Wer nicht zahlt, muss leiden
Wer künftig seine Krankenkassenprämien nicht bezahlt, wird in verschiedenen Kantonen nur noch in Notfällen ärztlich behandelt. Chronisch Kranke erhalten nicht einmal mehr ihre Medikamente. Das geänderte Krankenversicherungsgesetz ermöglicht solch harte Methoden.
Veröffentlicht am 16. Dezember 2011 - 10:59 Uhr
Seit Beatrice Spühler* ihre Teilzeitstelle verloren hat, muss sie allein von der Invalidenrente und den Arbeitslosentaggeldern leben. Das Geld reicht nirgendwo hin. Deshalb hat sie Steuerrechnungen nicht bezahlt, aber auch die Prämien und Kostenbeteiligungen der Krankenkasse liegengelassen. Die Gesundheitskosten der 46-Jährigen sind horrend. Denn Beatrice Spühler leidet an Polyarthritis, jede Bewegung bereitet ihr Schmerzen. Sie ist auf Medikamente und ständige ärztliche Betreuung angewiesen. Allein die Medikamente kosten 2000 Franken im Monat.
Wer wie Beatrice Spühler seine Krankenkassenrechnungen nicht bezahlt, musste bisher «nur» damit rechnen, dass die Kasse nach einer erfolglosen Betreibung die eingereichten Rechnungen – etwa für selber bezahlte Arztbesuche oder Medikamente – nicht zurückerstattet. Doch genau das soll sich am 1. Januar ändern, wenn eine Änderung des Krankenversicherungsgesetzes in Kraft tritt. Die Kassen dürfen keine Leistungssperren mehr verhängen, dafür haben Kantone die Möglichkeit, Prämienschuldner zu disziplinieren.
Das hat Folgen: Wer seine Prämien auch nach einer Betreibung der Krankenkasse nicht bezahlt, kann vom Kanton auf eine «schwarze Liste» gesetzt werden und wird dann nur noch in Notfällen behandelt und mit Medikamenten versorgt. Aufgehoben wird der Leistungsstopp erst, wenn der Kanton eingesprungen ist und 85 Prozent der offenen Forderungen bezahlt hat. Bis es so weit ist, können aber leicht ein, zwei Jahre verstreichen.
Wie viele Personen in der Schweiz ihre Krankenkassenprämien nicht bezahlen, weiss niemand so genau. Es gibt nur grobe Schätzungen. Laut Gesundheitsdirektorenkonferenz waren im Jahr 2006 rund 120'000 Menschen mit einer Leistungssistierung ihrer Krankenkasse belegt. Die öffentliche Hand dürfte das gegen 188 Millionen Franken gekostet haben.
Obwohl die Neuerung bereits im Januar in Kraft tritt, ist nicht ganz klar, welche Kantone Leistungssperren für säumige Zahler einführen werden (siehe oben stehende Grafik). Der Kanton Thurgau tut es bereits seit vier Jahren. Luzern oder Schaffhausen folgen jetzt – obschon man längst nicht überall vom Nutzen dieser Massnahme überzeugt ist. «Ziel der schwarzen Listen ist es, Missbräuche aufzudecken», sagt Markus Schärrer, Leiter des Schaffhauser Gesundheitsamts. Er erzählt, dass verschiedene Fachleute aber bezweifeln, dass sich der Aufwand dafür rechnet. «Ich glaube nicht, dass die Zahl der effektiv verweigerten Behandlungen gross sein wird», sagt auch Schärrer. Andere Gesundheitsdirektionen äussern sich ebenfalls skeptisch. In St. Gallen etwa hat man inzwischen Bedenken, ob die Kosten für die nötige EDV-Infrastruktur in einem vernünftigen Verhältnis zum Ertrag stehen. Hinter vorgehaltener Hand sprechen die Gesundheitsdirektionen einiger Kantone deshalb von einem eigentlichen Rohrkrepierer.
Der Entscheid für das Thurgauer Modell sei im Kanton Schaffhausen vor allem aus politischen Gründen gefallen, sagt Markus Schärrer. «Man will den zahlungsunwilligen Versicherten zeigen: ‹Entweder ihr bezahlt – oder es gibt keine Leistungen mehr.›»
Mit derart pauschalen Argumenten kann Margrit Kessler, Präsidentin der Stiftung SPO Patientenschutz, nichts anfangen. «Zahlungsunwillige kann man pfänden lassen. Es kann aber nicht angehen, dass man zahlungsunfähige, kranke Menschen bestraft», ärgert sich die frisch gewählte grünliberale Nationalrätin. «Säumigen Steuerzahlern verbietet man ja auch nicht, die Strasse zu benutzen.»
Kessler sagt, im neuen System werde der Schwarze Peter einfach an die Ärzte weitergegeben. «Dabei ist es Aufgabe des Kantons, säumige Prämienzahler entweder zu bestrafen oder ihnen – wenn nötig – Prämienverbilligungen zu gewähren.» Verzögerte Behandlungen könnten zudem hohe Folgekosten verursachen, wenn sich der Gesundheitszustand der Betroffenen ohne angemessene Behandlung verschlechtere und dann später eine teurere Notfalltherapie nötig sei, warnt sie.
