Die Justiz holts bei den Armen
Sie lebt seit Jahren unter dem Existenzminimum – und jetzt fordert das Zürcher Obergericht 9000 Franken Prozesskosten von ihr zurück. Das ist unlauter – aber kaum ein Einzelfall.
Veröffentlicht am 9. Mai 2011 - 15:22 Uhr
Verena Schneebeli* wird in zwei Jahren pensioniert, doch Vorfreude will nicht aufkommen. Sie ist teilinvalid und seit fünf Jahren geschieden. Von der IV bekommt sie 443 Franken im Monat. Daneben verdient sie mit Putzen in Privathaushalten 2000 Franken – wenn es gut läuft. Vermögen hat sie nicht. Ihr einziger Luxus: die kleine Dachterrasse ihrer Zweieinhalbzimmerwohnung. Dort schläft sie in warmen Sommernächten.
Die 62-Jährige lebt unter dem Existenzminimum. «Zum Glück kann ich häufig bei meiner Schwester essen», sagt sie. «Und manchmal bekomme ich auch Kleider geschenkt, die noch nicht ausgetragen sind.» Doch das reicht nicht: «Ich werde nach der Pensionierung weiterhin putzen müssen.»
Davon geht offensichtlich auch das Obergericht des Kantons Zürich aus. Im Februar 2010 forderte die Abteilung Zentrales Inkasso Verena Schneebeli auf, mehr als 9000 Franken Prozesskosten zurückzuzahlen, die ihr bei der Scheidung im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege (URP) einstweilen erlassen wurden. Denn die Kosten für die URP sind nur vorgeschossen: Wer später in «wirtschaftlich günstige Verhältnisse» kommt, muss das Geld zurückzahlen – so heisst es in der Zürcher Zivilprozessordnung.
Doch Schneebelis finanzielle Verhältnisse waren weiterhin alles andere als günstig. Sie versteuerte ein Jahreseinkommen von knapp 20'000 Franken und hatte Fr. 530.25 auf der Bank. Wie es für solche Fälle vorgesehen ist, füllte sie das vom Obergericht angebotene «Erhebungsformular» aus, um ihre finanzielle Situation zu erläutern (siehe unten: «So läuft die Rückforderung». Sie bat das Gericht um Verständnis: «Meine wirtschaftlichen Verhältnisse sind sehr beschränkt, so dass ich zurzeit unmöglich eine Rückzahlung leisten kann», schrieb sie am 13. Februar letzten Jahres.
Der Brief landete auf dem Tisch einer Verwaltungssekretärin, die heute nicht mehr am Obergericht arbeitet. Sie teilte Verena Schneebeli wenig später unmissverständlich mit: «Gestützt auf Ihre Unterlagen, sehen wir Sie absolut in der Lage, Ratenzahlungen von mindestens 50 Franken pro Monat zu bezahlen; die erste Rate ist bis zum 28.2.2010 zu leisten.» Für den Fall, dass eine Teilzahlung nicht pünktlich überwiesen wird, wurden – im Ton eines klassischen Inkassobüros – gleich die Konsequenzen angedroht: «Sie müssen mit weiteren Inkassomassnahmen rechnen.»
Die Einschüchterung zeigte Wirkung. «Ich befürchtete, dass ich betrieben werde. Das wollte ich auf keinen Fall», erinnert sich Schneebeli. Sie begann, jeden Monat 50 Franken abzustottern. Doch bereits im Juni konnte sie nicht mehr zahlen, weil Putzaufträge ausblieben, wie oft im Sommer. Auf ihr Gesuch, die Ratenzahlungen bis im Herbst zu erlassen, ging das Obergericht nicht ein. Die Verwaltungssekretärin zeigte sich aber gnädig und bewilligte eine «Stundung der Gerichtskosten» bis Ende Oktober 2010. Ab dann zahlte Schneebeli wieder. Als ihr Ende Februar 2011 wieder «Inkassomassnahmen» angedroht wurden, nachdem sie erneut mit einer Zahlung in Rückstand geraten war, bat sie das Beobachter-Beratungszentrum um Hilfe.
Was sie dort erfuhr: Sie hätte die 50 Franken gar nie bezahlen müssen. Denn das Obergericht war nicht berechtigt, gegen sie eine Betreibung einzuleiten. Zuerst hätte es vor jenem Gericht, das Schneebeli im Scheidungsverfahren die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt hatte, formal die Rückzahlung der Prozesskosten beantragen müssen. Dazu kommt, dass das Obergericht damit chancenlos gewesen wäre. Denn zurückzahlen muss nur, wer später einen Verdienst hat, der um einiges über dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum liegt; dieses hätte bei Verena Schneebeli rund 3000 Franken betragen. Dessen war sich offenbar auch die Abteilung Zentrales Inkasso bewusst: «Eine Klage wird nur in wenigen, ganz klaren Fällen eingereicht. Bei Verena Schneebeli wäre das sicher nicht der Fall gewesen», sagt Andrea Schmidheiny, Kommunikationsbeauftragte des Zürcher Obergerichts.
Schneebeli wäre also in Ruhe gelassen worden, wenn sie sich von Anfang an geweigert hätte zu zahlen. Warum wurde sie vom höchsten Zürcher Gericht nicht aufgeklärt? Weshalb wurden ihr stattdessen «weitere Inkassomassnahmen» angedroht? «Die Formulierung war unglücklich. Die Ratenzahlung war nur ein Vorschlag», sagt Sprecherin Schmidheiny lapidar. Wer die einschüchternde Post des hohen Gerichts anders versteht, zahlt somit, ohne es zu müssen – wie Verena Schneebeli.
