So werden wir gemolken
363 Franken im Jahr zahlt jeder Versicherte für die Verwaltung seines Pensionskassengeldes – behaupten Swiss Life, Axa und Co. In Wirklichkeit kassieren sie fast das Fünffache.
Veröffentlicht am 17. Januar 2012 - 08:14 Uhr
Seit der Rentenklau-Diskussion sind die Lebensversicherer um ein gutes Image besorgt. Und tun etwas dafür. Jahr für Jahr senken sie in der zweiten Säule die Verwaltungskosten. So auch 2010, als sie den «reinen Verwaltungsaufwand» um weitere 8,1 Prozent reduzierten. Für die Verwaltung der Pensionskassen verlangten sie damit nur gerade 363 Franken pro Person. So zumindest steht es im aktuellen Bericht über die «Offenlegung der Betriebsrechnung 2010» der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma).
Schaut man genauer hin, merkt man schnell: Die offiziellen Zahlen der Versicherungswirtschaft haben herzlich wenig mit der Realität zu tun. Versicherte zahlen nicht 363 Franken für die Verwaltung ihrer Pensionskassengelder, sondern rund 1650 Franken. Das ergeben Recherchen des Beobachters. Die Versicherungskonzerne rechnen sich mit dem Segen der Kontrollbehörde ihre Kosten systematisch klein.
Den «reinen Verwaltungsaufwand», der pro Jahr mit 687 Millionen Franken zu Buche schlage, gibt es gar nicht – der Aufwand für Abschluss- und Leistungsbearbeitungen wird einfach ausgeklammert. Der buchhalterische Kniff lohnt sich. Spesen in Höhe von 273,5 Millionen Franken werden so aus der Statistik gelöscht. Den Versicherten nützt das nichts, sie müssen trotzdem zahlen. Im Finma-Bericht erscheinen die Spesen unter dem Posten «Kosten nach Erfolgsrechnung». Danach betragen sie nicht 363 Franken pro Jahr, sondern 436 Franken.
Denn je mehr Versicherte, desto tiefer rein rechnerisch die Pro-Kopf-Kosten für die Verwaltung. Statt wie offiziell ausgewiesen 2,2 Millionen sind bloss 1,4 Millionen Personen wirklich den Lebensversicherern zuzuordnen. Die Pro-Kopf-Kosten sind deshalb 244 Franken höher als ausgewiesen.
Der Hintergrund: Fälschlicherweise werden in der offiziellen Zahl auch 310'000 Inhaber von Freizügigkeitspolicen mit eingerechnet, bei denen geringe administrative Kosten anfallen. Mitgezählt werden zudem mehrere hunderttausend Versicherte von autonomen und teilautonomen Vorsorgeeinrichtungen, obwohl sie bei den Versicherern nur rückversichert sind. Eine saubere Abgrenzung zwischen den unterschiedlich Versicherten fehlt.
Der grösste Anbieter, Swiss Life, weist offiziell 612'000 Versicherte aus. Voll versichert sind davon aber bloss 288'000 Personen, also 47 Prozent. Ähnliches gilt für die Konkurrenz: Bei der Axa sind nur 62 Prozent der offiziell gezählten 605'320 Personen voll versichert, bei der «Basler» sind es 63 Prozent der 187'000 Versicherten.
Der Zürcher Pensionskassenexperte Jürg Jost fordert nun: «Es braucht endlich klare Bestimmungen, wie die Anzahl versicherter Personen festgelegt wird.»
Eigentlich könnte die Finma exakte Zahlen liefern. Seit drei Jahren müssen ihr die Lebensversicherer die entsprechenden Angaben genau aufgegliedert abliefern. Nur macht die Finma diese Daten nicht publik. Warum nicht? «Bisher wurde nicht danach gefragt», lautet die lapidare Antwort von Finma-Sprecher Tobias Lux. Jetzt wollen die Kontrolleure ihre Praxis überprüfen.
Offiziell ausgewiesen sind bloss 282 Millionen. Nimmt man eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen als Messlatte, belaufen sich die Vermögensverwaltungskosten – indirekte eingeschlossen – auf total 826 Millionen Franken. Die Pro-Kopf-Kosten liegen damit um gut 480 Franken höher als ausgewiesen.
Als Gegenleistung garantieren sie, dass alle Renten bezahlt werden und die Versicherungen entsprechende Rückstellungen bilden können. Das kostet jeden Versicherten im Schnitt 490 Franken im Jahr.
Zählt man sämtliche Spesen für Administration, Vermögensverwaltung und die sogenannte Legal Quote zusammen, zahlt jeder Kollektivversicherte nicht «reine» Spesen von einem Franken pro Tag, sondern im Schnitt Fr. 4.55 – das macht übers Jahr gerechnet 1650 Franken. Mit diesem Geld könnte man zwei bis drei durchschnittliche BVG-Monatsbeträge bezahlen.