«Ein Leistungsstopp für chronisch kranke Menschen ist völlig unzumutbar», findet auch Erika Ziltener von der Patientenstelle. Patienten könnten sich gezwungen fühlen, in riskante Operationen einzuwilligen, weil diese billiger sind als eine längere medikamentöse Therapie. Oder es könnte dazu kommen, dass nicht so dringende Eingriffe – zum Beispiel bei Augentrübungen – verschoben werden und der Patient unnötig lange behindert wird und Schmerzen ausgesetzt ist. «So etwas ist menschenunwürdig», kritisiert Ziltener.
Völlig unklar ist auch, was genau als medizinischer Notfall gelten soll. Im Gesetz fehlt eine klare Definition. Hanspeter Kuhn von der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte wünscht sich deshalb, dass die Kantone für mehr Klarheit sorgen und «auf den Punkt bringen, was eine Notfallbehandlung sein soll. Schliesslich tragen sie die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung.»
Eine Konkretisierung wäre auch aus rechtlichen Gründen wichtig. Denn: «Der neue Gesetzesartikel steht möglicherweise im Widerspruch zur Bundesverfassung», sagt Brigitte Blum von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Alle in der Schweiz lebenden Menschen hätten «Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind».
Unklar ist laut Blum, wie weit diese Grundversorgung geht. Das Bundesgericht sagt dazu nur, «was für ein menschenwürdiges Dasein unabdingbar ist und vor einer unwürdigen Bettelexistenz zu bewahren vermag». Ob die Behandlung chronisch Kranker zur Grundversorgung gehört, wenn ihre Krankheit nur mit starken Schmerzen verbunden ist, aber nicht zum Tod führt, werden wohl die Gerichte klären müssen.
Die neue Regelung wird auch die öffentlichen Spitäler belasten. Sie werden vermehrt auf unbezahlten Rechnungen sitzenbleiben. Denn öffentliche Spitäler dürfen keine Patienten abweisen. Patientenvertretungen raten deshalb Patienten mit Leistungsstopp, bei gesundheitlichen Problemen die Notfallstation eines öffentlichen Spitals aufzusuchen. «Und sich möglichst frühzeitig beim Sozialamt zu melden», sagt Erika Ziltener. In der Pflicht stehen ihrer Meinung nach aber auch die Gemeinden: «Statt Menschen mit Zahlungsausständen sich selber zu überlassen, sollten die Behörden so früh wie möglich eingreifen und Hilfe anbieten.»
Alte Schulden – was tun unter dem neuen Gesetz?
Seit 2006 haben Krankenkassen das Recht, Rückerstattungen von Behandlungen aus der obligatorischen Grundversicherung zu verweigern, wenn ein Versicherter mit Prämien, Kostenbeteiligungen, Verzugszinsen oder Betreibungskosten im Rückstand ist.
Ab 2012 gilt eine neue Regelung: Hat die Krankenkasse erfolglos betrieben, kann der Kanton die versicherte Person in einem Register erfassen. Wer auf einer solchen «schwarzen Liste» steht, wird nur noch in Notfällen behandelt.
Trotz neuer Regelung bleiben frühere Leistungssistierungen der Krankenkassen bestehen. Die Versicherten bekommen jedoch ihre Arzt- und Arzneirechnungen ab Januar 2012 wieder von der Krankenkasse zurückerstattet.
Tipp: Wer bereits einen Leistungsstopp hat, sollte künftige Prämien bezahlen, auf der Überweisung aber klar vermerken, dass es sich um die aktuelle Prämie handelt. Sonst darf die Kasse mit diesen Prämien alte Schulden abbauen.
5 Kommentare
Für mich ist es erstaunlich, dass Sie, wie übrigens alle Medien, immer nur über die eine Seite der Medaille schreiben.
Einige der Krankenkassen verhalten sich wie kriminelle Vereinigungen, indem Sie z. B., trotz erfolgter Kostengutsprache, Rechnungen mehrere Monate lang nicht bezahlen. Auf Nachfrage bekommt man entweder die lapidare Antwort, die Rechnung würde noch geprüft (teilweise bis zu 18 Monate!). Eine weitere Methode ist das "Erfinden" von Rückweisungsgründen, z. B. erscheint dann beim Leistungserbringer: "Diese Rechnung wurde aus folgendem Grunde zurückgewiesen: vueghiveurvu" Antworte auf Nachfragen können hier ebenfalls monatelang hinausgezögert werden usw. usw.
Einige Krankenkassen nutzen den Fakt, dass keine Betreibung gegen Sie möglich ist, weil unser Staat sie schützt, weidlich aus.
ich habe seit August 2018 die Situation das ich meine Prämie nicht bezahlen kann.
Durch einen Autounfall mit körperlichen Folgen und Kündigung des Arbeitgebers bin ich gezwungen mit 1800.- Franken im Monat zu leben.
Solche Lebenssituationen zwingen einem das man auf die schwarze Liste kommt.
Wir haben das beste Sozialsystem auf der ganzen Welt doch die Menschlichkeit fehlt sehr in diesem System.
Den Hilfe ist nirgends sichtbar eher noch mehr Einschränkungen die auf Kosten der Prämienzahler geht. Aussagen von der Kasse wie „ ja sie können dies oder das rausnehmen und 5.- Franken sparen“ was bringt das wenn 450.- Franken einen verbluten lässt. Was ich nicht verstehe das trotz diversen Bemühungen und Telefonate es keine Einsicht gibt. Keine Lösungsansätze trotz Zahlungseinsicht.
Also ab auf die schwarze Liste.
Es wird Zeit das da endlich etwas geschieht!!!!