltd. an, einer auf den Bahamas domizilierten Gesellschaft des Basler Finanzjongleurs Dieter Behring.

Das süsse Leben der vier Kassenmanager dauerte knapp drei Jahre, dann flog der Schwindel mit den fiktiven Versicherten auf. Zu verdanken ist das einem aufmerksamen Mitarbeiter bei der Gemeinsamen Einrichtung KVG (GE). Dieser müssen die Krankenkassen jährlich ihre Versicherten melden, aufgrund dieser Angaben errechnet die GE dann, welche Kassen wegen «schlechter Risiken» Geld erhalten und welche in den Fonds einzahlen müssen. Je mehr schlechte Risiken, desto mehr Geld erhält eine Krankenkasse aus dem Fonds.

Zwei Jahre lang war bei diesen Abrechnungen niemandem etwas aufgefallen: «Unsere Überprüfungen der von den Kassen gelieferten Daten sind zeitlich limitiert», sagt GE-Geschäftsführer Rolf Sutter: «Wir erhalten die Angaben jeweils bis Ende April und müssen bereits im Juni die Abrechnungen erstellt haben. Deshalb müssen wir uns auf die Berichte der Revisionsstellen der Kassen verlassen. Zusätzlich führt aber unsere eigene Revisionsstelle jährlich zehn Stichproben durch.»

Die KBV-Bosse machten sich dieses System zunutze und kassierten kräftig ab: Im Jahr 2000 schädigten sie den Risikoausgleichsfonds um 6,7 Millionen Franken, 2001 um 10,3 Millionen und 2002 um 10,5 Millionen.

Seltsam: Alte Versicherte starben nie

2003 jedoch fiel einem GE-Mitarbeiter etwas auf: Er bemerkte, dass bei der Datenlieferung der KBV in kleinen Kantonen bei den hohen Altersgruppen stets der gleiche Versichertenbestand angegeben war - und von den angeblichen Versicherten niemand gestorben war. Bei einer Sterblichkeitsrate von rund elf Prozent bei über 80-Jährigen war dies allein aus statistischer Sicht unmöglich: Die KBV-Bosse, die die intern «Vertrag 1163» genannte Kollektivversicherung als Chefsache gleich selber verwalteten, hatten vergessen, ihre fiktiven Versicherten ebenso fiktiv sterben zu lassen.

Unter einem Vorwand schickte darauf GE-Geschäftsführer Sutter Mitarbeiter der Revisionsstelle bei der KBV vorbei: «Und als diese die Rede auf die betagten Versicherten in den kleinen Kantonen brachten, wurden die KBV-Chefs nervös.» So nervös, dass sie letztlich bei der Bezirksanwaltschaft Winterthur eine Anzeige wegen eines angeblichen Diebstahls von 2040 Kundendossiers einreichten. Den Verdacht lenkten die KBV-Verantwortlichen auf einen deutschen Makler namens «Wilfried S.», der den «Vertrag 1163» abgeschlossen habe. Wilfried S. teilte jedoch das Schicksal seiner angeblichen Kunden: Der Makler war eine blosse Erfindung der KBV-Chefs.

Grosser Schaden für die Allgemeinheit

«Die KBV ist in dieser Geschichte Opfer, nicht Täterin», liess sich der KBV-Anwalt und damalige Verwaltungsrat Valentin Landmann im Beobachter zitieren. Dass dem kaum so war, zeigte jedoch eine genauere Untersuchung der Namen der 2000 angeblichen Versicherten des «Vertrags 1163»: «Die meisten hatten nie existiert oder lebten nicht mehr, und bei anderen fanden wir unter den angegebenen AHV-Nummern ganz andere Personen», erinnert sich GE-Geschäftsführer Rolf Sutter.

Die Machenschaften der KBV-Führung, über die das Bezirksgericht Winterthur Anfang September beraten wird, hatten gravierende Konsequenzen: Die Kasse mit ihren 115'000 Versicherten machte 2004 Konkurs. Den Schaden trägt jeder einzelne Versicherte in der Schweiz: Die Gemeinsame Einrichtung beziffert den entstandenen Verlust - die zu viel an die KBV bezahlten Gelder für den Risikoausgleich plus die nachträglich von anderen Krankenkassen zurückgeforderten Beträge, die diesen durch die Gaunereien entgangen waren - auf rund 61 Millionen Franken. Das macht rund acht Franken pro Einwohnerin und Einwohner. Zudem fordert der Konkursverwalter der KBV rund 33 Millionen Franken.

Grosse Hoffnungen, diesen Betrag auch nur ansatzweise zurückzubekommen, macht sich niemand: Auf Bankkonten und in Tresoren der Angeklagten, von denen keiner für eine Stellungnahme erreichbar war, konnten bisher lediglich rund 3,7 Millionen Franken sichergestellt werden. Dazu beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft eine Wohnung und Häuselmanns Motoryacht am Lago Maggiore. Vom Rest der rund 9,5 Millionen, die die KBV-Manager gemäss Anklage in die eigene Tasche gesteckt haben sollen, fehlt jede Spur.