Selbst Experten wundern sich über den riesigen Unterschied zwischen den offiziell ausgewiesenen und den tatsächlich verrechneten Kosten. Entsprechend harsch fällt ihre Kritik aus. «Die Lebensversicherer sind private, staatlich privilegierte Auftragnehmer der Pensionskassen. Und doch haben die Versicherten null Einfluss auf Erträge und Kosten, wie das eigentlich vorgesehen wäre», ärgert sich Herbert Brändli, Pensionsversicherungsexperte und Präsident der B+B Vorsorge AG. Die Legal Quote ist seiner Meinung nach «staatlich organisierter Rentenklau».
Der Schweizerische Versicherungsverband sieht das – naturgemäss – anders: «Mit dem Vollversicherungsmodell bieten die Lebensversicherer einzigartige Garantien, weil sie das volle Risiko tragen», schreibt er in seinem Positionspapier zur Legal Quote vom März 2008. Die Versicherer würden die Versicherten selbst dann nicht zur Kasse bitten, wenn das vorhandene Kapital nicht mehr alle reglementarischen Verpflichtungen decken sollte. Weniger Ertrag und eine tiefere Legal Quote lehnt der Verband «entschieden» ab.
Den Beobachter hätte auch die Sicht des Bundesamts für Sozialversicherungen interessiert, das im letzten Halbjahr zwei Studien über die Verwaltungskosten der zweiten Säule präsentiert hat. Doch die zuständige Vizedirektorin Colette Nova, ehemalige Gewerkschaftssekretärin und ausgewiesene Kennerin der beruflichen Vorsorge, wollte sich nicht äussern. Das sei der Zuständigkeitsbereich der Finma.
Doch bei der Finma bleibt man unverbindlich. Die Pro-Kopf-Angabe sei eine «gemittelte Grösse», die einzelnen Versichertenbestände würden «unterschiedlich hohe Kostenanteile generieren». Indirekte Vermögensverwaltungskosten würden in erster Linie bei Fonds, alternativen Anlagen und Hedge-Fonds anfallen, die bei den Anlagen der Lebensversicherer höchstens einen Anteil von 5,8 Prozent ausmachten. Immerhin: «Eine allfällig mögliche Erfassung der indirekten Verwaltungskosten wird von der Finma überprüft.»
Klar Position bezieht dagegen Travail Suisse. Die Dachgewerkschaft, die rund 170'000 Arbeitnehmende vertritt, fordert, dass die Legal Quote der Versicherer massiv gekürzt wird. Sie soll nur noch so hoch wie der Mindestzins sein, aktuell also 1,5 Prozent. 2010 strichen die Versicherungskonzerne im Schnitt 7,5 Prozent des Bruttogewinns ein, den sie mit dem Geld ihrer Versicherten erzielten.
Für die Lebensversicherer sind die Pläne von Travail Suisse «unannehmbar». Vorsorglich drohen sie schon einmal, sich aus dem Pensionskassengeschäft zurückzuziehen, falls sich die Gewerkschaften mit ihrer Forderung durchsetzen sollten. Als private Investoren könnten sie ja frei entscheiden, ab welcher Rendite sie mit ihrem Kapital die Risiken tragen wollen. Die Warnung hat bisher gewirkt: Alle Vorstösse, die in den letzten fünf Jahren eine tiefere Legal Quote verlangten, wurden vom Parlament abgelehnt.
Rechentrick 1: Die Zahl der Versicherten künstlich hochrechnen
Die Schweizer Versicherungskonzerne versichern im Rahmen der zweiten Säule offiziell 2,2 Millionen Personen. Tatsächlich sind es jedoch höchstens 1,4 Millionen: Laut Bundesamt für Statistik (BFS) sind in kollektiven Einrichtungen insgesamt 1,05 Millionen versichert, davon 1,01 Millionen in Sammel- und Gemeinschaftseinrichtungen (2009). Letztere sind voll den Lebensversicherern zuzurechnen.
Zum grösseren Teil gilt das auch für 300'000 Versicherte von teilautonomen Einrichtungen, wo die Versicherer Renten oder Alterskapital garantieren. Massiv tiefere Verwaltungskosten fallen für Swiss Life, Axa und Co. hingegen bei 310'000 Inhabern von Freizügigkeitspolicen und mehreren hunderttausend teilautonom und autonom Versicherten an. Dort versichern die Konzerne nur einzelne Risiken, zählen aber alle Personen voll mit.
