Der Fall ist ein Traum für jeden faulen Richter: Die Beschwerde ist handgeschrieben, auf Karopapier, und es geht um eine längst verjährte Sache. Ein Mann klagt, seine Wohngemeinde habe ihm in den achtziger und neunziger Jahren unrechtmässig Arbeitslosen- und Sozialhilfegelder vorenthalten.

Ein klarer Fall, könnte sich der faule Richter denken. Gestützt auf Paragraf soundso, wegen Verjährung abgelehnt. Und schon ist der Fall vom Tisch.

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So einfach macht es sich der Regierungsstatthalter des Verwaltungskreises Oberaargau nicht, als er im Januar 2014 die Beschwerde des 55-jährigen Peter Weber* gegen die Gemeinde Thörigen BE behandelt. Er lässt während Monaten Webers Vorwürfe abklären, beschafft Akten, soweit es sie nach mehr als 20 Jahren überhaupt noch gibt, holt Stellungnahmen der damals verantwortlichen Behörden ein und gewährt Weber einen Gratisanwalt.

25 Vollnarkosen und zahlreiche Operationen hat er hinter sich. Doch man kann seine Beine nicht mehr richtig flicken.

Warum zahlte die Gemeinde von 1984 bis 1988 keine Sozialhilfe, obwohl Webers Lohn als Hilfsarbeiter unter dem Existenzminimum lag? Weshalb half ihm niemand beim Ausfüllen des Antragsformulars für Ergänzungsleistungen, auf die er vermutlich Anspruch gehabt hätte? Was geschah mit den Geldern der Taggeldversicherung, die eine längst fusionierte Krankenkasse nachweislich auszahlte, aber an die Gemeinde statt an Weber? Und warum bezahlte die IV ab 2005 plötzlich nichts mehr an die Spezialschuhe, die Weber wegen eines Hüftleidens braucht? Ein Wust von Fragen und Vorwürfen, inhaltlich nur insofern zusammenhängend, als sich Weber als Opfer der Behörden sieht, namentlich des ehemaligen Gemeindeschreibers von Thörigen. Auf 417 580 Franken und 20 Rappen beläuft sich seine Forderung gegen die 1000 Einwohner zählende Gemeinde in der Nähe von Langenthal. Thörigen wies das «Gesuch um Entschädigung aus Verantwortlichkeit», wie es amtsdeutsch heisst, ab und brummte dem IV-Rentner Verfahrenskosten von 1500 Franken auf. So landete der Streit bei der nächsten Instanz; im Kanton Bern ist das der Regierungsstatthalter.

In einem einzigen Punkt erhält er recht

Nach 19 eng bedruckten Seiten voller Abklärungen und juristischer Spitzfindigkeiten entscheidet Regierungsstatthalter Marc Häusler, natürlich, ebenfalls gegen Weber. Ein schwerer Schlag, denn es kostete ihn über 20 Jahre Zeit und unendlich viel Überwindung, ohne fremde Hilfe und handschriftlich seine Forderungen einzureichen.

Nur in einem einzigen Punkt gibt ihm der Statthalter recht: Die von der Gemeinde Thörigen erhobenen Verfahrenskosten seien «unangemessen» und werden auf einen Drittel reduziert. Ein kleiner Sieg auf einem Nebenschauplatz, denn IV-Rentner Weber kann die Rechnung sowieso nicht bezahlen, ob sie nun 500 oder 1500 Franken beträgt.

Dass sich Peter Weber mit dem Urteil «Verjährt» nicht abfinden kann und die Sache auch vor das Berner Verwaltungsgericht und letztlich ebenfalls erfolglos vor Bundesgericht zieht, hängt auch damit zusammen, dass das Urteil juristisch zwar richtig, aber nicht gerecht und für den Betroffenen unverständlich ist. Peter Weber schreibt in seiner Beschwerde: «Ich bin nicht einverstanden mit der Verjährung, was man zugut hat. Schulden verjähren nicht.» Laut Urteil indes ist die Forderung «verjährt i.S.v. Art. 84 GG i.V.m. Art. 105 PG i.V.m. Art. 60 OR».

Der Statthalter in der Endlosschleife

Weber begründet seine Beschwerde so: «Es kann ja nicht sein, dass ein Gemeindeschreiber über so viele Jahre eine körperlich behinderte Person betrügen kann, ohne dass er bestraft wird.» Der Regierungsstatthalter verliert sich in einer juristischen Endlosschleife: «Das Staatshaftungsrecht bedient sich diesbezüglich des privatrechtlichen Kausalitätsbegriffs, wobei die adäquate Kausalität eine zentrale Rolle spielt. Gemäss ständiger Rechtsprechung ist diese auch dann zu bejahen, wenn ein Verhalten bzw. ein Ereignis nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg wie den eingetretenen herbeizuführen. […] Mit anderen Worten trägt der nach Art. 8 ZGB Beweisbelastete die Gefahr des Misslingens des Beweises und damit des Unterliegens im Prozess, weil diesfalls zu seinem Nachteil entschieden werden muss. Dies hat auch unter der Herrschaft der Offizialmaxime zu gelten.»

