Eigentlich hätte Marco Pfeuti Steuern bezahlen sollen. Doch er trug sein Geld lieber in ein Tonstudio und spielte eine CD ein. «Uf u dervo» heisst das Werk – und der Berner Büezer wurde als Gölä zum erfolgreichsten Schweizer Musiker.

Eine typische Geschichte. Offene Rechnungen machen heute kaum noch jemandem Bauchweh. «Die Zeiten, als eiserne Zahlungsdisziplin noch eine bürgerliche Ehrensache war, sind vorbei», stellt die Inkassofirma Intrum Justitia fest. Viermal pro Jahr hört sie sich bei rund 2000 Schweizer Unternehmen um. Der neuste Befund: Privatpersonen begleichen ihre Rechnungen im Durchschnitt erst nach 49 statt nach 30 Tagen.

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Daran ändert auch die Aussicht auf wirtschaftlichen Aufschwung nichts. Benno E. Oertig, Geschäftsführer von Intrum Justitia, begründet den Trend mit der wachsenden Konsumlust. «Optimismus wirkt ansteckend – auch auf Konsumenten, deren finanzielle Situation nicht zu Optimismus berechtigen würde.»

Zudem haben die Krisenjahre mit Fusionen und Entlassungen die Denkmuster verändert und die Zahlungsmoral gebrochen. «Man fühlt sich durch die Art legitimiert, wie die "grossen Fische" Konkurs machen und in Skandale verwickelt sind», sagte alt Ständerat Andreas Iten aus Zug an einer Tagung von Betreibungsbeamten. «Viele Kundinnen und Kunden leben über ihre Verhältnisse und sind nicht mehr bereit, sich einzuschränken.»

Diax kappte Schuldner vom Netz
Bei der Krankenkasse Helsana etwa summieren sich die offenen Rechnungen auf 50 Millionen Franken. «So viele Versicherte wie noch nie können ihre Prämien nicht mehr bezahlen», heisst es beim Branchenleader. Momentan laufen 80'000 Betreibungen gegen 25'000 Versicherte. Die Helsana bezahlt 45 Personen allein für die Aufgabe, säumige Kunden zu betreiben.

Anfällig ist auch der rasant wachsende Natelmarkt. Die Geräte werden praktisch verschenkt – ohne Hinweis auf die hohen Gesprächstaxen. Mit dem Resultat, dass horrende Monatsrechnungen ins Haus flattern. Diax zog kürzlich die Notbremse und schmiss Tausende von Schuldnern aus dem Netz. «Die offenen Rechnungen beliefen sich auf Hunderttausende Franken», sagt Diax-Sprecher Reto Zurflüh.

Das Problem ist geblieben, der Ton hat sich geändert. «Die Sperrung war eine einmalige Aktion – wir sind sehr zufrieden mit unseren Kunden», sagt Zurflüh heute. Er muss zufrieden sein, denn die Natelanbieter kämpfen um jeden Kunden. Da hat es keinen Platz für öffentliche Schelte.

Dafür fördern die Firmen Zahlungsmodelle, bei denen sie nicht Bank spielen müssen: vorausbezahlte Gespräche sowie die automatische Vergütung ab Bank- oder Postkonto. Neuerdings sind auch wählbare Kreditlimiten vorgesehen. Und die Swisscom schlägt nicht bezahlte Beträge automatisch auf die nächste Rechnung.

Immerhin ist die einstige PTT das Problem der Radio- und TV-Gebühren-Eintreibung los. Seit der Liberalisierung macht die SRG-Tochter Billag AG das Inkasso. In deren Kasse fehlen jedoch geschuldete Beiträge von rund 80 Millionen Franken.

In der Privatwirtschaft sind verspätet und nicht bezahlte Rechnungen ein Dauerthema. «Ich kenne keinen, der das Problem nicht kennt», sagt Werner Schmid, Präsident des Gewerbeverbands Basel-Stadt. Jetzt hat der Verband eine Inseratekampagne lanciert. «Wer nicht pünktlich zahlt, soll wenigstens pünktlich Bescheid geben», heisst es beispielsweise. Oder: «Wir zahlen unsere Löhne auch nicht nach 60, 90 oder 120 Tagen!» Und: «Heute sind allein in Basel 500 Millionen Franken unbezahlt oder überfällig!»

Steuerschulden steigen
Den Millionen nachrennen müssen auch Gemeinden, Kantone und der Bund. «Wer knapp bei Kasse ist, legt zuerst die Steuerrechnung beiseite», sagt Mario Roncoroni vom Verein Schuldensanierung in Bern. Landesweite Zahlen über Steuerausfälle fehlen zwar. Doch bei einer Umfrage des Bundes melden die Kantone, dass 7 bis 26 Prozent der Haushalte ein Aufschub bewilligt wurde.