Rechentrick 2: Indirekte Kosten für Vermögensverwaltung nicht einrechnen
Für die Vermögensverwaltung bezahlen die Versicherten gemäss offizieller Lesart 282 Millionen Franken pro Jahr. Das entspricht tiefen 0,2 Prozent des verwalteten Vermögens. Doch: Ausgewiesen werden nur die direkten Kosten. Die wesentlich höheren indirekten Kosten, die bei jedem einzelnen Anlageprodukt anfallen, sind nicht berücksichtigt. Überträgt man die Ergebnisse der letztjährigen Finma-Studie auf die Verwaltungskosten der gesamten zweiten Säule, heisst das: Die Vermögensverwaltung im Vollversicherungsmodell kostet rund 826 Millionen Franken. Zählt man zu den grosszügig gerechneten 1,4 Millionen Versicherten die 310'000 Inhaber von Freizügigkeitsleistungen dazu, bezahlen die Versicherten rund 0,6 Prozent des verwalteten Vermögens an die Versicherer – statt der ausgewiesenen 0,2 Prozent.
Rechentrick 3: Teure Garantien verrechnen
Bis zu zehn Prozent der Bruttogewinne, die die Lebensversicherer beim Anlegen der Vorsorgegelder erzielen, können sie für sich abzweigen. Diese Legal Quote erhalten sie dafür, dass sie eine Mindestverzinsung der Guthaben garantieren, alle Renten auszahlen und Rückstellungen bilden. 2010 strichen sie dafür 492 Millionen Franken ein. Auf Basis der BFS-Zahlen für 2009 wurden jedem Vollversicherten 490 Franken pro Jahr verrechnet. Weitere 118 Millionen Franken verrechnen die Versicherer jenen Vorsorgeeinrichtungen, deren Verträge nicht der Legal Quote unterliegen.
Die Lebensversicherungskonzerne weisen ihr Geschäft mit der zweiten Säule in einer separaten jährlichen Betriebsrechnung aus. Kontrollbehörde ist die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma). Mindestens 90 Prozent der erwirtschafteten Überschüsse müssen wieder an die Versicherten gehen. Wie hoch diese Überschussbeteiligung ausfällt, hängt von folgenden Faktoren ab:
- Im Sparteil werden jene Altersguthaben verwaltet, die später in Renten umgewandelt werden. 2010 resultierte ein Plus von 1,08 Milliarden Franken.
- Im Risikoteil liegen jene Gelder, die für die Deckung der Todesfall- und Invaliditätsleistungen benötigt werden. Die Prämieneinnahmen fielen 2010 1,32 Milliarden Franken höher aus als die erbrachten Leistungen.
- Der Kostenteil umfasst alle Aufwendungen für Vertrieb und Bewirtschaftung von Vorsorgeprodukten sowie alle Verwaltungskosten. Hier verbuchten die Versicherer 2010 einen Verlust von 128,4 Millionen Franken. Er wurde mit Überschüssen aus dem Spar- und Kostenteil ausgeglichen.
- Aus dem Bruttoergebnis (2010: 2,27 Milliarden Franken Gewinn) bilden die Versicherer Rückstellungen für Risiken, Versicherungsfälle, Deckungslücken und Wertschwankungen (891 Millionen). Zudem ziehen sie die Legal Quote ab (610 Millionen). Der Rest (764 Millionen) wird dem Überschussfonds zugewiesen. Dort lagen Ende 2010 total 1,76 Milliarden Franken. Diese Gelder müssen spätestens nach fünf Jahren den Versicherten zugeteilt werden.
Die Lebensversicherungskonzerne weisen ihr Geschäft mit der zweiten Säule in einer separaten jährlichen Betriebsrechnung aus. Kontrollbehörde ist die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma). Mindestens 90 Prozent der erwirtschafteten Überschüsse müssen wieder an die Versicherten gehen. Wie hoch diese Überschussbeteiligung ausfällt, hängt von folgenden Faktoren ab:
- Im Sparteil werden jene Altersguthaben verwaltet, die später in Renten umgewandelt werden. 2010 resultierte ein Plus von 1,08 Milliarden Franken.
- Im Risikoteil liegen jene Gelder, die für die Deckung der Todesfall- und Invaliditätsleistungen benötigt werden. Die Prämieneinnahmen fielen 2010 1,32 Milliarden Franken höher aus als die erbrachten Leistungen.
- Der Kostenteil umfasst alle Aufwendungen für Vertrieb und Bewirtschaftung von Vorsorgeprodukten sowie alle Verwaltungskosten. Hier verbuchten die Versicherer 2010 einen Verlust von 128,4 Millionen Franken. Er wurde mit Überschüssen aus dem Spar- und Kostenteil ausgeglichen.
- Aus dem Bruttoergebnis (2010: 2,27 Milliarden Franken Gewinn) bilden die Versicherer Rückstellungen für Risiken, Versicherungsfälle, Deckungslücken und Wertschwankungen (891 Millionen). Zudem ziehen sie die Legal Quote ab (610 Millionen). Der Rest (764 Millionen) wird dem Überschussfonds zugewiesen. Dort lagen Ende 2010 total 1,76 Milliarden Franken. Diese Gelder müssen spätestens nach fünf Jahren den Versicherten zugeteilt werden.