Claudia R.* griff sich reflexartig an den Bauch. Da war wieder dieser stechende Schmerz, als wühle jemand mit einem Rasiermesser in ihrem Bauch herum. Beim Arzt erhielt sie die Diagnose Divertikulitis, krankhafte Ausstülpungen im Darm, die sich entzünden. Die 66-jährige Rentnerin aus Wabern BE musste sich mehrere Male operieren lassen.

Am Ende der Behandlung empfahl ihr der Arzt eine Rehabilitationstherapie. Zusammen mit ihrem Mann Victor machte sich Claudia R. auf die Suche nach einer geeigneten Rehaklinik. Im deutschen Überlingen am Bodensee wurden die beiden fündig. Die auf Baucherkrankungen spezialisierte Kurpark-Klinik stellte für Claudia R. ein massgeschneidertes Programm zusammen. Inklusive Aufenthalt und Verpflegung offerierte sie die zweiwöchige Therapie zu einem Tagessatz von 182 Euro. Claudia und Victor R. freuten sich auf 14 Tage Erholung vom Krankheitsstress.

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«Völlig unbegreiflicher Entscheid»

Doch ein Brief ihrer Krankenkasse KPT machte diese Vorfreude zunichte. Weil es sich um eine deutsche Klinik handelt, verweigerte die KPT eine Übernahme der Kosten. Stattdessen anerbot sich die Kasse, eine zweiwöchige Therapie in der Berner Klinik Montana zu bezahlen. Tagesansatz dort: 670 Franken. «Der Entscheid ist mir völlig unbegreiflich. Die Klinik Montana ist nicht auf Baucherkrankungen spezialisiert, kostet aber dreimal so viel wie die Kurpark-Klinik im deutschen Überlingen», sagt Claudia R., noch immer konsterniert.

«Die Berner Klinik Montana ist nicht auf Fälle wie meinen spezialisiert, kostet aber dreimal so viel wie die Klinik im deutschen Überlingen.»

 

Claudia R., Patientin

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Die KPT begründete ihren Entscheid mit dem Hinweis auf das sogenannte Territorialitätsprinzip. Es ist im Krankenversicherungsgesetz verankert und besagt, dass grundsätzlich nur in der Schweiz durchgeführte Behandlungen bezahlt werden. Von diesem Prinzip darf laut Gesetz nur bei einem Notfall abgewichen werden – oder wenn das nötige medizinische Angebot in der Schweiz nicht vorhanden sei.

Claudia R. hat das Pech, nicht in einem grenznahen Kanton zu wohnen. Etwa in Basel-Landschaft oder Basel-Stadt. Dort können sich Versicherte in neun ausgewählten Kliniken im südbadischen Raum behandeln lassen. Das Pilotprojekt läuft seit 2006.

Pro Tag 450 Franken gespart

Die Kooperation im Dreiländereck hat ein erhebliches Sparpotenzial aufgezeigt. «Krankenversicherer und Kantone haben während des Pilotprojekts pro Spitaltag 450 Franken eingespart», sagt Anne Tschudin vom Gesundheitsdepartement Basel-Stadt. «Und je nachdem, wie viele Patienten teilnahmen, resultierten im Vergleich zu einem Aufenthalt in einer vergleichbaren Klinik in der Schweiz jährliche Einsparungen zwischen 0,9 und 2,5 Millionen Franken.» 

Eine begleitende Studie zeigt, dass die Behandlungen in der Schweiz teilweise mehr als das Vierfache kosten als in Deutschland. Hauptgrund für die riesigen Preisunterschiede sei die grössere Effizienz der deutschen Kliniken. Weil der Wettbewerb für stationäre Rehabilitationen im deutschen Markt viel grösser sei und die Versicherungen bei Tarifverhandlungen mehr Macht hätten, laste ein starker Kosten- und Effizienzdruck auf den Kliniken. «In der Schweiz ist ein entsprechender Marktdruck nicht vorhanden», so die Studienautoren.

Das zeigt sich etwa beim Pflegepersonal. Hierzulande ist die Anzahl Vollzeitstellen pro Pflegetag 2,2-mal höher als in Deutschland. Mehr als ein Drittel der Differenz wird durch Unterschiede beim Verwaltungs- und sonstigem Personal verursacht, das auf die medizinische Behandlungsqualität kaum Einfluss hat. 

Doch auch wenn man den Personalaufwand bei den Schweizer Kliniken untereinander vergleicht, zeigen sich frappante Differenzen: So beschäftigen manche Kliniken bis zu sechsmal mehr Personal pro Pflegetag als andere. Die Autoren deuten das als weiteren Beleg für das Fehlen des Wettbewerbs.

Das Parlament bremst den Markt

Die Resultate aus Basel haben auch das Bundesparlament überzeugt. Seit Januar dieses Jahres sind Kooperationen in allen grenznahen Kantonen dauerhaft möglich. Ganz öffnen wollten die Politiker den Markt aber nicht. Und auch die Krankenkassen müssen natürlich mitmachen.

«Eine Erweiterung auf andere Kantone ist durchaus prüfenswert. Der Preis- und Qualitätswettbewerb bekäme so eine neue Dynamik», sagt Sandra Kobelt von Santésuisse, dem Branchenverband der Krankenkassen. Dezidierter äussert sich Curafutura, der zweite Branchenverband. «Wir vertreten ganz klar die Meinung, dass das Territorialitätsprinzip für alle Kantone gelockert werden muss», sagt Sprecher Ralph Kreutzer. Das hohe Preisniveau in der Schweiz gehe zulasten der Prämienzahlenden. Patienten, die beispielsweise Medikamente günstiger im Ausland beziehen, handelten kostenbewusst. «Heute werden diese Leute bestraft, weil ihre Krankenversicherung diese Leistungen aufgrund des herrschenden Territorialitätsprinzips gar nicht vergüten darf», so Kreutzer.

Skeptisch zeigen sich dagegen die kantonalen Gesundheitsdirektoren. «Eine völlige Öffnung würde dem Gedanken des Krankenversicherungsgesetzes zuwiderlaufen», sagt Michael Jordi, Zentralsekretär der Gesundheitsdirektorenkonferenz. Das Gesetz verpflichte die Kantone, mit der Spitalplanung und der Ärztezulassung die Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Eine totale Marktöffnung würde zu Überkapazitäten führen und die Planung stark erschweren. «Hinzu kommt, dass Tarifverhandlungen im medizinischen Bereich äusserst komplex und entsprechend aufwendig sind. Ich habe grosse Zweifel, ob sich dieser Aufwand lohnt», so Jordi.

«Hier muss etwas geschehen»

Anders verhalte es sich bei den Medikamenten und den medizinischen Hilfsmitteln. «Hier muss etwas geschehen. Auch im Ausland gekaufte Medikamente sollten vergütet werden», so Jordi. Der Druck in diese Richtung nimmt zu: Auch die Krankenkassen und der Preisüberwacher fordern einen Systemwechsel. Im Parlament sind dazu mehrere Vorstösse hängig. 

Claudia R. hat dann den Aufenthalt in der spezialisierten deutschen Klinik zähneknirschend selbst bezahlt. Immerhin hat es sich gelohnt: «Die Therapie war ein voller Erfolg», sagt sie. «Ich fühle mich heute wieder ganz gesund.» Erst wollte sie versuchen, die KPT auf dem Gerichtsweg zur Übernahme der Kosten zu zwingen. Dieses Ziel aber hat sie nicht mehr: «Was sollen wir uns wegen ein paar Paragrafen streiten? Gesundheit hat keinen Preis.»

 

* Name der Redaktion bekannt

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