Wer Rat sucht, muss draussen bleiben
Bei der Schuldenberatung durch die Kantone herrscht das Chaos: Wer am falschen Ort wohnt, wird bei der Sanierung seiner Schulden nicht unterstützt.
Veröffentlicht am 11. September 2006 - 09:04 Uhr
Zahlungsaufforderungen der Bank, Betreibungsandrohungen der drei Kreditkartenfirmen, steigende Abzahlungsraten: Antonio Fattorelli (Name geändert) wächst alles über den Kopf. Am liebsten würde er mit jeweils nur einer monatlichen Rate seine Schulden von rund 35'000 Franken abstottern. So hätte er den Überblick, wie viel Geld ihm noch zum Leben bleibt. Ein vernünftiger Wunsch - und eine klassische Aufgabe für einen Schuldensanierer. Dieser verhandelt beispielsweise mit Gläubigern, prüft Abzahlungsverträge und erstellt einen Ratenplan.
Fattorelli wollte sich bei seiner Wohngemeinde in Zurzach AG beraten lassen. Doch dort konnte man ihm nicht weiterhelfen und schickte ihn stattdessen zur öffentlichen Fachstelle für Schuldenfragen Aargau (FSA). Doch auch in Aarau blitzte er ab: Weil Zurzach nicht Mitglied der Fachstelle ist, werde er nicht beraten, wurde ihm beschieden.
Unglaublich? Nein, Alltag - und nicht nur im Kanton Aargau. Was das von der öffentlichen Hand bereitgestellte Angebot an Schuldenberatungsstellen betrifft, herrscht in der Deutschschweiz ein Chaos - praktisch jeder Kanton hat eine andere Lösung, wie eine Erhebung des Beobachters zeigt (siehe Nebenartikel «Beratung: Jeder Kanton macht es anders»). Am einfachsten machen es sich mehrere kleine Kantone, aber auch der bevölkerungsreiche Kanton St. Gallen: Hier gibt es schlicht keine Angebote. Andernorts unterstützen Organisationen wie die Caritas oder das Rote Kreuz Schuldner finanziell bei der Sanierung. Und dann gibt es noch jene Kantone, die ihre Angebote ganz oder teilweise durch die Gemeinden finanzieren lassen.
Schuldner werden zur Kasse gebeten
Die Gemeinden können allerdings selbstständig entscheiden, ob sie bei einer Schuldenberatungs-Fachstelle mitmachen und mitzahlen wollen oder nicht. Im Aargau etwa ist nur gut die Hälfte der 229 Gemeinden Mitglied der FSA: Mit einem Jahresbeitrag erkaufen sich diese Behörden das Recht, ihre verschuldeten Einwohnerinnen und Einwohner fachkundig beraten zu lassen. Selbst grosse Ortschaften wie Baden, Brugg oder Rheinfelden verzichten darauf. «Ich bedaure das», sagt FSA-Leiter Jürg Gschwend. Er bezweifelt, dass diese Gemeinden ein genügend gutes lokales Alternativangebot haben, wie sie das als Absageargument immer wieder vorbringen: «Jedenfalls höre ich ab und zu entsprechende Reklamationen.» Wie Antonio Fattorelli muss das FSA-Team immer wieder Ratsuchende abweisen, weil sie in der «falschen» Gemeinde wohnen; allein 2005 waren es rund 60 Personen.
Immerhin: Nicht allen Betroffenen ergeht es wie Fattorelli. «Oft finden sich auch für Ratsuchende aus Nicht-Mitgliedgemeinden Lösungen», sagt Christoph Räber, Leiter der Schuldenberatungsstelle Schwyz. So könnten Gemeinden etwa die Kosten eines Einzelfalls übernehmen. Auch andere Geldgeber wie die Caritas, die Kirchen oder allenfalls der Arbeitgeber des Ratsuchenden kämen dafür in Frage. Die FSA im Aargau berät Schuldner, deren Gemeinden nicht Mitglied sind, überhaupt nicht. Andere Kantone wie Basel-Landschaft, Luzern, Schwyz und Zürich haben ein Strafsystem eingeführt: Einwohner aus nichtzahlenden Gemeinden werden für die Beratung zur Kasse gebeten; für die übrigen Ratsuchenden ist sie gratis.
«Wir wissen, dass dies ein unbefriedigender Zustand ist. Die Irrfahrt von Antonio Fattorelli ist nicht untypisch», meint Peter Gründler, Präsident des Dachverbands Schuldenberatung Schweiz. Allerdings sei es eine Tatsache, dass die personellen Ressourcen der öffentlichen Schuldenfachstellen «sehr beschränkt» seien, entsprechend werde das Beratungsangebot vielerorts auf die Einwohner jener Gemeinden beschränkt, die die Beratungsstelle finanziell unterstützten. Laut dem Verband Pro Familia gibt es in den 17 Kantonen mit einer Schuldenberatungsstelle insgesamt 40 Vollzeitstellen - je eine pro 160’000 Einwohner. In neun Kantonen mit total 900’000 Einwohnern gibt es nichts.