So unzimperlich die unlautere Zürcher Methode ist, so erfolgreich ist sie: Nach Angaben des Obergerichts fliessen jedes Jahr rund 3,7 Millionen Franken an vorgeschossenen Prozesskosten zurück in die Staatskasse, was einer Rückerstattungsquote von 21 Prozent entspricht. Ein hoher Wert im Vergleich zu anderen Kantonen. Selbst das Bundesgericht holt nicht mehr als zehn Prozent der vorgeschossenen Kosten wieder herein.
Gerichtssprecherin Andrea Schmidheiny räumt ein, das Vorgehen im Fall Schneebeli sei «ein Grenzfall» gewesen. Tatsächlich? Beim Zürcher Obergericht sind zurzeit über 2000 Ratenzahlungen hängig. Die höchste Rate beträgt 4000 Franken, die tiefste 50 Franken – der Durchschnitt liegt bei 112 Franken. Es ist daher sehr wohl möglich, dass sich darunter der eine oder andere «Grenzfall» befindet. Einsicht in weitere Dossiers wollte das Obergericht dem Beobachter nicht gewähren, weil es sich um «laufende Verfahren» handle.
Zuständig für die Rückforderung vorgeschossener Prozesskosten ist je nach Kanton eine zentrale Inkassostelle, die kantonale Steuerverwaltung, das Finanzdepartement oder das Gericht, das die unentgeltliche Rechtspflege gewährt hatte.
Drei bis sieben Jahre nach Verfahrensende erhält man in der Regel einen Brief, in dem man gebeten wird, die vorgeschossenen Kosten zurückzuzahlen.
Ist man dazu nicht in der Lage, muss man seine finanzielle Situation offenlegen. Dazu muss man in der Regel ein Formular ausfüllen und seine Ausgaben belegen. Nach Prüfung dieser Unterlagen entscheidet die zuständige Stelle, ob man die Prozesskosten zurückzahlen muss oder nicht.
Falls man nicht einverstanden ist mit dem Entscheid, kann man ihn bei der dafür zuständigen Instanz anfechten.
Eine weitere Möglichkeit besteht in den Kantonen Basel-Land, Zug und Zürich. Dort kann man sich an die kantonale Ombudsstelle wenden, wenn der Staat die vorgeschossenen Prozesskosten zurückfordert. Diese versucht, zwischen den Parteien zu vermitteln. Die Adressen findet man unter www.ombudsman-ch.ch.
Bis Ende 2010 konnte jeder Kanton selber bestimmen, ob und in welchem Umfang vorgeschossene Prozesskosten zurückerstattet werden müssen. Seit 2011 gilt nun aber die einheitliche Schweizerische Zivilprozessordnung. Also fertig mit dem Kantönligeist? Mitnichten.
Der neue Artikel 123 hält nämlich nur fest, dass zur Rückzahlung der unentgeltlichen Rechtspflege verpflichtet sei, wer «dazu in der Lage ist». Diese vage Formulierung lässt den fürs Inkasso zuständigen Stellen die Möglichkeit offen, die Bestimmung nach ihrem Gutdünken anzuwenden. Eine Umfrage des Beobachters in den Kantonen Aargau, Bern, Graubünden, Luzern, St. Gallen, Solothurn und Thurgau zeigt denn auch, dass die Praxis bei beiden massgeblichen Faktoren – Einkommen und Vermögen – höchst unterschiedlich ist.
Alle angefragten Kantone gehen vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum als Berechnungsgrundlage aus. Dieses setzt sich zusammen aus einem Grundbetrag für Nahrung, Kleidung und Körperpflege sowie bestimmten Auslagen wie Wohnungsmiete, Krankenkasse und Ähnliches. Hinzu kommen die Steuern. Der Grundbetrag beträgt für eine alleinstehende Person 1200 Franken im Monat. Ausser im Kanton Bern wird dieser Betrag um 20 bis 30 Prozent erhöht (SG plus 30 Prozent; TG, SO, LU, GR plus 20 Prozent; AG dazwischen).
Das so berechnete «erweiterte Existenzminimum» wird mit dem Einkommen verglichen. Ist dieses höher als das Existenzminimum, kann der Überschuss für die Bezahlung der Prozesskosten eingefordert werden. Doch diese Einnahmeüberschüsse werden von den Kantonen ganz unterschiedlich gehandhabt. So werden im Aargau bereits geringe Beträge zwischen 50 und 100 Franken pro Monat zurückgefordert. In Graubünden geschieht das nur, wenn damit die Prozesskosten innert maximal zwei Jahren zurückgezahlt werden können.
Wieder anders in den Kantonen Luzern, St. Gallen und Thurgau: Hier bestehen keine zeitlichen Limiten. In Bern und Solothurn schliesslich gilt ein steuerbares Einkommen von 40'000 respektive 38'000 Franken als untere Grenze.
Auch hier variiert die Praxis erheblich. Wer etwa im Kanton St. Gallen eine Geldreserve von 5000 Franken oder mehr besitzt, muss bereits mit einer Rückforderung der Prozesskosten rechnen.
In den anderen Kantonen gelten Limiten von 8000 (SO), 10'000 (LU, AG), 15'000 (GR) oder 20'000 Franken (TG, BE). Vorbehalten bleibt natürlich der Einzelfall, wie alle Kantone gegenüber dem Beobachter betonten.
Wird sich an dieser ungleichen Praxis etwas ändern? Möglich wäre das durch einen Entscheid des Bundesgerichts, falls einmal ein Fall bis nach Lausanne weitergezogen wird. Doch die Rechtslage wird sich kaum klären. Denn das Bundesgericht geht selber recht willkürlich vor bei der Rückforderung vorgeschossener Prozesskosten: «Jeder Fall wird einzeln geprüft; es gibt keine fixe Berechnungsgrundlage», sagt Sprecherin Sabina Motta.