Auf Deutsch: Weber müsste beweisen können, dass seine heutige schlechte Finanzlage eine Folge davon ist, dass ihm ein Beamter vor 30 Jahren pflichtwidrig nicht geholfen hat.

Er ist mit dem Töffli unterwegs, da prallt ein Auto mit Tempo 136 frontal auf ihn.

Quelle: Andreas Gefe

So sind im Schloss in Wangen an der Aare, dem Amtssitz des Regierungsstatthalters Oberaargau, zwei Welten aufeinandergeprallt. Die des Juristen, der nicht anders als aufgrund von Paragrafen entscheiden kann. Und die des IV-Rentners, dem das Leben seit einem schweren Unfall vor 35 Jahren böse mitspielt und der sich irgendwie über Wasser hielt – auch wenn sich die Welt gegen ihn verschworen hat.

Es ist der 29. Juli 1980, als sich Peter Webers Leben komplett ändert. Frühmorgens ist er auf seinem Töffli unterwegs zur Arbeit. Er hat kurz vorher die Lehrabschlussprüfung als Automechaniker bestanden, den Vertrag für die erste Stelle im Sack. Da kommt ihm um 6.50 Uhr auf der Landstrasse ein Auto, das zwei Traktoren überholen will, entgegen. Das Auto prallt mit Tempo 136 frontal in Webers Töffli, kurz vor der 60er-Tafel. Nach der Operation liegt er eine Woche im Koma, danach sitzt er acht Monate im Rollstuhl. 25 Vollnarkosen und zahlreiche Operationen hatte er bis heute. Doch die Ärzte können seine Beine nicht mehr richtig flicken, seit einer Hüftoperation in der sechsten Klasse ist ein Bein sowieso fünf Zentimeter kürzer.

Heute sind die Gelenke «kaputt», sagt Weber, er nimmt Schmerzmittel und Blutverdünner, ohne Morphinspritzen kann er sich kaum hinlegen. Er lebt von einer Suva- und einer IV-Rente, von Ergänzungsleistungen und Hilflosenentschädigung, zusammen etwas über 3000 Franken im Monat. Davon gehen 980 Franken weg für die Dreizimmerwohnung im ersten Stock, über einer Garage, die er nur mit grösster Mühe verlassen kann: Er muss sich auf beiden Seiten am Treppengeländer festhalten, weil sonst das Knie wegknickt. Um ab und zu im «Rössli» im Nachbardorf Bleienbach Schach spielen zu können, braucht er das Behindertentaxi. Die neun Franken Selbstbehalt muss er selber zahlen.

Er flicht Körbe und verkauft Pornos

Jetzt, mit knapp 56 Jahren, scheint Webers Lebensperspektive wieder einmal an einem Tiefpunkt angelangt. Der Prozess mit dem niederschmetternden Urteil war ein letzter Strohhalm des nach Gerechtigkeit Dürstenden.

Dabei hätte sein Leben durchaus eine andere Wende nehmen können. Nach dem Unfall arbeitete er in verschiedenen Eingliederungs- und Behindertenwerkstätten und hat immer wieder versucht, auf eigenen Beinen zu stehen: «Ich habe selber geflochtene Korbwaren an Restaurants verkauft. Die waren stabil und langlebig, man konnte sie sogar im Geschirrspüler reinigen.» Doch irgendwann gab es für die teuren Gipfelikörbchen keinen Bedarf mehr. Auch der Verkauf von Pin-Anhängern («Vor dem Dancing Fähre in Obergösgen habe ich manchmal bis zu 1000 Franken pro Abend verdient!») war nur vorübergehend einträglich, ebenso der Handel mit Pornoheftchen und -filmen (für den Erotikunternehmer Patrik Stöckli).

Sein Auftreten nervt die Beamten

Letzteres trug nicht zu seiner Beliebtheit bei den Behörden bei. Der Sozialdienst vermerkte in den Akten, er verwende einen Teil seiner IV-Rente «für fragwürdige Geschäfte». Vielleicht beginnt genau hier die Spirale, die Weber fortan in einen Abwärtsstrudel zieht. Dabei wäre er, das Unfallopfer, dringend auf Goodwill und Unterstützung angewiesen, doch sein forderndes, kompromissloses Auftreten eckt an, nervt die Beamten.

Der Gemeindeschreiber wurde von einem Tag auf den anderen freigestellt - nach fast 40 Dienstjahren.

In den Beschäftigungs- und Wiedereingliederungsprogrammen verdient er nicht einmal das Existenzminimum. «Ich habe immer wieder den Gemeindeschreiber um Hilfe gebeten, doch er hat mich stets abgewimmelt», klagt Weber. Während Jahrzehnten habe er auch mindestens einmal pro Jahr beim jeweils amtierenden Gemeindepräsidenten – er kann sechs davon mit Namen aufzählen – angeklopft, ebenfalls erfolglos. Auch anderen Bedürftigen sei es so ergangen.