Genau bezifferbar sind die nie eingetroffenen AHV-Beiträge von Arbeitgebern und selbstständig Erwerbenden. Innert drei Jahren stieg die Summe von 78 auf 117 Millionen Franken – auch, aber nicht nur wegen der miesen Zahlungsmoral von Unternehmen und Selbstständigen. «Seit 1997 wird die AHV bei Konkursen nicht mehr privilegiert», sagt Paul Cadotsch vom Bundesamt für Sozialversicherung. Ein Fehler, wie die Politiker gemerkt haben. Eine Gesetzesrevision ist bereits unterwegs.

Einen undankbaren Job haben jene Behörden, die nicht bezahlte Bussen in Haftstrafen umwandeln müssen. Allein beim Stadtberner Regierungsstatthalter türmen sich 1700 dieser Akten. Pro 30 Franken geschuldete Busse gibts einen Tag Haft – obwohl jeder Gefängnistag die Allgemeinheit 150 Franken kostet. «Wenn die Justiz glaubwürdig bleiben will, muss sie diesen Aufwand betreiben», sagt der Berner Untersuchungsrichter Jürg Zingle.

Jammern darf aber nur, wer ein Vorbild ist. Und das ist die öffentliche Hand offenbar nicht. «Auch beim Staat stellen wir die Tendenz fest, dass so spät wie möglich gezahlt wird», sagt Raymond Cron von der Baufirma Batigroup. Und Christoph Eymann, Direktor des Basler Gewerbeverbands, doppelt nach: «Der beste Zahler ist der Privatmann, der seine Wohnung streichen lässt. Die schlechtesten Zahler sind Bund, Kantone und grosse Firmen.» Der lange Instanzenweg und die Gewissheit, ein marktmächtiger Kunde zu sein, dämpfen nach Ansicht von Inkassoexperten die Zahlungslust.

Schleichend etabliert sich im Geschäftsleben gar eine Frist von 60 Tagen – vor allem bei Grossaufträgen in der Baubranche. Aber nicht nur dort. «Wir haben Indizien, dass die Grossbanken generell erst nach 60 Tagen zahlen wollen», sagt Christoph Eymann.

Ganz offen gehen die SBB vor. Sie haben vor einem Jahr beim Rollmaterialunterhalt in Bern rund 60 ihrer Lieferanten neue Konditionen vorgeschlagen: Bis zum Zahlungsziel 30 Tage ziehen die SBB zwei Prozent Skonto ab; danach gilt netto bis zu 60 Tagen. «Eine Sparübung», sagt SBB-Sprecher Reto Kormann unverblümt. Würde das Modell landesweit umgesetzt, ginge das Sparpotenzial bei rund 20'000 Waggons und Lokomotiven «in den Millionenbereich». Interessantes Detail: Kleine Zulieferer machen zerknirscht mit, Grossfirmen lehnen ab.

Risikocheck via Datenbanken
Ohne Risikocheck läuft bald nichts mehr. Datenbanken liefern auf Anfrage Informationen, wie zahlfähig und -willig Privatpersonen und Firmen sind. Und immer mehr Betriebe überlassen ihr Inkasso professionellen Eintreibern. «Holen Sie Ihr Geld beim Schuldner, bevor es andere tun», lautet das Motto. Das zahlt sich aus. «Wer konsequent einfordert, hat nach der zweiten Mahnung nur noch zwei Prozent ausstehende Beträge», sagt Anton Prantl, Direktor der Ärztekasse. Andernfalls seien es «locker fünf bis sechs Prozent».

Das Abwehrdispositiv hat auch Nachteile. «Firmen und Personen, die als schlechte Zahler in einer grossen Datenbank landen, bleiben jahrelang vom Kredittopf abgeschnitten», sagt ein Inkassospezialist.

Das ist umso bitterer, als viele säumige Zahler ohnehin in einer schwierigen Situation sind. Laut einer Studie der Universität Zürich sind Arbeitslosigkeit, Scheidung und eine missglückte Geschäftsgründung die wichtigsten Auslöser für Uberschuldung. Der typische Schuldner ist männlich, 40-jährig, alleinstehend und arbeitslos. Im Durchschnitt sind die Schulden doppelt so hoch wie das Jahreseinkommen.

Der gebrochenen Zahlungsmoral steht die Politik hilflos gegenüber. Bei säumigen Alimentenzahlern wollte die Berner Nationalrätin Franziska Teuscher von der Grünen Partei dort einhaken, wo es besonders weh tut: beim Autofahren. In einem Vorstoss verlangte sie darum, «dass ein Führerausweisentzug angeordnet werden kann, bis die Alimente bezahlt sind». Das Parlament lehnte jedoch ab – weil «der direkte Bezug zum strafbaren Verhalten» fehlt.


Die Entwicklung des Zahlungsverzuges in den letzten zwei Jahren:

Zahlungsverzug
in Tagen
Herbst
1998
Winter
1999
Frühjahr
1999
Sommer
1999
Haushalte15151619
Firmen14151513
Quelle: Intrum Justitia (Umfrage bei 2000 Schweizer Firmen)