Eine Folge davon: Das Gewerbe der privaten Schuldensanierer blüht. Vor allem über Kleinanzeigen machen sie auf sich aufmerksam. Doch was im Anzeigentext verlockend klingt, weicht meist rasch einer Ernüchterung: Die privaten Anbieter wollen in erster Linie selbst verdienen - und so wächst in der Regel der Schuldenberg der Klienten, statt dass er sinkt.
Besserung ist kaum in Sicht
Markus Hoby, der in der Ostschweiz auf privater Basis Schuldenberatungen anbietet, gilt im Gegensatz zu den meisten anderen privaten Anbietern als seriös und wird darum auch in der offiziellen Liste der Schuldenberatungsstellen aufgeführt. Für Ratsuchende aus dem Kanton Thurgau subventionieren die Caritas und die Kirchen Hobys Angebot, das dann 120 statt 150 Franken pro Stunde kostet. Angesichts des fehlenden öffentlichen Angebots, zum Beispiel im Kanton St. Gallen und in den beiden Appenzell, hat Hoby regen Zulauf: Mehrere hundert Schuldner melden sich jedes Jahr telefonisch, rund 100 davon lassen sich von ihm beraten. Auch Antonio Fattorelli aus Zurzach hat sich nun an ihn gewandt. Er ist froh, dass er endlich jemanden hat, der ihm unter die Arme greift. Die Kosten für die Beratung trägt Fattorelli allerdings selber.
Bei den Angeboten von offizieller Seite ist nur vereinzelt Besserung in Sicht - etwa in Uri: «Aufgrund der Rückmeldungen aus den Gemeinden wissen wir, dass ein Bedürfnis nach einer speziellen Schuldenberatungsstelle besteht», sagt Werner Danioth, Vorsteher des Amts für Soziales. Mit einem neuen Sozialplan soll voraussichtlich 2008 eine solche geschaffen werden. «Bis jetzt sind die örtlichen Sozialdienste dafür zuständig, doch fehlt es dort an Zeit und Know-how, komplexe Schuldensanierungen fachgerecht durchzuführen.» Andernorts ist man gegenteiliger Ansicht - etwa im aargauischen Unterkulm: Die Gemeinde tritt per Ende Jahr aus der FSA aus, «weil der bestehende regionale Sozialdienst genügt», so Gemeindeschreiber Beat Bühlmann. Unterkulm spart damit pro Jahr 400 Franken - so viel kostet die Mitgliedschaft.
«Die Gemeinden schneiden sich ins eigene Fleisch», glaubt Mario Roncoroni von der Berner Schuldenberatungsstelle. «Wenn eine Schuldensanierung gelingt, gewinnen die Gemeinden einen zuverlässigen Steuerzahler.» Peter Gründler vom Dachverband ergänzt: «Es ist oft so, dass verschuldete Personen zuerst Steuern und Krankenkasse nicht mehr bezahlen. Das hat fehlende Einnahmen und zusätzliche Ausgaben bei der Gemeinde zur Folge - und zum Schluss wird der Verschuldete auch noch fürsorgeabhängig.»
Kreditgeber in der Verantwortung
Die heutige Finanzierungsstruktur im Kanton Aargau ist aber derart absurd, dass es sich für die FSA gar nicht lohnt, mehr Gemeinden zum Mitmachen zu bewegen: Gemeinden mit bis zu 3’000 Einwohnern bezahlen pro Jahr 400 Franken und können dann all ihre verschuldeten Einwohner nach Aarau schicken. «Das deckt die Kosten natürlich bei weitem nicht. Mit jeder neuen Mitgliedgemeinde steigt darum mein strukturelles Defizit», klagt FSA-Leiter Jürg Gschwend. Schuldenexperte Mario Roncoroni plädiert daher für ein gänzlich neues und einheitliches Finanzierungssystem: «Die Verursacher der Verschuldung, also die Kreditgeber, sollten in die Verantwortung genommen werden», findet er. Kleinkreditbanken müssten nach seinem Vorschlag einen Fonds äufnen, aus dem die öffentlichen Schuldenberatungsstellen finanziert würden. Roncoroni: «Das wäre gerade jetzt wichtig, wo wir wegen der neuen Gratis-Kreditkartenangebote von Migros und Coop mit einer steigenden Verschuldungsquote rechnen müssen.»