An Webers Vorwürfen ist sehr wohl etwas dran. Der Gemeindeschreiber von Thörigen wurde im Februar 2014 entlassen und von einem Tag auf den anderen freigestellt – nach fast 40 Dienstjahren. Er sei für das schlechte Arbeitsklima in der Dorfverwaltung verantwortlich, hiess es, und er habe sich «manchmal sehr unwirsch» gegenüber Personal und Kunden verhalten. Gegenüber dem Beobachter sagen der Gemeindepräsident und der neue Gemeindeschreiber – beide waren damals noch nicht im Amt –, die Entlassung stehe «in keinem Zusammenhang» mit dem Fall Weber.

Der Regierungsstatthalter konnte nicht mehr alles rekonstruieren, und er hat «keine konkreten Unstimmigkeiten» gefunden. Die Rolle der Gemeindeangestellten im Zusammenhang mit der Betreuung Webers sei aber «insgesamt undurchsichtig». Die Gemeinde treffe deshalb «ein gewisses Mitverschulden» an diesem Verfahren. Peter Weber war und ist kein bequemer «Kunde», und den damaligen Behörden kam das sehr zupass: Je weniger man mit ihm zu tun haben musste, umso besser. Etwa die Sache mit dem Antragsformular für die Ergänzungsleistungen. Der Gemeindeschreiber habe sich «geweigert», ihm beim Ausfüllen zu helfen, sagt Weber. Dazu habe es aber auch «keine gesetzliche Verpflichtung» gegeben, urteilt der Statthalter heute.

Zudem legten die nur noch teilweise vorhandenen Akten den Schluss nahe, dass Weber «Hilfe nicht annehmen konnte». Als die Behörde ihn 1993 bevormunden wollte, wehrte er sich und erhielt vor dem Berner Obergericht recht. Daraufhin habe die Gemeinde «keine Veranlassung gesehen, weitere Anordnungen» zu seinen Gunsten zu übernehmen – nach dem Motto: Wer sich wehrt, kann selber schauen.

«Niemand hilft mir»

Offenbar war auch nicht alles legal. Etwa als sich die Gemeinde von Webers Versicherung Taggelder auszahlen liess und sie ihm vorenthielt. Weber hatte während des Entmündigungsverfahrens die Krankenkassenprämien nicht bezahlt, «was aufgrund seiner körperlichen Verfassung nach dem Unfall gravierende Folgen hätte nach sich ziehen können». Die Gemeinde beglich darum mit den Taggeldern die Prämienschulden und handelte «ausschliesslich im Interesse des Beschwerdeführers» und «legitim», urteilt der Statthalter – wenn auch ohne konkrete gesetzliche Grundlage.

Aber so verdichtet sich über all die Jahre hinweg bei Weber ein Gefühl zur Gewissheit: «Alle sind gegen mich, der Gemeindeschreiber, der Beistand, einfach alle, niemand hilft mir.»

Allerdings biegt sich auch Weber manchmal die Wahrheit so zurecht, dass sie besser in sein Wunschbild passt. «Der Gemeindeschreiber hat meine Ehefrau einfach eines Tages aus dem Register gestrichen, deshalb darf sie nicht mehr bei mir wohnen», klagte Weber. Laut den Akten der Einwohnerkontrolle hat sich die aus Thailand stammende Gattin aber am 7. August 2008 selber in Thörigen abgemeldet. 

Die einzige Waffe: alle anprangern

Heute lebe sie wieder bei ihm, «weil wir uns lieben», sagt er. In der Wohnung ist davon allerdings nicht das kleinste Anzeichen zu sehen. Von der Decke hängt eine nackte Glühbirne, die Wände sind nikotingelb, das Sofa ist mit Papiertüten vollgestellt. Sie schaue halt nur manchmal am Wochenende vorbei, weil sie in Basel auf Arbeitssuche sei, sagt Weber. Der Beistand, der sich ein paar Jahre lang um die finanziellen Angelegenheiten Webers gekümmert hat, sagt, er habe die Frau «nie gesehen».

Die Entlassung des langjährigen Gemeindeschreibers ist zwar eine Genugtuung für Weber, der sich von ihm jahrzehntelang geplagt fühlte. Aber verbessert hat sich deswegen nicht viel. Weber ist frustriert, hat hohe Schulden, hadert mit der Welt und verweigert Hilfe auch dann, wenn er sie brauchen könnte. «Ein Beistand hält immer zum Staat, nicht zu mir, ich kenne die alle. Ich komme allein zurecht.» Vom Beobachter möchte er unbedingt, dass all diejenigen, die ihm nicht geholfen haben, in diesem Artikel namentlich aufgeführt werden: der ehemalige Gemeindeschreiber, die sechs Gemeindepräsidenten, selbst sein eigener Bruder. Alle anzuprangern ist seine einzige Waffe.

Doch die Abwärtsspirale geht weiter. Webers früherer Betreuer in administrativen Dingen hat die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) auf den Plan gerufen. Die klärt jetzt ab, ob Weber verbeiständet werden muss. Weil er selbst davon nichts hält, will die Behörde ein halbes Jahr lang abwarten, das Verfahren ist sistiert. Das kann man, wenn man will, als Lichtblick sehen. Oder als neuen Beleg dafür, dass alle unter einer Decke stecken.

*Name geändert